Bei Trevor Paglen

Mobiltelefone. Manchmal ist es Abhörexperten sogar lieber, wenn sie ausgeschaltet sind. In den Wäldern von West Virginia gibt es einen Landstrich, in dem sie keinerlei Netz haben und auch nicht erlaubt sind. Auch keine Radios. Nicht einmal Fernbedienungen. Überhaupt nichts, was sendet, und nichts, was empfängt. Die Polizei geht mit Funkdetektoren umher und kontrolliert das scharf. Die Amerikaner nennen das hier die National Radio Quiet Zone.

Eines Nachts im Jahr 2010 fährt nun ein Mann, groß, sportlich, Ende dreißig, bis zu einer Stelle, an der er nicht mehr weiter darf. Er steigt auf einen Berg, von dem aus zumindest für ein extremes Teleobjektiv erkennbar ist, was hier abgeriegelt im Zentrum dieses Riesenfunklochs steht. Und er macht, als das Mondlicht am schönsten ist, ein Foto davon. Die Mobiltelefone haben hier nämlich deshalb zu schweigen, damit in den Anlagen da unten besser zu hören ist, was aus dem All für Signale kommen. Der Fotograf auf dem Hügel weiß, dass es die Astronomen, die dort auf Nachrichten von Außerirdischen warten, zwar tatsächlich gibt, aber dass das nicht die ganze Wahrheit ist.

Die Anlage wird vom Geheimdienst NSA betrieben, und der sammelt im All eher irdische Signale.

Das Mondlicht ist in diesem Bild übrigens deswegen von Bedeutung, weil sich die Geheimdienste auch schon zu helfen wussten, als sie noch keine künstlichen Satelliten da oben kreisen hatten. Alles, was auf der Erde so gefunkt wird, versendet sich irgendwann zwangsläufig in die Tiefen des Kosmos. Außer es wird von der Unterseite des Mondes zurückgeworfen. „Moon Bounce“ heißt der Effekt, über den sich die Abhörexperten in den Fünfzigerjahren sehr freuten.

„Wie die dem Mond das nur antun konnten!“, wird die Mutter seiner Freundin seufzen, als das Bild in einer Ausstellung von Trevor Paglen hängt.

Trevor Paglen, Künstler, wohnhaft in New York. Man muss nicht vom Geheimdienst sein, um diesen Namen mit den Zentralstichworten der unmittelbaren Gegenwart zu verknüpfen – von Drohnenkrieg bis Merkelhandy. Goodbye, stimmungsvoller Sternenhimmel. Hello, Paranoia: Ist es im Hinblick auf die nächste Passkontrolle bei der Einreise am Flughafen wirklich klug, mit dem Smartphone, auf dem sich schon E-Mails von diesem Trevor Paglen befinden, jetzt auch noch den Weg zu ihm zu googeln? Könnte man dann die NSA nicht gleich direkt anrufen und sagen: Ich treffe mich jetzt mit dem Mann, der Ihnen dauernd hinterherspioniert, genauso wie der CIA und den geheimen Abteilungen der US-Army; wenn Sie das über mein Mobiltelefon mitschneiden wollen, könnten Sie dann eventuell auch gleich die lästige Arbeit der Abschrift erledigen? Von wem hieß es denn zu Beginn des NSA-Skandals noch mal, dass vor allem ihnen die Überwachung gilt? Journalisten aus dem Ausland! Und das war damals noch als Abwiegelung gedacht.

Es ist wirklich schlimm: Man macht am Telefon so lange Scherze darüber, bis man tatsächlich bei jedem Wort zusammenzuckt, das in irgendeinem Rechenzentrum einen Algorithmus aufhorchen lassen könnte.

Der Zugang zu Trevor Paglens Wohnatelier an der Südspitze von Manhattan ist nun allerdings wirklich ohne Google Maps nicht so einfach zu finden. Ein finsterer Art-déco-Turm zwischen Schnellstraßen und dem Eingang zum Battery Tunnel. Batman würde sich auf dem Dach gut machen, wie er besorgt auf das gedankenlos vor sich hinwurstelnde Gotham herunterschaut. Ein bisschen so ist das dann ja auch.

29 Stockwerke über dem Hudson River, der prachtvoll in der Herbstsonne herumfunkelt, sitzt ein Mann, dem man ansieht und -hört, dass er während des Studiums in Berkeley viel Zeit am Strand zugebracht hat, ein akademischer Surfer-Boy, Jeans, Hoodie, Frisur und Bart in vager Ähnlichkeit zu Louis C.K., dem melancholischen Philosophen unter Amerikas Comedystars.

Der dergestalt umrandete Mund lächelt ein „Herzlich willkommen in der Wirklichkeit“-Lächeln und sagt: „Genau darum geht es.“ Es müsse eben immer erst einer wie Snowden kommen und handfeste Dokumente vorlegen, damit einem wirklich bewusst wird, was man vorher auch schon wissen konnte – aber eben auch verdrängen. Weil dieses Wissen so abstrakt und unspürbar ist wie Radioaktivität, solange konkrete Belege oder halbwegs anschauliche Bilder fehlen. Letzteres ist dabei die Front, an der er nun seit geraumer Zeit tätig ist.

Edward Snowden sitzt im Exil in Moskau, Bradley Manning in Kansas hinter Gittern – aber Trevor Paglen kann gerne in New York besucht werden und hat aktuell Ausstellungen in Baltimore, Istanbul und Köln. Alle drei haben der Welt Staatsgeheimnisse der Amerikaner vor Augen gestellt. Nur in Paglens Fall nennt man das nicht Whistleblowing. Sondern bildende Kunst. Das hat tatsächlich ästhetische, aber auch juristische Gründe.

Wenn Paglen mit seinem Teleobjektiv den Himmel nach Drohnen absucht, dann begegnen sich da zwei künstliche Augen, und die Delegation des Sehens vom Menschen in die Apparate ist auch ein Problem der Ästhetik. Oder: Wenn Paglen mit einem noch viel extremeren, eigentlich eher der Astronomie zugehörigen Teleobjektiv für das Auge unsichtbare Testgelände aus 50 Kilometern Entfernung heranzoomt, erinnern die Bilder nicht zufällig an Gemälde von Gerhard Richter; sie stehen in einer kunsthistorischen Tradition der Unschärfe, und das heißt auch: in Nachbarschaft zu William Turner. So wie dessen Abstraktionseffekte und Lichtwolken von der Veränderung der Weltwahrnehmung durch das Aufkommen der Eisenbahn erzählen, stehen auch Paglens Bilder für einen Moment, in dem technologische Revolutionen unsere Wahrnehmung der Welt durch die Mangel drehen.

Oder: Wenn Paglen mit speziellen Belichtungstechniken den Verkehr amerikanischer Spionage-Satelliten im Himmel über dem Yosemite-Nationalpark kenntlich macht, dann erinnern die Ergebnisse nicht zufällig an die Bilder, die der Foto- Pionier Ansel Adams einst an denselben Stellen machte: Die dramatische Geografie Amerikas, so kann man diese Bilder lesen, setzt sich heute auf Beschluss der Strategen im Weltraum fort.

Und schließlich: Wenn Paglen mit dem Massachusetts Institute of Technology eine Kapsel mit „letzten Bildern“ der Menschheit ins All schießt, dann bezieht sich das auf die Tatsache, dass der Orbit ohnehin voller Satelliten ist, die da oben noch kreisen werden, wenn die Erde längst verglüht sein wird: Die Blechbüchsen, über welche die Menschen ihre sinnlos vor sich hinlärmenden Fernsehprogramme empfangen, ihre Gegner überwacht und ihre Kampfdrohnen gesteuert haben, sie werden das sein, was von ihnen bleibt.

Wo mal keine extremen Teleobjektive zum Einsatz kommen, sind es immerhin extreme Zeithorizonte, und so ein Blick zurück aus ein paar Millionen Jahren Entfernung auf das Ende der Menschheit berührt in seiner Unverdaulichkeit nichts anderes als die klassische Kernkategorie der Ästhetik: das Erhabene.

Theoretisch ist das Erhabene für Trevor Paglen immer noch das Gleiche wie einst für den Philosophen Edward Burke: etwas, das nicht wirklich schön genannt werden kann, weil es eher der Schrecken ist, der einen daran fesselt. Einfacher gesagt: „Atomraketen sind beängstigend, aber ich kann sie den ganzen Tag lang anstarren.“

Hier spricht jetzt nicht nur ein Kind des späten 20. Jahrhunderts, Trevor Paglen hatte tatsächlich genug Gelegenheit dazu. Er ist in die Welt des Militärs, das ihn bis heute umtreibt, buchstäblich hineingeboren worden, 1974, auf der Andrews Air Force Base in Maryland. Sein Vater war Augenarzt bei der Armee. Paglen ist auf Air Bases aufgewachsen, als Jugendlicher war er so auch fünf Jahre in Wiesbaden. Er spricht heute noch ein wenig Deutsch. Es geht ihm allerdings der Ruf voraus, dass er nicht gerne über seine Jugend spricht, weil er vermeiden will, dass seine Arbeiten zu ödipalen Reaktionen auf sein Elternhaus heruntergedeutet werden. Er zeigt sich tatsächlich nicht übertrieben redselig an dieser Stelle. Am ehesten kann man sich da mit ihm noch über deutsche Punkbands unterhalten, bei denen Amerikaner aus Armeestützpunkten das Mikrofon bedienten, wie bei den Spermbirds aus Kaiserslautern. Auch Paglen hatte damals in Deutschland einen Irokesenkamm, fuhr Skateboard und spielte in Punkbands mit. Vielleicht kann man dem ja immerhin eine gewisse Haltung zu den Strammsteherwartungen in der Welt des US-Militärs entnehmen.

Was er ganz sicher von der Jugend auf der Air Base hat, sagt Paglen, sei schlicht ein Bewusstsein dafür, was in dieser Welt vor sich geht. Und eine gewisse Unbefangenheit, sich diesen Dingen zu nähern. Später, nachdem er nicht nur Kunst, sondern auch Geografie studiert hat, wird er deshalb vorgehen wie ein klassischer Kartograf, den die weißen Flecken auf der Landkarte anziehen, mit denen das Militär die USA überzogen hat, er wird Flugzeugen nachspüren, die in keinem Flugplan auftauchen und ihn zu den geheimen Gefängnissen der CIA führen, die er dann aufsucht, selbst in Afghanistan, und fotografiert. Er wird ein Buch mit dem Titel „Torture Taxi“ darüber veröffentlichen. Und er wird in Galerien die Bilder zeigen, die von den Drohnen der Armee aufgezeichnet werden, denn eine ganze Zeit lang wurden Amerikas neue Wunderwaffen noch über unverschlüsselte Kanäle auf normalen Fernsehsatelliten gesteuert. Es läuft jetzt seit mehr als zehn Jahren wie bei Hase und Igel: Was immer gerade in den Nachrichten ist, Paglen hat schon mal eine Arbeit darüber gemacht.

Als dann der wunderbare Friedensaktivist Barack Obama gewählt wurde, haben sie Paglen gesagt: Well, Trevor, jetzt wirst du arbeitslos.

Herzliches Gelächter an dieser Stelle, heute, im 29. Stock über dem Hudson.

Ist er also der Edward Snowden der Künste? Der juristisch relevante Unterschied ist der, dass Paglen nicht als abhängig Beschäftigter des Systems handelt, sondern als freier amerikanischer Staatsbürger, dass er also keine Verschwiegenheitsklauseln unterschrieben hat. Er geht exakt so weit, wie das Gesetz es ihm erlaubt. Und er kennt seine Rechte gut. Manchmal muss er jungen Männern vom Sicherheitsdienst, die seine Fotos einkassieren wollen, sagen: „Tut mir leid, Freunde, aber: That’s not the law!“ Und als er neulich der NSA mitteilte: „Ich fliege gleich mit einem Hubschrauber über Ihr Hauptquartier und mache ein paar Aufnahmen, bitte schießen Sie mich nicht runter“, da gab das natürlich auch erst einmal Diskussionen. Bis alle einsahen, dass er es durfte.

Das nun wiederum unterscheidet die USA nicht nur von Ländern wie Russland oder China, wo Paglen längst in einem Lager säße (bestenfalls), sondern sogar von den meisten Staaten des Westens. „Auf der einen Seite geben die USA mehr Geld für ihr Militär aus als der Rest der Welt zusammen, und für den geheimen Teil des Militärs alleine schon mehr als die zweitgrößte Militärmacht, China, für ihre gesamte Armee. Gleichzeitig gibt es hier keinerlei Gesetze, wie man als Privatperson mit Staatsgeheimnissen umzugehen hat. Man kann vom geheimsten Geheimprogramm aller Zeiten Wind kriegen und es morgen auf seinem Blog publizieren.“ Amerika, sagt Trevor Paglen, sei trotz seiner Rekordzahl an militärischen Geheimprojekten immer noch das offenste Land der Erde.

Seine Arbeit ist also keineswegs nur Kritik an den USA, im Gegenteil. Sie ist eine Manifestation ihrer Freiheit. „Die zugrunde liegende Idee ist, dass man seine Freiheiten auch ausüben muss“, sagt er: „Weil Freiheiten nur dann etwas taugen, wenn man sie auch praktisch ausüben kann und nicht nur theoretisch. Ich mache davon Gebrauch, um sie am Leben zu erhalten. Wenn man einen Arm ein Jahr lang nicht nutzt, hört er auf, benutzbar zu sein.“

Wer antiamerikanischen Ressentiments anhängt, wird mit Paglen deshalb auf Dauer nicht glücklich: Es ist hier eher eine Spielart jener ultraamerikanischen Staatsskepsis erkennbar, die schon die Bewegungen von Occupy Wall Street und Tea Party unterschwellig verband. Europäer sorgen sich zunehmend vor Big Data in den Händen privater Korporationen wie Google oder Facebook, die nach dem Modell der Cyberpunk-Science-Fiction die Staatlichkeit ersetzen könnten; Paglen als Amerikaner sieht das Problem umgedreht: Private Firmen könnten ja zumindest theoretisch reguliert werden; die Schattenreiche von Armee und Geheimdienst wurden geschaffen, um herkömmlich illegale Aktivitäten zu ermöglichen. Orte, die sich auf keiner Karte finden, leisten Dingen Vorschub, die vom Gesetz nicht gedeckt sind. Das klingt allerdings nicht zufällig wie eine direkte Replik auf: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Den Evergreen aus den Tagen der heiligen Inquisition.

Während man all das hoch über dem arglos in der Abendsonne herumgleißenden Hudson-River so beredet, ergreift einen Erschaudern über die Spiegeleffekte, die sich da auftun: Der aufklärerische Impetus von Paglen und das, was Geheimdienste unter Aufklärung verstehen, entsprechen sich auf beklemmende Weise: Beides dringt auf eine durchleuchtete, geheimnislose Welt, möchte sich nur jeweils selbst gern von Durchleuchtung und Geheimnisverbot ausgenommen wissen. Die Sache ist nur die, dass sich hier eben nicht wie in der Comic-Serie „Spion und Spion“ einander ähnelnde Geheimdienstler gegenüberstehen, sondern Staat und Staatsbürger. Und die Frage ist immer noch die, wer da von wem Transparenz verlangen darf, und wer von wem mal besser nicht.

So kommt es, dass der Mann, der gegen die Geheimniskrämerei von Regierungsstellen kämpft, am Ende, als wir doch noch einmal auf die Mobiltelefone kommen, Geheimniskrämereien für den Privatgebrauch sehr gut und wichtig findet. Trevor Paglen empfiehlt dem in jüngster Zeit etwas paranoid gewordenen Besucher dringend Verschlüsselungstechnologien zu nutzen, obwohl die von den Geheimdiensten bei Bedarf natürlich auch geknackt werden können; es kostet sie nur mehr. „Ich glaube aber“ sagt er, „dass das eher eine taktische Lösung ist als eine strategische.“

Hier spricht zum Abschluss noch einmal ganz der Staatsbürger, der aus der Welt der Uniformen kam. „In anderen Worten: Ich glaube nicht, dass Verschlüsselung die Demokratie rettet, und der schiere Fakt, dass wir das Gefühl haben, uns mit Verschlüsselungstechnik gegen Überwachung durch den Staat schützen zu müssen, ist ein erstrangiges Anzeichen dafür, dass es um die Demokratie gerade nicht besonders gut steht.“

Als wir an diesem Punkt sind, ist es draußen Abend geworden. Der Hudson hat das Gleißen eingestellt. Die Lampen im Neubau des World Trade Centers haben diese Aufgabe nun übernommen.

Wie ist das eigentlich, allerletzte Frage, so direkt um die Ecke von dem Ort, dessen Schicksal immer als der Grund gilt für all das, worüber wir hier reden? „Das Attentat hat hier eine ganze Zeit die Miete niedrig gehalten.“

Nanu. Das ist das erste Mal, das Paglen solche Töne anschlägt. Kann das sein, dass da ein Unwillen gegen die Totschlagargumente der anderen Seite durchklingt? Die Qualität von Dissidenten war es aber eigentlich immer, dass sie mit den gleichen Argumenten am Ende besser umgehen konnten: Ostblock-Oppositionelle kamen immer mit Marx, Kirchenkritiker mit der Bibel. Und als Trevor Paglen merkt, dass er das so schroff nicht stehen lassen kann, sagt er deshalb dies: „Wer 9/11 als Rechtfertigung nutzt, um illegale und inhumane Dinge zu tun, der ist in erster Linie respektlos gegenüber den Menschen, die dort gestorben sind.“

PETER RICHTER

Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 6.11.2013 auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung