Potty Parity Talk

Die gesellschaftspolitische Debatte in den USA entwickelt sich zusehends zu etwas, das Kindern im Alter von drei Jahren eigentlich aberzogen wird. „No potty talk, please“ bekommen kleine Amerikaner zu hören, wenn sie ihre Erfahrungsschätze aus dem Erlebnisbereich der Toilette zu ungeniert in den Rest des Alltags tragen. Das Genieren muss ja auch erst gelernt sein, es gehört zu den vielen kleinen Prozessen der Zivilisation.

Wer sich mutwillig dahinter zurückbegibt, hat deshalb immer auch etwas von einem in diesem Prozess steckengebliebenen Kleinkind: Donald Trump betrieb ganz klar Potty Talk, als er es nicht lassen konnte, vor seinen Fans einen Toilettengang von Hillary Clinton zu kommentieren, die während eines Wahlkampf-Duells im Fernsehen nämlich offensichtlich mal gemusst hatte. „Ich weiß, wo sie hingegangen ist“, rief also der mutmaßliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner und mögliche nächste Präsident der USA: „Es ist ekelhaft. Ich will nicht darüber sprechen.“

Mit dieser paradoxen Blüte seiner „Ich sage, wie es ist“-Rhetorik hatte Trump allerdings auf einen Ort hingewiesen, über den sich tatsächlich schwer öffentlich sprechen lässt, obwohl über ihn im Moment erstaunlich oft öffentlich gesprochen werden muss – von Richtern, Politikern, Kirchenführern, Bürgerrechts-Aktivisten, Schulbehörden und Elternverbänden und spätestens seit letztem Wochenende auch von allen anderen. Denn vergangenen Freitag hat die Regierung von Barack Obama in einem Schreiben an sämtliche öffentliche Schulen des Landes verfügt, dass Schülern überall das Recht eingeräumt werden müsse, diejenige Toilette aufzusuchen, die ihrem empfundenen Geschlecht entspricht. Wenn dieses empfundene Geschlecht nicht mit dem übereinstimmt, das in der Geburtsurkunde steht, ist von „Transgender“ die Rede. Von Transgender ist nun seit einiger Zeit sehr viel die Rede in den USA, gemessen daran, dass die betroffenen Personen nach den gängigen Schätzungen gerade einmal 0,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Andererseits sind das auch immerhin 700000, mehr Menschen als Washington, die Hauptstadt, Einwohner hat. Nachdem die zuvor sträflich unterrepräsentiert waren, werden sie jetzt gewissermaßen zum Ausgleich gezielt überrepräsentiert, was auch damit zu tun hat, dass es nicht nur um sie und ihre schwierige Situation in der Gesellschaft geht, sondern auch ums Prinzip, um Politik und um Ideologie.

Wo aber von Transgender so viel die Rede ist, kann von Toiletten schlecht geschwiegen werden. Denn was nun wirklich alle Menschen eint, ist die Notwendigkeit gelegentlich eine aufzusuchen, und öffentliche Toiletten sind nun einmal zugleich der Ort, wo eine klare Entscheidung getroffen werden muss zwischen F und M, Frauen und Männern, Damen und Herren, Ladies und Gentlemen. Welche Tür aber darf ein Gentleman wählen, der sich als Lady begreift, und wo schlägt jemand sein Wasser ab, für den Geschlecht gleich gar keine Rolle mehr spielt? So kommt es, dass im Augenblick das ganze Land Potty Talk betreibt – auf einem manchmal enorm akademischen Niveau allerdings, manchmal auch im hohen Ton der Bürgerrechts-Rhetorik und oft genug einfach als politische Polemik.

Dass in North Carolina ein Gesetz erlassen wurde, das die Frage des Toilettenbesuchs an das in der Geburtsurkunde verzeichnete Geschlecht bindet, hat Klagen wegen Diskriminierung zur Folge, außerdem den Boykott durch etliche Künstler, die in North Carolina nun nicht mehr auftreten wollen, und sogar Firmen, die Investitionen dort auf Eis legen. Der Brief aus Washington an die Schulen des Landes hat über das Wochenende ebenfalls vor allem im Süden und im Mittelwesten scharfe Reaktionen hervorgerufen, die wiederum in den ebenfalls sehr meinungsfreudigen liberalen Sturmgeschützen wie der „Huffington Post“ mit dem Vorwurf der Homophobie gekontert werden. Dabei hat das Argument, das am häufigsten hervorgebracht wird, weniger mit Gender als mit Sex im Sinne von heterosexuell und übergriffig zu tun: Man wolle nicht zulassen, dass Männer mit welcher Begründung auch immer Mädchen auf dem Klo nahekommen.

Ein paar Facebook-Verlinkungen weiter in Deutschland kommt von all dem in der Regel nur ein gut bekopfschüttelbares Kondensat an: schwulenfeindliche Gesetze im Süden der USA, schlimme Reaktionäre im Bible Belt. Man kann da nur vor Selbstgerechtigkeiten warnen: Die meisten der sich links der amerikanischen Demokraten wähnenden Europäer dürften in dem Punkt eher auf dem Stand texanischer Republikaner sein und würden den inzwischen üblichen Sprachgebrauch der Amerikaner wahrscheinlich für ein Thesenpapier aus einem Judith-Butler-Seminar halten: Auch was in der Geburtsurkunde steht und nach dem Willen der Regierung nun nicht mehr den Gang auf die richtige Toilette determinieren soll, wird in der Berichterstattung meistens ganz selbstverständlich nur „assigned gender“ genannt, zugewiesenes Geschlecht. Wenn Europäer sich identifizieren, dann in aller Regel „mit“, mit einem Romanhelden zum Beispiel, das macht aber immer noch deutlich, dass sie mit dem Romanhelden fühlen, ohne mit ihm deswegen identisch zu sein, Amerikaner haben diese Kluft in ihrem Sprachgebrauch geschlossen, sie identifizieren sich „als“. Der ehemalige Athlet Bruce Jenner identifiziert sich als eine Frau namens Caytlin. Die Bürgerrechtsbewegung, an deren Spitze sich die Medien in New York und die Regierung in Washington gestellt haben, will nun sicher stellen, dass er – als sie – sich darin auch ernst genommen fühlen kann und nicht zum Pieseln weiterhin aufs Herrenklo muss.

Die sogenannten „Identity Politics“ haben es aus den Seminarräumen ganz schön weit in die gesellschaftliche Debatte gebracht, es ist daher kein Wunder, welche Rolle sie an den Colleges selber inzwischen spielen. Auf den Medien der amerikanischen Konservativen ist zur Zeit ein Filmchen sehr populär, in dem Studenten der Universität von Washington ausgehend von der Toilettenfrage es auch okay fänden, wenn der Reporter sich als siebenjähriges Kind identifizierte. Nicht sicher sind sie, ob er sich dann auch in die erste Klasse einer Grundschule einschreiben können sollte. Als der Reporter fragt, ob er als weißer Mann auch eine chinesische Frau sein könne, erfährt er: Warum nicht? Nur als er wissen will, ob er bei einer Körpergröße von 1,80 m auch eine 1,98 m große chinesische Frau sein könne, ist die Grenze der Toleranz plötzlich erreicht. Das gehe leider nicht, lächeln die höflichen Studenten, denn das sei offensichtlich Unsinn.

Wer bei dem Film ein wenig an die chinesische Kulturrevolution denken muss, aber trotzdem Caytlin, ehemals Bruce, Jenner nicht dazu verdonnern würde, im Abendkleid vor ein Pissoir treten zu müssen, der darf sich in dieser Debatte gewissermaßen genauso fühlen wie die Transgender-Leute vor der Schultoilette. Könnte also sein, dass es töricht wäre, die amerikanischen „bathroom battles“ nur als Kuriosität wahrzunehmen und nicht als das ferne Grollen von Debatten, die mit kleiner Zeitverzögerung zielsicher immer auch Europa erreichen.

Die Türen amerikanischer Schultoiletten teilen die Welt nicht nur in männlich und weiblich, sondern auch in Sex und Gender, in Konservative und Liberale, in Leute, die der Überzeugung sind, dass die Geschlechter naturgegeben sind, und in Leute, die sie für eine soziale Konvention halten, in solche, die den Common Sense wertschätzen und solche, denen prinzipiell am Überwinden allgemeiner Üblichkeiten liegt. Dass es ausgerechnet Toiletten sind, in denen sich dieser Spalt auftut, mag verblüffend klingen, ist aber kein Wunder. Seit Luther vor 500 Jahren „in cloaca“ aufgegangen war, dass nicht aktive Taten, sondern nur göttliche Gnade zur Erlösung führen, ist von diesem Ort kein so grundlegendes Schisma mehr ausgegangen. Dass das Luther’sche Plumpsklo heute in Wittenberg als ein heiliger Ort des Protestantismus besichtigt werden kann, wird Amerikaner im Zweifel in dem alten Ressentiment bestärken, wonach die Deutschen kollektivpsychologisch in jeder Hinsicht anal fixiert seien, angefangen bei der vergleichsweise großen Rolle, die Exkremente in der Sprache spielen, über die Braunhemden der Nazis bis hin zum Austeritätskurs in der Eurokrise, der durchaus auch als ein geradezu neurotisches Nichtloslassenwollen (nämlich deutschen Geldes) kommentiert wurde.

Solche Zuschreibungen fallen aber immer auch auf den zurück, der sie äußert, und tatsächlich muss man den Amerikanern zumindest eine erstaunliche Obsession mit dem Ort attestieren, den Menschen aufsuchen, um sich zu entleeren. Dass beginnt schon damit, dass diese Primärfunktion des Raumes sprachlich bis zum Verschwinden verschleiert wird.

Auch eine Toilette tut zwar in vornehmem Französisch so, als werde sie aufgesucht, um die Garderobe und die Frisur zu richten, aber Garderobe und Frisur richten findet dort am Ende immerhin meistens auch noch statt. Das Wort hat sich nur derart von seiner Ursprungsbedeutung in Richtung Klo emanzipiert, dass die Frage nach den „toilets“ in Amerika bereits als vulgär empfunden wird. Wer dort nach dem „bathroom“ fragt, hat in der Regel weder vor noch überhaupt die Möglichkeit, sich eine Wanne einzulassen. Auch ein „Restroom“ wird selten aufgesucht, um sich aufs Ohr zu legen. Das sind aber die gesellschaftsfähigen Euphemismen. Ein Bathroom kann durchaus auch tatsächlich ein Bad sein, aber es ist immer eine Toilette, und davon kann man nicht genug im Haus haben: Amerikanische Immobilienanzeigen rechnen immer sowohl in „Bedrooms“ als auch in Bathrooms, vier Zimmer mit nur einem Bad gelten als schwer vermietbar,

bei mehr Bädern als Schlafzimmern wird es akzeptabel.

Eine amerikanische Spezialität ist außerdem der Hang, den Alltag mit rigiden Gesetzen durchzuregeln. So kam es 1990 in Texas zur Verhaftung von Denise Wells, die angesichts einer Warteschlange von 30 Frauen vor der Damentoilette bei einem Konzert kurzerhand zu den Herren ging. Aus den Protesten, die darauf folgten, ergab sich das texanische „Potty Parity Law“, wonach bei Neubauten oder Renovierungen grundsätzlich zweimal soviele Damen- wie Herrentoiletten geplant werden müssen, was allerdings ein architektonisches Problem darstellt, denn die entsprechenden Trakte sind aus Gründen der Symmetrie oft gleich groß.

Radikale Feministinnen wie Laurie Essig oder Mary Anne Case halten ohnehin selbst das, was man in amerikanischen Gesetzgebungsorganen als „potty parity“, also Gleichheit vor dem Pott, bezeichnet, für nicht ausreichend, weil es die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen fortschreibe. Die aber sei Case zufolge nun einmal ohnehin nur eine Fiktion, auch wenn sie den Statistiken, wonach Männer aus anatomischen Gründen etwas weniger Platz und Zeit auf Toiletten benötigen und sie oft auch unsauberer zurücklassen, immerhin den Realitätswert eines Ärgernisses zubilligt. Die Geschlechtertrennung müsse genauso überwunden werden wie einst die Rassentrennung, denn „separate“ sei eben nicht „equal.“ Der „feministische Fundamentalismus“, zu dem Case sich bekennt, kann letzte Bastionen der Exklusivität wie die Herrentoilette schon aus Prinzip nicht dulden und würde dafür auch die Exklusivität der Damentoilette opfern, selbst wenn viele Frauen beiderlei Geschlechts das nicht besonders begeistern dürfte. Fundamentalismus ist nun einmal Fundamentalismus. Ihr Gegenangebot ist die Exklusivität der geschlechtsneutralen Einzelkabine mit Waschbecken darin wie im Flugzeug oder zuhause. Für die Dünnbiertrinker in einem Footballstadion zur Halbzeitpause sind das sicher ernüchternde Überlegungen.

In New York ist das allerdings ohnehin eher der Normalfall. Dem Kampf gegen die Zweckentfremdung für Drogeneinnahme und Geschlechtsverkehr ist zuerst die Uneinsehbarkeit der Kabinen zum Opfer gefallen und schließlich die öffentliche Toilette als solche. Wer in New York mal muss, muss zu Starbucks oder in die Kneipe. Damit unten was raus kann, muss – for customers only! – oben immer auch was rein. Und in den meisten Lokalen gibt es für sämtliche Kunden sowie Angestellten exakt ein einziges Toilettenbecken; in der Schlange davor sind endlich wirklich alle sehr, sehr gleich. Es ist ganz einfach eine Frage des Platzes, denn Platz ist Geld in New York.

Das wiederum ist aber das Fachgebiet von Donald Trump, der im amerikanischen Bathroom-Krieg schon deswegen kein ganz lupenreiner Mann der Konservativen sein kann. Die Frage, welche Toilette Bruce Jenner denn im Trump Tower benutzen dürfte, beantwortete er vor ein paar Wochen jedenfalls mit: „Welche sie will.“

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst unter dem Titel „Örtchen der Wahrheit“ am 20.5.2016 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.