Bowie leaving NYC

 

Die Nacht von Sonntag auf Montag war windig aber lau in New York City. Sie schrie nach einem späten Spaziergang durchs Greenwich Village mit David Bowie im Ohr: „Look up here, I’m in heaven“. Da konnte man noch nicht wissen, dass er offenbar in diesen Momenten starb. Oder – doch?

Nüchtern betrachtet könnte man natürlich sagen, Wetter ist Zufall, dass man gerade in der Gegend war auch. Bowies neue Platte „Black Star“ wiederum ist Freitag erst rausgekommen, und sie ist ein Meisterwerk; kein Wunder, dass die einem auch am Sonntag noch alle Kanäle verstopft.

Nur: Wie soll man, bitte, irgendetwas nüchtern betrachten, wenn einem eben diese neue Bowie-Platte gerade restlos den Kopf ausfüllt?

„Look up here, man, I’m in danger.“

Da oben raschelten die Baumkronen vom Washington Square Park in diesem mysteriösen Wind, der plötzlich aufgekommen war. Der Platz war sein Lieblingsort in New York, hat David Bowie vor Jahren mal bekannt gegeben. Hier hocken im Sommer die Studenten, die Politaktivisten und die Freaks auf dem Rasen. In den Sechzigern, als die Folkmusiker das Village beherrschten, soll absolut jeder, der hier saß, eine Gitarre im Schoß gehabt haben. Heute ist es nur noch jeder zweite. Dafür darf, wer will und kann, auf einem Outdoor-Flügel in die Tasten greifen. Nicht weit von den Electric Lady Studios in der West 8th Street, wo Bowie 1975 „Fame“ aufgenommen hat, seinen ersten Nummer-1-Hit in den USA, und wo jetzt auch die neue Platte wieder abgemischt worden ist, konnte man durch ein Fenster einen alt gewordenen Hippie an seinem Indoor-Flügel sitzen sehen. Was er spielte, war nicht zu hören. Außerdem blockierte, wie gesagt, Bowie die Ohren: „By the time I got to New York / I was living like a king.“ Er kam ja zweimal her, in den Siebzigern und dann, für immer, 1992.

Dieses Lied! Vor ein paar Wochen war es zuerst als Titelsong in dem Musical „Lazarus“ zu hören gewesen, nur ein paar Blocks östlich, im gemessen am Kartenbedarf lächerlich kleinen New York Theatre Workshop auf der East 4th Street. (Vgl. SZ vom ?.12.2015) Bowie hatte das Stück noch mit geschrieben und kam wohl auch zur Premiere. Gesungen hat das Lied dort aber Michael C. Hall, den man sonst als Titelhelden der Fernsehserie „Dexter“ kennt. Es ging darum, was der Alien, den Bowie 1976 in dem Film „The Man Who Fell to Earth“ gespielt hatte, eigentlich heute so macht. Antwort: Er sitzt mit einem Kühlschrank voller Gin in einem Loft auf der 2. Avenue, und seine persönliche Assistentin ist die großartige Cristin Milioti, die gleichzeitig gerade in der zweiten Staffel von „Fargo“ zu sehen war, wo sie eine Krebsdiagnose wegzustecken hatte. Der Alien wiederum will heim ins All. Hall bemühte sich beim Singen so zu klingen wie Bowie, ein bisschen spröder, ein bisschen bröckeliger als er das vielleicht sonst tun würde, hell, aber mit feinen Haarrissen in der Stimme: „This way or no way / You know, I’ll be free / Just like this bluebird / Now ain’t that just like me?“

In den Stunden, bevor New York die Nachricht von David Bowies Tod erreichte, hatte die sich eigentlich bereits als Ohrwurm häuslich eingerichtet.

Es war merkwürdig still in der Stadt, die angeblich niemals schläft, in dieser Nacht. An der Bar der Minetta Tavern schnitzte ein einsamer Gast an seinem 24-Dollar-Burger herum. In den Pizza-Buden der MacDougal Street drückten sich die Paare aneinander, als hätten sie nur noch sich auf der Welt. Und der traurige Typ, der sich vor einem der Kleinkunstkeller um das Anlocken der Gäste zu kümmern hatte, erntete befremdete Blicke. „Bock auf bisschen Comedy?“ „Sorry. Aber heute echt nicht.“

Nüchtern betrachtet könnte man sagen: Typisch Sonntagabend, da herrscht halt selbst in den Ausgehvierteln von New York Nachsaison-Stimmung.

Aber – wie gesagt…

Tatsächlich war es so, dass man in dieser New Yorker Nacht zu spüren meinte, wie etwas die Erde verlässt, irgendetwas sehr Energetisches. Man konnte sich einbilden, die ganze Welt gerade ein bisschen absacken zu fühlen. Als ob sie schwerer würde. Als ob sich, sagen wir, ein Ballon gelöst hätte, und man selbst sitzt aber gewissermaßen in der Gondel.

Klingt wie schwer esoterischer Scheiß, oder?

Genauso klingt das.

Gerade wer auf esoterischen Scheiß aber eigentlich allergisch ist, geht dann mal lieber zügig nach Hause und legt sich ins Bett.

Nüchtern und im Rückblick betrachtet, hat man es vielleicht eben doch gewusst. Man hat nur nicht gewusst, dass man es gewusst hat. Nüchtern betrachtet, muss man zugestehen, dass Bowie selbst die Nachricht von seinem Tod überbracht hat. Mit diesem Lied, dem Musical, dem düsteren Video zu „Black Star“, der letzten musikalischen Wendung ins Freejazzige auf der letzten Platte mit der Rehablitierung des wehmütig schluchzenden Saxophons. Die Botschaft war spätestens seit Freitag, seinem 69. Geburtstag, in Bild und Ton in die Köpfe gebracht, hatte zwei Tage Zeit darin aufzugehen, bevor sie zur Twitternachricht wurde und alle Puzzleteile an ihren Platz fielen. Noch spekuliert niemand offen, ob Bowie das Timing seines Abschieds bis zuletzt selbst in der Hand haben wollte, oder ob er schlicht schon so krank war, dass er genau geahnt hat, wie schnell es gehen würde, wenn er erst einmal den Geburtstag hinter sich und die Platte draußen hat. Was für eine letzte, große Inszenierung.

In New York war es 3:30 Uhr, als die Nachricht kam, dass David Bowie tot ist. Nicht viele hat sie im Wachzustand erreicht. Sie kam hereingekrochen wie böser Traum, in dem man nun für immer leben muss. Ein paar besonders Feinfühlige wollen plötzlich aus dem Schlaf gefahren sein. Im „Puck Fair“, der Kneipe schräg gegenüber von Bowies Wohnhaus, soll der Barkeeper für die letzten paar Betrunken „Heroes“ aufgelegt haben. Die meisten anderen wachten ein paar Stunden später auf und mussten diese Nachricht erst einmal in die Routinen eines New Yorker Montagmorgens integriert bekommen. Vor dem Kindergarten rief ein Vater, Modebranche, zur Begrüßung „Fuck! Shit!“ Es war ohne weitere Erläuterung völlig klar, was er meinte. Sofort Verabredung von Trost-Playdates, bei denen die Eltern gemeinsam Bowie hören würden, während die Kinder die Bude verwüsten. Zur Not würde man ihnen „Peter und der Wolf“ vorspielen. Das wird ja immer vergessen, dass auch das eine von Bowies letzten Platten war, 2004, mit Eugene Ormandy und dem Philadelphia Orchestra, Bowie macht da den Erzähler: „,WATCH OUT!’ shouted Peetah…“ Auch ganz fantastisch.

Für die New York Times, die an diesem Morgen vor jedem zweiten Haus in ihrer kleinen blauen Regenschutztüte vor den Haustüren lag, lebte Bowie allerdings noch. Dort stand sogar, dass es gerade eine herrliche Zeit sein müsse, um David Bowie zu sein: neue Platte, erstes Musical, beides gefeiert, und im März sollte es eine große Gala für ihn in der Carnegie Hall geben.

Der Redakteur, der das am Sonntag noch geschrieben hatte, wollte man an diesem Montagmorgen lieber nicht sein.

Der Tag selbst war übrigens kalt und klar. Bestes New Yorker Winterwetter. Die Sonne schien, als ob sie etwas wiedergutmachen wollte, aber das Haus 285 Lafayette Street stand ihr dabei im Weg und warf einen Schatten auf die Straße. In diesen Schatten hinein legten die Leute nun seit den frühen Morgenstunden Blumensträuße. Denn hier hatte David Bowie gewohnt, in einem Penthouse auf der ansonsten unspektakulär aussehenden Backsteinkiste. Das ganze muss mal ein Lagerhaus gewesen sein, wie so viele in der Nachbarschaft. Manche zählen die Adresse zum sogenannten Nolita, weil sie North of Little Italy liegt. Andere nennen es Soho, South of Houston Street. Auf jeden Fall: eine Lieblingsgegend von shoppenden Touristen. Links neben dem Hauseingang hat ein feines italienisches Parfümgeschäft seine Räume, rechts eine Filiale von „American Apparel“. Was für ein absurder Kontrast – diese etwas heruntergekommene Allerweltsmarke mit den „Supersale“-Angeboten (Unterwäsche ab 3 Dollar) und das mit der Tageszeit immer exaltierter werdende Outfit der Fans, die ihre Blumen hinlegten, Fotos, schriftliche Danksagungen. Kamerateams versuchten währenddessen, nicht zu viele von den anderen Kamerateams im Bild zu haben, ein eher schwieriges Unterfangen. Aber die Straße selber bleibt bitte frei, der Verkehr muss rollen. Dass sich die Erde einfach weiterdreht, ist immer ein Skandal, nach so einem Verlust aber doppelt.

Dafür lief in fast allen Läden der Umgebung den ganzen Tag lang Bowie. Direkt um die Ecke bei McNally Jackson, New Yorks nettestem Buchladen, konnte man beim Kaffeetrinken im Laufe des Tages praktisch das Gesamtwerk hören. Weil das ziemlich viel Kaffee bedeutet, führte das im Anschluss zu der Erkenntnis, dass die Toilettentür dort nur gegen Einwurf von 25 Cent zu öffnen ist. Drinnen hing allerdings ein rührender Entschuldigungszettel von Frau McNally persönlich: Die Maßnahme sei leider notwendig geworden, man glaube gar nicht, wie viele Heroinnadeln in letzter Zeit die Toiletten verstopften. Man kam sich auf einmal vor wie in einer Kulisse zu Bowies „Christiane F.“-Filmmusik, die oben gerade lief. Heroin ist wieder da. Und Bowie ist nicht mehr. Wer soll das begreifen?

Selbst im Apple Store kam leise aus den Boxen Bowie. Das merkten die unterbelichteten Millenials aber natürlich gar nicht, die dort ihren Technikkäse in die Ohren der Kundschaft faseln. („MacBook mit CD-Laufwerk? Was wollen Sie denn mit sowas noch?“ „Was wohl, Du Digital-Honk? MacBook mit Schlitz für Vinyl-Schallplatten wäre sogar noch besser.“)

Und Bowie sang: „I’m so high it makes my brain whirl / I dropped my cell phone down below.“

Währenddessen wuchsen vor der erschütternd prosaischen Tür von 285 Lafayette Street die Blumengebirge in die Breite. Eine Irre schlurfte vorbei und brüllte: „Lasst die Familie in Ruhe! Ihr wart nicht sein Freund! ICH war sein Freund.“

Ein anderer, nicht irre, nur verzweifelt, schrie: „Steh auf, Lazarus!“

Wieder ein anderer stellte sein Exemplar der LP „David Live“ von 1974 hin, und das kann man natürlich auch als Aufforderung lesen: David, lebe!

Aber es half nichts.

Auch nach dem ersten Tag ohne David Bowie ging irgendwann die Sonne unter, und New York blickte in einen Großstadthimmel, in dem es eigentlich nicht lohnt, nach Sternen Ausschau zu halten, nicht einmal nach schwarzen.

Aber nach Bowies Mobiltelefon.

Er hat es uns versprochen.

 

(c) PETER RICHTER

Eine kürzere Version dieses Textes erschien zuerst am 13.1.2016 auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung.