Nu! (Dresden)

Wer das Glück hat, in Dresden aufgewachsen zu sein, gilt anderen manchmal als redselig, hat aber auch allen Grund dafür: Dauernd muss man die Schönheit der Stadt rühmen und Irrtümer aus dem Weg räumen. Um zu wissen, was das ist, Schönheit, ist wiederum dies hier Voraussetzung: „das Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein.“ Das könnte man jetzt einen Zirkelschluss nennen. Aber wer in Dresden aufgewachsen ist, hält es für die schlichte Wahrheit. Das steht nämlich als Merksatz so bei Erich Kästner, in dem Buch „Als ich ein kleiner Junge war“. Und außerdem steht da: „Wir haben die Schönheit eingeatmet, wie Försterkinder die Waldluft.“ Als ich ein kleiner Junge war, war Erich Kästner gerade gestorben und hätte sich in Dresden vielleicht auch gar nicht mehr zurecht gefunden.

Überall standen noch Weltkriegsruinen. Sozialistische Stadtplaner hatten beschlossen, der „barocken Perle“, eine „moderne Fassung“ zu geben. Und was man in dem Talkessel, in dem die Stadt liegt, einatmete, roch eher nach Smog als nach Waldluft. Trotzdem sah ich die Sache kein bisschen anders als Kästner. Ich fand Dresden ehrlich gesagt sogar damals fast schöner als heute. Die ehemals alten, vornehmen Kästen an den Elbhängen sehen mir inzwischen oft zu sehr aus wie frisch vom Konditor, und in der Innenstadt finde nun ich mich nicht mehr zurecht, da stehen überall barocke Steakhäuser und Bierlokale, die zu meiner Zeit noch nicht dort standen. Aber die, die heute das Glück haben, hier aufzuwachsen, werden das auch alles tief einatmen und später, wenn das Leben sie woandershin verschlagen sollte, allen damit in den Ohren liegen.

Wenn man nämlich das Glück hat, in Dresden aufzuwachsen, dann tut man das wirklich in dem Bewusstsein, dass es kaum irgendwo schöner und prachtvoller sein kann. Wenn man dann eines Tages fortgeht, ist das Staunen groß, dass das woanders gar nicht allen klar ist. Dann steht man da mit seinem Lokalpatriotismus, der ja mit der Entfernung eher noch wächst.

Aber wenn sie dann einfach mal mitkamen, hieß es, ich hätte eher untertrieben. Dann standen sie vor den Diamantenhaufen im Grünen Gewölbe und waren für „Tiffany’s“ in New York verloren. Sie dachten, sie seien in Amalfi, dabei fuhr ich sie bloß die Schillerstraße hoch, wo links in einer Gartenlaube der „Don Carlos“ geschrieben wurde und rechts, meiner Erinnerung nach, einmal ein Chef der Stasi-Bezirksverwaltung wohnte. Manche Westdeutsche waren auch beleidigt, dass sie Solidaritätszuschlag bezahlen, als sie vor den Villen von Blasewitz standen oder vor dem einzigen Aston-Martin-Händler in den neuen Bundesländern, der sitzt in Radebeul. Und einige hatten am Ende einen größeren Dresden-Fimmel als man selbst.

Einmal, Mitte der Neunziger, hatte ich allerdings Freunden aus Hamburg den Zwinger zeigen wollen, da fand dort gerade ein Neonazi-Aufmarsch statt. Wer das Pech hat, in Dresden aufgewachsen zu sein, weiß leider auch, was wirklich schlimm sein kann. Aber dazu später mehr.

Meistens haben wir den Zug genommen, da ist der Effekt am größten. Es gibt da diesen Moment, wo sich das Elbtal auftut und alles auf einen Schlag viel südlicher wirkt.

Außerdem fährt der Zug in der Regel weiter bis nach Prag oder Budapest, und das ist auch von Bedeutung: Dresden liegt nicht ab vom Schuss, in der südlichsten Ecke von Ostdeutschland, Dresden liegt im Zentrum von allem, es ist praktisch (sowie historisch und kulturell) die Mitte zwischen Wien und Versailles, protestantischem Norden und Italien, und ich finde, das sieht man auch.

Mit Deutsch kommt man hier zwar einigermaßen durch, aber ein paar Vokabeln sollte man schon lernen. Vor allem das „nu“. Das U geschlossen, kurz und abgehackt. Auswärtige denken dann oft, das ist sächsisches Englisch und heißt „Nein.“ Wenn der Dresdner aber etwas verneinen wollte, dann würde er das schon deutlich machen. Und zwar mit „ni“.  Auf Hochdeutsch „nicht“, in Leipzig immerhin noch „nich“, hier jedoch kurz und ökonomisch: „ni“. Das I geschlossen, kurz und, genau: ein bisschen abgehackt.

„Weiß ich nicht“ hieße also zum Beispiel „Weeß’sch ni“.

Das ist jetzt allerdings ein rein hypothetischer Beispielsatz. Normalerweise würde einem Fremden, der nach dem Weg fragt, in Dresden immer eher ein freudiges „Nu“ entgegengebellt werden, selbst wenn die Wegbeschreibung selber dann zu wünschen lässt. „Nu“ steht für grundsätzliche Zustimmung. Ein essentielles Wort. Manche bringen es locker auf hunderte Stück pro Unterhaltung.

Es gibt die Theorie, dass das aus dem Slawischen kommt. Die Tschechen sagen „ano“, wenn sie „nu“ meinen, und das kann ganz ähnlich klingen. Von „ni“ und dem tschechischen „ne“ gar nicht zu reden. Eigentlich ist Dresden ja ohnehin eine slawische Stadt. Der Name ist eingedeutscht von Drazdany. Das hieß: Auenwaldbewohner. Und das kommt bis heute so hin. Soviel Grün pro Einwohner gibt es in kaum mal irgendwo, und der Dialekt wäre in kyrillischen Buchstaben manchmal fast einfacher niederzuschreiben.

Vor dem Hauptbahnhof ist das dann mit der einzigartigen Schönheit der Stadt Dresden allerdings so eine Sache. Direkt ins Auge sticht sie dort nicht. Aber darum geht es auch gar nicht. Generationen von Dresdnern sind mit dem Wissen aufgewachsen, dass die Prager Straße, die vom Hauptbahnhof zum Altmarkt führt, einmal die – na, was wohl? – schönste und prachtvollste Einkaufsstraße Europas war. Das gilt vor allem für die, die nur die Fußgängerzone kennengelernt hatten, die in der DDR auf dem zerbombten Areal errichtet worden war. Wie es vor dem Krieg war, entnahmen sie Fritz Löfflers Buch „Das Alte Dresden“, das in der Stadt einen Stellenwert hat wie sonst nur die Kindheitserinnerungen von Erich Kästner. Das sozialistische Dresden hatte in seinen Dimensionen mit dem Alten Dresden nur noch wenig zu tun, die Straßenzüge deckten sich nicht mehr. Und trotzdem war es problemlos möglich, zwischen den neuen Hochhausscheiben entlang zu laufen, mit dem Kopf aber in den darunterliegenden Gassen unterwegs zu sein. Das heißt aber auch, dass ich mich heute nicht mit der kleinmütigen Architektur abfinden muss, die inzwischen dort hingewürfelt wurde. Ich weiß schließlich noch, wie die Prager Straße aussah, als sie noch ein Musterensemble der DDR-Moderne war – und dass das mehr Format hatte. Den Zwinger konnten die Dresdner schließlich auch erst in ihr Herz schließen, als es mit dem Absolutismus vorbei war.

Man muss sich das so vorstellen wie bei den Elfenbeinkugeln, die man im Grünen Gewölbe besichtigen kann. Das sind ausgehöhlte Kugeln mit kreisrunden Löchern in der Oberfläche, durch die man im Inneren weitere Elfenbeinkugeln sehen kann, die ihrerseits … usw. Wunderwerke des Kunsthandwerks sind das – und ein gutes Modell für die verschiedenen Schichten Dresdens: Nicht alle hier sind immer auf der selben unterwegs.

Man kann zum Beispiel ganz in jenem Dresden zu Hause sein, in dem der Maler Caspar David Friedrich tätig war; die Abendstimmungen auf seinen Bildern sind an den Elbwiesen auch heute noch jederzeit live zu bewundern. Man kann aber auch einigermaßen zügig mit dem Auto zur Arbeit wollen und dabei den Fluss überqueren müssen… Als es um den Bau oder Nichtbau einer neuen Elbbrücke am sogenannten Waldschlösschen ging, standen sich Menschen gegenüber, die auf verschiedenen Planeten zu Hause sind. Die einen redeten vom Dauerstau, die anderen von Sichtachsen durch das Elbtal. Erwachsene Leute sprangen sich an die Gurgel deswegen. Über diese Brücke wurde allerdings schon gestritten, als ich noch lange nicht geboren war, und ich bin zuversichtlich, dass mich der Ärger darum auch deutlich überlebt. Die Brücke ist zwar jetzt fertig, aber sie sieht halt genauso ruhrgebietskanalmäßig aus wie befürchtet.

Und ich kenne keine Stadt auf der Welt, in der so endlos und so erbittert gestritten werden kann – wenn es um ihr Aussehen geht.

Sichtachsen spielen aber nun einmal in Landschaftsparks eine entscheidende Rolle – und Dresden ist faktisch nichts anderes. Noch mitten in der Mitte, auf der Augustusbrücke, sind in alle Richtungen die grünen Ränder zu sehen, die Hänge. Das ist die ganze Idee: Eingebettetsein. Die Elbe kurvt durch die Stadt, als wollte sie gar nicht wieder fort. „Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluss“, um es mal mit den Worten des Dichters Heinz Czechowski zu sagen. Auf diesen Bergen wiederum wächst Wein. Auf vielen thronen auch unterschiedlich üppige Schlösschen. Dann macht das Tal der Stadt Platz, dann kommen die Berge wieder ran, Villenvororte, wieder Schlösschen, dann wieder Wein, ganz am Ende irgendwann die Felsen der Sächsischen Schweiz: ein Schauspiel von bukolisch bis dramatisch in zwei, drei Fahrtstunden mit dem Schaufelraddampfer. Das braucht natürlich Platz und Weite. Wer von Städten in erster Linie erwartet, dass in flacher Einöde viele Häuser eng beisammenstehen, wird in Leipzig und Berlin glücklicher werden.

Dabei behaupten Stadtführer aber hier immer, die Äußere Neustadt sei das größte zusammenhängende Gründerzeitviertel Europas. Ich weiß nicht, ob Berlin-Prenzlauer Berg oder die Altbauviertel von Leipzig nicht doch noch ein bisschen größer sind. Vielleicht gelten die ja wegen der breiteren Straßen dort als irgendwie weniger zusammenhängend. Ich weiß nur, dass Superlative dieser Bauart in Dresden die Wege pflastern. Alles ist hier das erste, beste, bedeutendste – und dann kommt aber fast immer ein Zusatz wie: „seiner Art“, „seiner Zeit“, „nördlich der Alpen“. Größenwahn, aber mit eingebautem Airbag, das ist vielleicht ein Mentalitätsmerkmal.

Dynamo Dresden zum Beispiel gilt ja auch nur zuhause als glanzvollster Fußballklub nördlich wie südlich der Relegationsplätze für die Zweite Liga.

Überall sonst wird man bestenfalls mitleidig angeguckt: Sportlich ist ein Dynamo-Spiel selten ein Vergnügen, der Anhang gilt als übler Mob, und das Stadion heißt, kein Witz, „Glücksgas-Stadion“. Aber sich deswegen abwenden? Das würde alles noch schlimmer machen. Hier greift wieder die spezielle Dresdner Dialektik: Das eigentliche Dynamo ist das der Siebziger und Achtziger, spielt betörend, führt die Liga und brilliert international, die trübe Jetztzeit darf einen da nicht irre machen: Das ist es, wo Dynamo wieder hin muss, wo Dynamo hingehört.

Auschwitz-Gesänge im Fussballstadion, Neonazi-Aufmärsche, eine Justiz, die eher die Gegendemonstranten verfolgt: In den Jahren nach der Wende hat sich die Stadt ein Parallel-Image aufgehalst, das dem einer Kulturstadt exakt entgegengesetzt ist. Das Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein, hält sich in Grenzen, wenn man woanders dauernd gefragt wird, ob man da überhaupt hinfahren kann. Die einzig korrekte Antwort war aber immer: Man sollte am besten gleich hinziehen. Die Stadt ist viel zu schön, um sie ihren hässlichen Zügen zu überlassen. Jeder Zuzug hilft. Jeder Ausländer macht Dresden wieder ein bisschen dresdnerischer.

Und so ist es ja dann auch gekommen.

 

(Eine Version dieses Textes erschien im November 2013 in der Zeitschrift Merian)