Pentecostal Mosh

Für die meisten New Yorker war dieses Pfingstwochenende nicht das Pfingstwochenende, sondern das Memorial Day Weekend. Und für die meisten von denen wiederum lag die Hauptbedeutung dieses maximal ökumenischen Feiertags nicht einmal in der Ehrung amerikanischer Kriegsveteranen, sondern im Angrillen und Sonnenbaden, in monströsen Staus und verdoppelten Übernachtungspreisen auf Long Island; Memorial Day ist der Beginn der Sommersaison. Das heißt aber nicht, dass nicht auch angemessen der Ausschüttung des heiligen Geistes gedacht worden wäre in den vielen verschiedenen Kirchen von New York. Die Anzahl der Konfessionen, Abspaltungen, Untergruppen und Sekten ist ja kaum zu überschauen. Und so kam es, dass am Freitagabend auch ein paar Hundert pfingstlich Gestimmte vor der Bühne vom Irving Plaza standen, dem alten Rock’n’Roll-Palast beim Union Square, denn siehe: „Haste The Day“ waren wieder auferstanden nach Jahren der Trennung.

Haste The Day? Eine christliche Metalcore-Band aus Indiana.

Metalcore? Ein Mix-Stil aus Heavy Metal und Hardcore Punk, sehr amerikanisch, Metal für Leute, könnte man sagen, die etwas Bunteres als Schwarz tragen wollen und außerdem gern ihr Skateboard dabei haben; die Anzahl der Konfessionen, Abspaltungen, Untergruppen und Sekten ist auch auf diesem Sektor beträchtlich.

Es war dann so: Schlagzeug, Gitarren, gutturales Geschrei – „Growling“ – im Wechsel mit melodischem Satzgesang. Mit dem Geschrei ließ es sich besser leben, aber das ist ja in der bildenden Kunst auch oft so: Die Leute finden auf spätgotischen Bildern die Folterszenen meistens spannender als die süßlichen Madonnen. In solchen Kategorien denkt man da plötzlich, an die Bar gelehnt mit der Bühne im Blick. Man wundert sich auch nicht, wenn der Sänger dieser Band tags drauf in einem Interview mit dem Eindruck hadert, die Leute vor seiner Bühne würden eher die Band anbeten als Jesus Christus. Diese Sorgen kennt man bestens aus der christlichen Kunstgeschichte. Wenn nicht gegen Ende zwischen zwei Stücken ausdrücklich Jesus Christus gelobt worden wäre, hätte man auch nicht unbedingt mitkriegen müssen, dass das hier etwas anderes sein sollte als ein konventionelles Metal-Konzert, wo die Höllen eher um ihrer selbst willen ausgemalt werden. Da man es aber wusste, stiegen all die religiösen Momente so eines Rockkonzertes hier miteinander in den Moshpit. Alleine der Moshpit, jener Kreis inmitten des Publikums, der sich für die ekstatisch agierenden Tänzer bildet: Die Leute rasten in wütender Freude im Kreis herum wie beim sogenannten Ringelpietz, nur ohne Anfassen. Und steht nicht geschrieben, z.B. auf Wikipedia, dass sich im Ringelreigen Überreste alter Opfertänze erhalten hätten? Sind die heftigen Körperbewegungen von Leuten im Moshpit nicht immer schon mit dem Schockeln verglichen worden, der schaukelnden Inbrunst frommer Juden beim Gebet? Lautet nicht eine der Theorien über die mystische Herkunft des Schockelns, dass es den Menschen als flackernde Flamme vorstellt? Und ist man damit nicht fast schon wieder bei der Ikonografie fürs Pfingstfest?

Wer sich ernsthaft sorgt, die jüdisch-christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur könnten in Gefahr sein, muss eigentlich nur in Konzerte mit extremer Musik gesteckt werden. Zur Not gibt es Ohrstöpsel.

 

(c) Peter Richter

Eine kürzere Variante dieses Textes erschien zuerst am 27.5.2015 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung