Ostdeutsch, maskulin

Irgendwann Ende Juni, also ungefähr sechs Monate nach den Wahlen in den USA und drei Monate vor den Wahlen in Deutschland, saß der amerikanische Germanist Eric Jarosinski im Brooklyn Bavarian Biergarten und erzählte Bemerkenswertes.

Der Brooklyn Bavarian Biergarten liegt gemütlich zwischen einer Stadtautobahn und der Festhalle, in der Al Capone die Narbe bekommen hat, derentwegen er Scarface genannt wurde. Es gibt dort Kölsch in Maßkrügen, und die Wurstplatte ist so, wie sie vielleicht nicht anders sein kann, wenn die Betreiber Griechen sind und die Mexikaner in der Küche mit den Gedanken in der eigenen Heimat festhängen. Jarosinski ließ nicht erkennen, ob Ambiente wie „Wurst“ ihn schockierten oder amüsierten oder gleichgültig ließen. Er schaute, während er redete, so todernst wie Adorno, dessen Antlitz Jarosinski als Vignette benutzt, wenn er unter dem Titel „Nein Quarterly“ sehr erfolgreich philosophische Heikus twittert. Für ein paar Wochen in diesem Frühjahr war er der künftige Programmchef des New Yorker Goethe-Instituts gewesen, hatte dann aber gekündigt. Das Bemerkenswerte, das er an jenem Junitag zu berichten wusste, war dies: Das deutsche Außenministerium werde nächstes Jahr ein „Year of Germany“ in den USA veranstalten, und so wie er es verstanden hatte, wolle man, 70 Jahre nach dem Marshall-Plan, den Amerikanern etwas zurückgeben – und zu diesem Zweck besonders in den Gegenden des Mittelwestens, wo Donald Trump seine begeistertsten Unterstützer hat, für Kosmopolitismus, die offene Gesellschaft, eine flüchtlingsfreundliche Politik und solche Dinge werben. Es war nicht auszumachen, ob er das begrüßte, kritisch sah oder einfach nur mitteilen wollte.

Seit letztem Sonntag ist klar, dass das in erster Linie ein böser Witz war, dessen Pointe zum Zünden einfach nur die Zeit bis zur Bundestagswahl brauchte, in deren Folge die Alternative für Deutschland nahezu als Hundertschaft in Bundestag einmarschieren darf und das Auswärtige Amt aller Voraussicht nach nicht mehr in den Händen der Sozialdemokraten liegen wird. Andere belehren wollen, wie man den Lockungen des rechten Populismus entgegentritt: Immerhin zeigen die Deutschen jetzt Sinn für Humor.

Damals, im Juni, ließ sich nur sagen, dass dieser folkloristisch recht frei interpretierte Bavarian Biergarten im Vielvölkerstadtteil Brooklyn ungefähr das sein dürfte, wovon Björn Höcke träumt, wenn er aus Sorge um Deutschland schlecht schläft.

Dass einem da drüben in New York der Name Höcke überhaupt etwas sagte, war dabei durchaus ein Grund, selber nicht mehr gut zu ruhen. Ein Ozean sollte eigentlich genug Abstand sein, um sich AfD-Agitatoren aus der deutschen Provinz egal sein zu lassen. dann kriegte man die Ähnlichkeit leider nicht mehr ungesehen. Aber bestimmte Youtube-Videos aus der Heimat verfolgen einen auf der ganzen Welt. Dieser Saal in Dresden, wo Höcke Anfang des Jahres seine Rede über den „Schuldkult“ und das „Mahnmal der Schande in der Mitte der Hauptstadt“ vom Stapel gelassen hatte. Diese Leute, angeblich aus der Jugendorganisation der AfD, zwischendurch Akklamationen, die mal wie Blöken, mal auch wie Rülpsen klangen: So hatte die DEFA in den Fünfzigern bierdimpfelige Hurrapatrioten aus der Vorkriegszeit karikiert. Aber das Video war so echt und so von heute wie der bronzene Höcke im Metropolitan nicht echt und über 2000 Jahre alt ist.

Auf der anderen Seite war im November, zwei Wochen nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, in Washington D.C. ein Mann vor eine ganz ähnliche Menge getreten und hatte in seinem dreiteiligen Anzug ausgesehen wie auf dem Weg zu einem Kostümfest mit dem Thema „Die Dreißigerjahre“, viele Amerikaner lieben ja historische Rollenspiele. Er rief „Hail our people“ und „Hail Victory“, und im Publikum sah man Hitlergrüße, aber das war trotzdem heute, Gegenwart, und, so wie er es darstellte, sogar die Zukunft in Trumps Amerika. Der Mann hieß Richard Spencer und sieht sich als Vordenker der sogenannten Alt-Right-Bewegung, also Amerikas Neuer Rechter, wohingegen Björn Höcke sicher in Armin Mohlers Handbuch der „Konservativen Revolution in Deutschland“ ganz genau auf die Nationalisten-Unterkategorie aus den zwanziger Jahren zeigen könnte, der er sich verpflichtet fühlt. Auch sind in Amerika Donald Trump und seine zum Teil extrem weit rechts stehenden Fans tatsächlich an die Macht gewählt worden, und in Deutschland die AfD mit ihrem zum Teil extrem weit rechts tönenden Personal nur als Oppositionspartei in den Bundestag. Aber die beiden Ereignisse ähneln sich bei allen Unterschieden in ihrer Wirkung. Und wer erst die Trump-Wahl in New York miterlebt hat und jetzt die Bundestagswahl in Berlin: Der muss vor allem angesichts der Reflexe und Reaktion zu dem Schluss kommen, einer geometrischen Parallelverschiebung mit leicht verwackeltem Lineal beizuwohnen.

In New York hatten sie in den Tagen nach der Wahl Post-Its an die Wände einer U-Bahn-Station geklebt, auf denen Dinge standen wie „Schockiert, Verärgert, aufgebracht, aber immer noch hoffnungsvoll“ oder „Wir müssen uns alle fest umarmen und dann wieder aufstehen“ oder „Wenn nur 18-25jährige hätten wählen dürfen, wäre es für Hillary ausgegangen. Die Zukunft ist hell.“ In Deutschland wurde der therapeutische Stuhlkreis von der Wochenzeitung „Die Zeit“ unter dem Hashtag „#87prozent“ auf Twitter eingerichtet. Die Leute schrieben „Ich bin #87prozent und stehe für eine freie, offene Gesellschaft ohne Hass und Ausgrenzung“ oder „Ich bin #87Prozent“ und zu 100 Prozent gegen Rechts!“ oder „…dass Vielfalt, Entwicklung und Liebe niemals Platz machen muss für Hass, Wut und Isolierung“. Oder aber auch: „Ich wünsche mir, dass wir ein säkulares Land bleiben, in dem der Islam die Religion einer sehr kleinen Minderheit ist.“ So ein anonymer Kummerkasten kann halt mit allem befüllt werden – von den einen mit komplett folgenlosem Kitsch, um sich persönlich kurz besser zu fühlen, von anderen mit Gedanken, die sich sonst oft nur gebrüllt oder gar nicht mehr ins Freie trauen.

Auch nach den amerikanischen Wahlen wurde diskutiert, ob nicht am Ende vor allem „die Medien“ schuld seien, ob dem Gerede Trumps und der Wut seiner Fans zu wenig oder zu viel Aufmerksamkeit gewidmet worden sei. Dort wie hier wurde darauf bestanden, die Wähler der Rechten nicht pauschal als Rassisten oder Nazis abzukanzeln, sondern ihre Sorgen und Ängste kennenlernen, verstehen, ernstnehmen zu müssen – und dort wie hier wurde darauf bestanden, diese Sorgen und Ängste nicht auch noch kennenlernen, verstehen und ernstnehmen zu müssen, sondern Rassisten als Rassisten und Nazis als Nazis bezeichnen zu dürfen und fertig. Rassisten, Rassisten, Rassisten, Nazis, Nazis, Nazis. Dampf ablassen ist ja auch mal heilsam. Das Problem: Demnach gibt es alleine in den USA heute mehr Nazis als in Deutschland vor 45. Und was machen wir jetzt, mal so ganz praktisch, mit dem Befund?

Frappierend auch, dass dort wie hier noch in der Wahlnacht von den Demoskopen eine Wählergruppe herausdestilliert wurde, die in besonders hohem Maße zu dem ärgerlichen Ergebnis beigetragen hatte, worauf augenblicklich alle anderen in ihre Sessel zurücksinken durften: Wunderbar, die da sind schuld.

Nach der Trump-Wahl beugten sich dann alle mit großen Lupen über weiße Männer ohne College-Abschluss aus dem sogenannten Rust Belt, den alten, vom Niedergang gebeutelten Industriegegenden, wo sie beim letzten Mal oft noch Obama gewählt hatten, den Friedensnobelpreisträger und Drohnenkriegsherrn, der so schön reden konnte, aber die Spaltung des Landes nicht aufhalten. Dass „ohne Collegeabschluss“ nicht automatisch ungebildet und Arbeiter bedeutet, sondern möglicherweise auch Firmeninhaber oder Handwerksmeister muss einen ja nicht übertrieben stören, wenn da auf einmal so schön unappetitlich ein Typus auf dem Seziertisch liegt, der sich betasten, bemitleiden oder abschreiben, auf jeden Fall aber pathologisieren lässt: weiß, männlich, Hinterwald. Währenddessen durften die Rechtsanwälte und Immobilienmaklerinnen schon im direkten Umland von New York pfeifend auf dem Aufsitzrasenmäher um die „Trump-Pence“-Schilder in ihren Vorgärten kurven, ohne dass es weiter auffiel.

Seit der Bundestagswahl am letzten Sonntag muss sich nun „der ostdeutsche Mann“ die Frage gefallen lassen, was mit ihm nicht stimme, dass er so überdurchschnittlich oft die AfD gewählt hat. An der Stelle können „die Medien“ eigentlich wieder nur alles falsch machen: entweder AfD-Wähler am Gartenzaun nochmal in die Mikrofone sagen lassen, dass es so nicht weiter und die Merkel weg und die CDU einen Denkzettel und die meisten Einwanderer am liebsten wieder raus und so fort.

Oder halt nicht.

Dritte Variante: Man sitzt mit Wolfgang Engler in Berlin-Prenzlauer Berg vor dem Café Pasternak und sortiert erst einmal die Präliminarien. Wer ist überhaupt ein ostdeutscher Mann im Sinne der Wahlanalysten? Zählen AfD-Leute wie Björn Höcke oder Alexander Gauland selber auch dazu, obwohl die, wie das meiste Personal rechter Parteien im Osten, aus dem Westen stammen? Was erklärt einem der ostdeutsche Mann über die kaum minder hohen Wahlergebnisse der AfD in Bayern oder Baden-Württembergs? Und was tun wir mit den nicht ganz wenigen, die zwar Dialekt sprechen, aber trotzdem was anderes gewählt haben. Egal. Wir wollen uns nicht vor dem Thema drücken. Und Wolfgang Engler, der gerade nach vielen Jahren als Rektor der Schauspielschule Ernst Busch in Pension geht, ist eigentlich Kultursoziologe und insofern der Experte für das Thema, als er um die Jahrtausendwende herum ein paar sehr bedenkens- und schon ihrer Eleganz wegen äußerst lesenswerte Bücher darüber verfasst hat. Eins hieß „Die Ostdeutschen“, das andere „Die Ostdeutschen als Avantgarde“. Man las da, dass sich die Ostdeutschen erst nach dem Ende der DDR als solche zu begreifen lernten, durchaus auch weil sie ein „altdeutsches Gepäck“ an Nationalem und Nationalstaatlichem mit sich schleppten, mit dem die Westdeutschen oft nichts mehr anfangen konnten oder wollten. Dass sie aus den Erfahrungen von Umbruch und Zurückweisung ganz eigene Lehren für die bundesdeutsche Gegenwart abgeleitet hätten. Dass sie nach einem Wort des Politologen Alexander Thumfahrt oft „radikal-moderne Wähler“ seien, die sich nicht durch Tradition oder Selbstbild an ihre Wahl vom letzten Mal gebunden fühlten. Dass es aber ein spezifisch ostdeutsches Idiom gebe, das der PDS, wie damals die Linke noch hieß, von allen Parteien wohl noch am geläufigsten war.

Aber gilt das denn noch?

Schon ein paar Jahre davor, 1995, hatte Engler in Anlehnung an Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ über die „Zähmung der bösen Gelüste“ durch Sanktionen geschrieben: „das Tabu als Statthalter einer gewaltfreien Art des Menschseins“, denn davon war im Neonazi-Spielparadies des unmittelbaren Nachwende-Ostens ja nur noch wenig zu spüren.

Gilt das jetzt etwa wieder?

Engler ist 1952 in der Stadt geboren worden, in deren Umgebung die AfD vorigen Sonntag die meisten Wahlkreise gewann: Dresden. Das dürfte im Moment gleichzeitig die Stadt sein, in der die meisten öffentlichen Gebäude mit glühenden Bekenntnissen zu „Buntheit“ und „Weltoffenheit“ beschriftet sind; aber Ortskundige wissen, wie das zu lesen ist, früher standen dort Dinge wie „Der Sozialismus siegt“ auf den Häusern.

Aufgewachsen, sozialisiert und wohnhaft ist Engler in Ostberlin, wo das Verhältnis zu gesellschaftlichen Aufbruchsparolen schon immer ein weniger gebrochenes war.

Er sitzt da nun, ganz in Schwarz, vor einem Espresso und wirft schnell und druckreif ein paar Angebote zum weiteren Darübernachdenken in den von allem politischen Katzenjammer unbeirrt sonnigen Nachmittag: Da ist die „maskulin dominierte Zurückbleibergesellschaft“, die überall dort entstanden sei, wo die Fitteren weggegangen waren, vor allem die jungen Frauen. Und man ahnt unter der Formulierung den Eisberg, den das bedeutet, wo sich mit Flüchtlingen nicht nur in der Verteilung ökonomischer Güter Konkurrenzverhältnisse auftun; auch Sex ist ja nun einmal ein Markt, der Gewinner und Verlierer kennt, von den schlechten Verlierern nicht zu reden. Und während der eine Teil der Deutschen bis heute um die angemessenen Worte für diese Sachlage ringt, war ein anderer da immer schon recht unverblümt. Außerdem: Die Verkapselung des Traumas von Umbruch und Zurückweisung, das sie in vielen ostdeutschen Familien augenscheinlich durch die Generationen weiterreichen. Wenn man die Zahlen genau ansieht, dann ist es nämlich genau nicht die Generation der von der Wende Gebeutelten, die besonders häufig die AfD gewählt haben, sondern die jüngeren, die zum Teil gar keine sogenannte DDR-Biografie mehr hatten. Und da ist „die lange Bindung dieses Unzufriedenheitsmilieus an die Linke“, die die Äußerung des Unmuts noch halbwegs moderieren konnte. Die AfD hingegen habe nun alle Schranken geöffnet, lasse viel ungehemmtere Töne zu, könnte sein, dass das befreiend wirke, denn natürlich hat Engler seinen Walter Benjamin gelesen: Die Rechte verhilft heute genauso wie in den dreißiger Jahren diesen murrenden Massen womöglich besser zum Ausdruck als die Linke. Aber eben nur zum Ausdruck, nicht unbedingt zu ihrem Recht.

Was Engler, wie viele andere Berliner Intellektuelle, umtreibt, ist nämlich nicht so sehr die Wählerwanderung von der CDU zur AfD, sondern die von der Linken. Bis vor ein paar Jahren war das hier schließlich noch die große Protest-als-Volks-Partei, die westdeutsche Kommentatoren immer wieder zu der Frage veranlasste, ob die Ostdeutschen noch alle Tassen im Schrank oder die Demokratie nicht richtig verstanden haben. Daran muss man ja immer mal wieder erinnern, seit die Linkspartei geradezu staatstragend geworden ist. Jetzt hatten sie an der Berliner Schaubühne pünktlich am Wahltag Premiere einer Inszenierung nach Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“. Thema des Buches: Wie eine ganze Region, die mal treu zu den Kommunisten hielt, zum Front National umschwenkt.

Englers Gesprächspartner hätten ihren Umschwung meistens ziemlich genau datieren können: Herbst 2015, der Burgfrieden der Bundestagsparteien in Angela Merkels Flüchtlingspolitik.

Am Ende läuft alles immer darauf hinaus?

„Fast immer“, sagt Engler.

Da sitzt man dann, in Prenzlauer Berg, mit Blick auf den alten Wasserturm vor dem letzten Café, das sich aus der Wendezeit noch halten konnte, und landet wieder bei dem einen Thema, von dem alle zu ahnen zu scheinen, dass es im Zentrum von allem steht, was gerade passiert, während offenbar keiner weiß, wie er wirklich offen darüber reden könnte – wenn „Offenheit“ nicht nur ein stumpfer Bejahungsbefehl im Stil autoritärer Psychosekten sein soll. Es ist ja schon schwer genug, die Frage zu stellen, ob die militanten AfD-Gegner in Großstädten wie Berlin nicht über das Stichwort Gentrifizierung so etwas wie eine Verständnisbrücke aufbauen könnten zu den Heimatverlustängsten, von denen wiederum die AfD-Wähler im kleinstädtischen Raum so oft sprechen. Über die Unterschiede, und was daraus folgt, ließe sich dann ja im Anschluss reden. Aber im Moment ist schon das Reden als solches zum Konfliktfeld geworden. Und so landet man dann bei der Nachbesprechung der Bundestagswahl mitten in Berlin umwegsweise wieder in Amerika. Wolfgang Engler erzählt von dem Buch, das die Soziologin Arlie Russell Hochschildt gerade vorgelegt hat: „Fremd im eigenen Land“, eine Reise zu den Trumpwählern im Landesinneren, die mit ihrer Wahl durchaus auch dagegen rebelliert hätten, von den Diskursverwaltern an der Ostküste dauernd fernklassifiziert zu werden, als Rednecks, als Abgehängte, als White Trash, als Rassisten. Bezeichnend genug, dass der Titel des Buches heute praktisch als Chiffre für ein rechtes Ressentiment gilt. Die Dichter der DDR, die die Formulierung außerordentlich häufig verwendet haben, wussten noch, dass sie auf Hugo von Hofmannsthal zurückgeht. Man kann das alles, einschließlich Hofmannsthal, natürlich auch den Tweedsakko und Brille tragenden Teilen der AfD überlassen. Aber die Frage ist, wie klug das ist. Die Frage, wie klug das ist, alles zum sozialen Konflikt zu erklären, um sich mit den kulturellen nicht befassen zu müssen, hat sich letzten Sonntag in den Wahlergebnissen von SPD und Linker ja weitgehend schon geklärt. Und ein der Linken nahestehender Publizist wie Wolfgang Engler sieht in dem Wahlergebnis auch einen Protest dagegen, der eigenen Berufsgruppe ausgeliefert zu sein, den Hütern des Diskurses, „sondern auch Dinge sagen zu können, wie einem der Schnabel gewachsen ist, ohne sich sogleich außerhalb des Kreises der zur Äußerung Zugelassenen wiederzufinden.“ Er jedenfalls wirbt dafür, den Leuten nicht sofort Etiketten aufzukleben, die sie in ihren Positionen nur noch weiter verhärten lässt. Über die Gültigkeit seines Buchtitels von den „Ostdeutschen als Avantgarde“ kann es seit Sonntag jedenfalls keinen Zweifel mehr geben. Der Osten hat gezeigt, dass er näher an Polen und Tschechien und Ungarn liegt als an Göttingen oder München; er liegt auch näher an Frankreich und Belgien und Brexit-Britannien und den USA, er ist, wenn man so will, normalisierter als der wie eine Insel der Konsensseligen wirkende Rest des Landes. Es hat schließlich nie jemand behauptet, dass es da, wo die Avantgarde hinreitet, besonders erfreulich ist, geschweige denn gemütlich.

PETER RICHTER

 

Eine kürzere Variante dieses Textes erschien zuerst am 30.9.2017 in der Süddeutschen Zeitung.