I ♥? NY

Schön ist es, Verliebten zuzuschauen, rührend und ein bisschen schmerzlich, wenn man schon sieht, wie es enden wird.
An manchen Tagen hat man das Gefühl, sie stehen alle auf derselben Kreuzung: Prince und Broadway, zwischen Prada und Dean & Deluca, dem Grocery Store, in dem die Äpfel mit Wasserdampf und Vivaldi beregnet werden. Sie kommen die Treppe der Subway hoch oder von der Lafayette Street her, sie halten sich an Pappbechern mit Kaffee drin fest, und ihre Beine sind zwei Meter lang, auch wenn sie selber, sobald sie zu Hause die Pumps in die Ecke geschleudert haben, vielleicht nur 1,56 Meter sind; und dann schaltet die Ampel um, und sie donnern los, oder sie winken nach einem Taxi und haben dabei einen Ausdruck von Gereiztheit und Termindruck um die Lippen, der sie absetzt, absetzen soll von denen mit dem offenen Staunemund und den Touristentüten in der Hand: Ich bin nicht zum Spaß hier, Kinder, ich habe zu tun. Diese triumphale Betriebsamkeit ist der ortstypische Ausdruck für: New York ist der Ort meiner Träume; ich himmele ihn aber nicht nur an, ich benehme mich, als sei ich ihm rechtmäßig angetraut.
Wo fahren und wo stiefeln die eigentlich alle so hin, zu was für Superjobs, in was für Wahnsinnslofts, zu welchen Premiumdates?
Man würde jetzt sehr gern nicht hören wollen, dass es der Drittjob ist, das Mietpult im fensterlosen Großraumbüro, der letzte Versuch, mit einem Online-Date was zu reißen. Sie würden einem das in diesem Fall sicher auch nicht so sagen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Das kommt dann später erst. Hinterher. Wenn klar ist, dass das Klackern der Absätze auf diesen Straßen hier, so selbstbewusst es klingen mag, nicht zwangsläufig immer nur hineinführt in das schöne Leben von New York. Sondern manchmal auch einfach nur schnurstracks aus dieser brutalsten aller Städte wieder hinaus.
Es gibt da so ein Buch, das heißt „Goodbye to All That – Writers on Loving and Leaving New York“. Es ist in den letzten Wochen hier zu einem kleinen Bestseller geworden, zu einem Buch, über das gerade alle irgendwie sprechen. Und wenn nicht über das Buch, dann doch zumindest über sein Thema. Denn New York lieben tun ja viele, aber New York verlassen und darüber Essays verfassen – das ist plötzlich ein neuer Breitensport geworden, eine richtige Bewegung, der heiße Scheiß dieses Herbstes. Es hat fast was von Tabubruch und Ende der Schamhaftigkeit. Es hat etwas von Zeitschriften, in denen Frauen sich zum Schwangerschaftsabbruch bekennen, mit dem Unterschied, dass so etwas in New York für viel weniger Aufregung sorgen würde, denn die Angehörigen der Kirche zur Anbetung New Yorks können empfindlich reagieren, wenn jemand vom Glauben abfällt.
Folgendes ist nämlich wichtig zu wissen: Es sind 28 Liebeserklärung an eine Stadt, in der es aus verschiedensten Gründen irgendwann nicht mehr weiterging. Diese 28 Liebeserklärungen stammen ausschließlich von Frauen. Und zwar von Frauen, die schreiben können, deren Beruf und Broterwerb das ist, oder die mit dieser Absicht jedenfalls mal hier angekommen waren: Autorin sein, am Washington Square sitzen, in einem Brownstone wohnen, für renommierte Zeitschriften in teuren Hotels mit international gefeierten Filmstars sprechen und/oder Romane veröffentlichen, die vom New Yorker gefeiert werden oder wenigstens von der Village Voice. . . Und die meisten haben diesen Traum auch gelebt, aber dann kamen Ehen, Kinder, Mieterhöhungen, neue Prioritäten, was Nachtschlafqualität und Grünflächenangebot betrifft. Irgendwann fragt man sich halt, warum man 3000 Dollar im Monat für ein Loch voller Kakerlaken zahlen soll, und 6000 Dollar, wenn es halbwegs familientauglich sein soll und in einem Schulbezirk, wo nicht unbedingt mit Schießereien zu rechnen ist, und eher 10000 Dollar, wenn sich das Loch in Manhattan befindet, und 30 000 Dollar im Jahr für einen Kindergartenplatz, auf den es 200 Bewerber gibt… Und plötzlich fanden sie sich mit Mitte Dreißig an der West Coast wieder oder irgendwo in einer kleinen Stadt in Upstate New York, wie Sari Botton, die Herausgeberin des Bandes: „Ich liebe mein Leben in Rosendale, aber ich vermisse New York auch. Ich sehne mich danach in einer Weise, in der man sich nach einem verflossenen Liebhaber sehnt.“ Sie wissen, dass das nichts für die Dauer war mit ihnen und New York City, aber sie tragen immer noch eine Aufladekarte für die Subway im Portemonnaie mit sich herum.
Es ist 28 Mal mehr oder weniger die gleiche Geschichte, es sind, wie bei einem Album mit Popsongs, 28 Variationen auf ein immergleiches Thema, sogar auf einen ganz bestimmten Ton. Und hier kommt nun die Frage ins Spiel, warum das Leben gerade da, wo es besonders persönlich wird, am meisten an bestimmten Vorbildern hängt. Und warum gerade kreative und eigenständige Charaktere so an Lebensentwürfen hängen, die von anderen stammen.
Denn diese Anthologie, ihr Titel und jeder einzelne Text ist erklärtermaßen eine einzige Hommage an die Journalistin, Schriftstellerin, Stilgöttin Joan Didion, die das alles schon vor mehr als vierzig Jahren mal aufgeschrieben hat, weil sie vor mehr als fünfzig Jahren selbst einmal auf klackernden Absätzen in diese Stadt einmarschiert war. Nun schrieb Didion ihren Essay „Goodbye to All That“, einen Abgesang auf New York, im Jahr 1967. Da hatte sie die Stadt schon mehr als ein halbes Jahrzehnt lang gegen die Los Angeles eingetauscht, und ihre New Yorker Jahre waren die späten Fünfziger gewesen – die Ära, in der die ersten „Mad Men“-Folgen spielen.
New York war eine komplett andere Stadt damals und das Leben dort geradezu günstig verglichen mit heute. Man trug noch keine Yoga-Matten zusammengerollt wie Botanisiertrommeln auf dem Rücken herum, und es wurde noch geraucht. Aber es gibt Dinge, die gelten immer, und es braucht nur jemanden, der sie zum ersten Mal formuliert. Dass es einfacher ist, den Beginn von Dingen zu sehen als ihr Ende, beispielsweise. Und dass aber, wenn es erst einmal vorbei ist, der Anfang mit einer Klarheit vor einem steht, „dass es einem die Nerven im Nacken zusammenzieht.“ Und dass es eben nicht nur um irgendeine „umgangssprachliche Form“ von Liebe geht, wenn von der Liebe zu New York die Rede ist: „Ich meine, dass ich die Stadt in einer Weise geliebt habe, wie du die erste Person liebst, die dich je berührt und niemals jemanden wieder so lieben wirst. . .“
Große, tolle, tückische Joan Didion! War je eine kleine, zarte Frau mit großer Sonnenbrille einflussreicher? Als Autorin, der ganze Generationen hinterherschreiben (bis heute, auch in Deutschland, und für den Leser ist das immer ein Gewinn.) Und als Identifikationsfigur für die, die vom Schreiben leben wollen, und zwar groß und intensiv leben, nämlich in New York. Der entscheidende Punkt ist nur: Didions Geschichte war die eines Sieges. Sie war Anfang 20, als sie aus Sacramento nach New York kam, sie schrieb für die Vogue, sie nahm jede Party mit, und mit noch nicht mal dreißig war sie schon absolut gelangweilt von alldem, mit einem erfolgreichen Mann verheiratet und weitergezogen, und zwar dahin, wo in den Sechzigern die Musik spielte, nach Kalifornien.
Im Herbst 2013 nun schreibt die Schriftstellerin Cari Luna auf Salon.com, dass sie sich das Leben in ihrer geliebten Geburtsstadt leider nicht mehr leisten kann und jetzt in mit ihrer Familie in Portland, Oregon, lebt. Dass sie dort besser lebt. Und dass sie trotzdem immer das Gefühl hat, „gescheitert“ zu sein: „Hätten wir härter kämpfen müssen?“
Keinen Tag später steht auf derselben Seite eine Entgegnung der Schriftstellerin Mary Elizabeth Williams: Warum sie ihre Kinder nirgendwo anders aufziehen werde als exakt hier, koste es, was es wolle.
Was hier los ist? Schnöde, böse, kalte Ökonomie natürlich; die Stadt ihrer Träume ist zufällig auch die kalte, böse Welthauptstadt des Kapitalismus. Aber der Ton stammt aus der Paartherapie.
Auch das hat Didion vorgemacht: Die Stadt New York wie einen Typen zu behandeln, mit dem sie mal was hatte. Nur: Bei ihr ist es eine Jugendliebe, die irgendwann ihren Ansprüchen nicht mehr genügte. (Kurz darauf sollte sie den Junkie-Film „The Panic in Needle Park“ schreiben: ein Porträt New Yorks als Metropole der Abgefucktheit.) Bei den Didionidinnen von heute ist es umgekehrt: Hier wird New York durchgängig als eine Affäre beschrieben, aus der leider nichts Festes wurde; die Perspektive ist die leicht wehmütige von Frauen, die neben den lieben Vätern ihrer Kinder irgendwo in der Provinz auf dem Sofa sitzen.
Ann Friedman, eine der jüngsten Nachfolgerinnen Joan Didions („Warum ich froh bin, New York schon mit 24 verlassen zu haben“ hieß ihr Beitrag zur Debatte, und ihr Punkt ist: „Why would I want to make it there when I can make it everywhere else?“), Ann Friedmann also nannte die Dinge auf TheCut.com ganz unverblümt beim Namen: „Ich war immer mehr von dem netten Typen eingenommen, der gar nicht weiß, wie heiß er eigentlich ist (Chicago), oder von dem überraschend intelligenten, sexy Kiffer (Los Angeles), als von dem Kerl, der denkt, er ist der absolute King.“
In den Kommentaren auf solche Artikel geht es so rund wie in Diskussionsforen zu Boy Groups. Da schreibt „Fedora“: „Du bist wie das Mädchen, mit dem Schluss gemacht wird, und das dann behauptet, das sei von beiden Seiten ausgegangen; in Wirklichkeit hast du es nicht in den Griff gekriegt.“ Und „Zabig“ lässt wissen, dass Kalifornier nur ungern den Part des Typen spielen, zu dem diese Mädchen nur angerannt kommen, wenn sie Liebeskummer haben.
Das Gerede, wonach die Stadt New York „phallisch“ sei, hart, brutal und auf jeden Fall eher ein Er als eine Sie, ist alt und platt genug, aber dieses Girl-meets-Hallodri-Narrativ hier macht nun auch noch einen betonierten Don Juan daraus, dem die Flughäfen und Bahnhöfe dauernd neue Twentysomethings mit weichen Knien entgegenspucken.
Dabei ist New York von den reinen Zahlen her eigentlich eher eine weibliche Stadt: 52,5 Prozent Frauen, genau 410 045 mehr als Männer, Stand Zensus 2010, das sind mehr als Miami insgesamt an Einwohnern hat. Die Folge davon: Schlussverkaufsmäßiges Gerangel auf dem Beziehungsmarkt, rasselnde Kassen bei Dating-Websites, New Yorker Jungs, die lieber noch ein bisschen weitergucken, wo die Auswahl so schön groß ist. Es ist nicht einfach, und wenn endlich ein Mann da ist und vielleicht noch ein Kind dazu, dann wird es wohl eher noch härter, noch teurer, noch stressiger. Aber ist das schon der Grund, warum diese Variante von „Leaving New York“ bislang so ein reiner Frauenchor ist? (Im Gegensatz zu dem gleichnamigen Lied von R.E.M., in dem aber auch schon festgestellt wurde: It’s easier to leave than to be left. . .)
Leiden Männer denn nicht genauso unter der Brutalität, der Enge, dem Lärm, den Preisen, dem Wahnsinn hier; gehören die nicht genauso oft zu denen, die weggehen oder wegmüssen, denen es zu viel, zu laut, zu anstrengend und zu teuer, teuer, teuer wird, die die Flucht ergreifen oder, wie beim Rodeo, schlicht abgeworfen werden von dieser tobenden, schnaubenden Stadt?
Vermutung: Bestimmt. Sie gehen offenbar anders damit um. Stumpfer. Manche leugnen es auch einfach, wie die Arbeitslosen, die trotzdem morgens mit der Aktentasche losziehen. Die wenigsten sind bisher jedenfalls auf die Idee gekommen, öffentlich Klage darüber zu führen. Das „Phallische“ von New York äußert sich ja durchaus auch darin, dass Leute hier ihre Stimmen heruntertunen, bis die knattern wie abgesägte Auspuffrohre. In dem Ton kann man sein Wegziehen praktisch nur als Pioniergeist und Wildwest-Abenteuer verkaufen: Brooklyn ist durch, Baby, ich bau uns ein neues in die Wälder bei Poughkeepsie. . .
David Byrne, ehemals Talking Heads, hat der Stadt jetzt öffentlich angedroht, sie in diese Richtung zu verlassen, wenn sie weiterhin zum Kurbad für Milliardäre verkommt. Das wäre die Variante: Abschiedsbrief als Ultimatum getarnt. Es ist ja nun einmal nicht wirklich zu erwarten, dass New York wegen Byrne in Tränen ausbricht, Reue zeigt, sich am Riemen reißt. New York ist schätzungsweise viel zu sehr damit beschäftigt, Marx zu widerlegen: Der Kapitalismus, dieser böse alte Sack, denkt nicht ans Sterben; und dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, ist auch Quatsch; Millionen Menschen arbeiten hier jeden Tag am Beweis des Gegenteils. Kommen an, sehen die Stadt, sehen sich selbst in der Stadt, stellen sich irgendwie hinein in dieses Bild und kümmern sich nicht um die, die gehen, weil sie hoch schauen zu denen, die es hier geschafft haben, zu den Teufelskerlen mit den besonders dicken Eiern.
Also zu Leuten wie Joan Didion.
Denn die wohnt natürlich längst wieder in New York. Eine schmale alte Dame, auf der Upper East Side, gleich beim Central Park.

Ein Ausschnitt aus diesem Text erschien zuerst im Dezember 2013 in der Süddeutschen Zeitung

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