Sinatras Schatten: Besuch bei Gay Talese

Es regnet, als die Haushälterin die Tür öffnet, auf die Clubsofas im Wohnzimmer weist und um Geduld bittet: Der Mann, mit dem Frank Sinatra vor fünfzig Jahren nicht sprechen wollte, ist jetzt in einer ähnlichen Situation – selber berühmt, selber im Stress. Unter anderem liegt das daran, dass Gay Talese, jetzt 83 Jahre alt, damals einfach trotzdem über Sinatra schrieb, und es wurde das berühmteste Porträt, das je über eine Person verfasst wurde. Der Text gilt nicht nur dem „Esquire“-Magazin, wo er im April 1966 erschienen war, heute als der beste in der Geschichte des Heftes; Generationen von amerikanischen Journalisten haben ihm seitdem hinterher geschrieben, was nachvollziehbar ist, aber tückisch: Nicht jeder, der gern singt, ist ein Sinatra, und nicht jeder, der schreibt, kann das so gut wie Gay Talese. Macht das wiederum Talese zum Sinatra der Buchstaben? Seinen Zeilen wohnt jedenfalls ein strenger Wille zum Melodischen inne. „Frank Sinatra has a cold“ war ja nicht nur der Titel der Geschichte; das war der Satz, mit dem Talese seinen Einstieg herunterkadenzierte als sei es Musikstück. Wenn man das schlecht imitieren wollte, müsste ungefähr an dieser Stelle des Textes stehen: Gay Talese kommt zu spät.

Er hat noch in der Redaktion von „Esquire“ zu tun, weil der Taschen Verlag das Porträt zu Sinatras 100. Geburtstag jetzt in einer Luxusausgabe neu heraus bringt, mit Sinatra-Photos von Phil Stern und Material aus dem Archiv. Und es regnet. Und Regen bringt in Manhattan den Verkehr zum Stillstand. Und als er dann endlich doch da ist und den tropfenden Hut abnimmt, ohne den er sich so gut wie nie fotografieren lässt, sagt Talese, dass er eigentlich gleich schon wieder weg müsse zum nächsten Termin. Talese will die Verspätung wieder gut machen und redet daher umso vehementer gleich von selber los. Er fängt mit dem „bemerkenswerten Business“ an, das der Herr Taschen da betreibe: „Ich meine, ein paar gute Schuhe können dich tausend Dollar kosten, ein ordentlicher Anzug kostet vier- bis fünftausend, ich weiß das.“ Gay Talese, muss man dazu sagen, wird in New Yorker Magazinen auch oft als Koryphäe für ausgewählte Garderobe herangezogen. „Aber ich wusste nicht, dass Bildbände für ein paar hundert Dollar so eine große Abnehmerschaft haben.“ Vom Taschen-Verlag kommt er auf Köln und von dort auf Frankfurt, wo er 1955 als Leutnant der U.S. Army stationiert war. Anschließend ist er in Rom, wo er geheiratet hat „in dem Sommer, in dem Fellini dort ,La dolce vita’ drehte“. Insgesamt war er eigentlich überall schon mal, sagt Talese, „außer in Afrika.“ Aber darüber zu schreiben, wie ein Auslandskorrespondent, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. „Das hätte ich gehasst. Ich wollte auch nie Politjournalist in Washington sein. Hätte ich auch gehasst. Das letzte, was du willst, ist doch, über Tagesaktuelles zu schreiben. Was heute aktuell ist, ist morgen von gestern. Ich wollte nie auf die Titelseite, ich wollte auf Seite 38 mit einer Geschichte über irgendeine vollkommen obskure Person. Ich wollte Schriftsteller sein in der Presse, kein Reporter. Ich wollte Short Stories schreiben. Aber nicht Geschichten, die aus der Phantasie des Autors stammen, sondern aus der Wirklichkeit.“

Es gibt in dem Sinatra-Text eine Szene, in der Talese beschreibt wie der alternde, etwas vergnatzte Sänger einen jungen Burschen herunterputzt, der ihm aber Stand hält. Das ist auch psychologisch viel dramatischer als jedes Duell in einem Roman, das letztlich durch die knetende Gnade des Schreibers entschieden wird, weil hier Sinatra schon ganz alleine und eben in der unbarmherzigen, nachprüfbaren Wirklichkeit sehen muss, wie er aus der Sache wieder raus kommt. Aber Talese weiß natürlich, dass sich literarischer Rang für viele Kritiker und Leser bis heute eher am Grad der Ausgedachtheit bemisst, an Nichtübereinstimmung mit dem Tatsächlichen. Nicht einmal er hat die wunderliche Ansicht aus der Welt räumen können, wonach „Fiction“ automatisch eine höhere Form des Schreibens sei als „Non-Fiction“. Er hat es sogar selber mal damit versucht. In dem Jahr, in dem sein Sinatra-Text herauskam, erschien auch eine fiktive Kurzgeschichte von ihm in Mademoiselle, einem Frauenmagazin, in dem auch Truman Capote oft veröffentlichte. „Die schrieben mir einen lieben Brief, dass sie gern mehr davon hätten. Aber Non-Fiction zu schreiben, kam mir ehrgeiziger vor. Short Stories schreiben viele. Oder Romane. Oder Stücke. Ich wollte den Journalismus auf die Höhe der Literatur heben.“ Es sei schon exakt das, was Kollege Tom Wolfe (nicht Taleses engster Freund, aber demnächst trotzdem der Ausrichter eines Dinners ihm zu Ehren) mit „New Journalism“ gemeint habe. Talese hat sich von dem Begriff aber trotzdem später meistens distanziert, weil er mit den vielen Adepten nichts zu tun haben wollte, die aus kreativem Überehrgeiz den Spieß oft einfach umdrehten und frei Erfundenes als Reportage verkauften. Er selbst muss sich heute immer mal wieder dafür rechtfertigen, dass er in seinem Sinatra-Text Zitate aus anderen öffentlichen Quellen einstreut hat, ohne das extra dran zu schreiben, weil dieser Bürokratismus ihm den Flow, den Sound, die Musik kaputt gemacht hätte. Dafür hat er andere Standards, bei denen er pingelig ist. Etwa: Niemals über jemanden schreiben, der seinen richtigen Namen „nicht in der Zeitung lesen will“. Als nächstes wird er für den New Yorker einen Voyeur porträtieren, den er seit dreißig Jahren kennt, der aber jetzt erst eingewilligt hat, aus der Anonymität zu treten.

Und Sinatra? Wenn man nun endlich auf den Mann zu sprechen kommt, den Talese seinerseits wochenlang beschattet hat wie ein Voyeur, ohne mit ihm zu reden: Dann fängt er zunächst einmal von seinem Vater an, der 1921 aus Süditalien in die USA kam und ein Schneider in Ocean City war. Und davon wie seine Onkels zehn Jahre später aber alle mit Mussolini an der Seite Hitlers kämpften. Wie die Italiener in Amerika in diesem Loyalitätskonflikt oft ihre Sprache dran gaben. Und wie er selbst als kleiner Junge in einer protestantischen Kleinstadt in New Jersey zwischen den Stühlen saß, bis er nachts im Radio Frank Sinatra singen hörte: einen Italoamerikaner, der nicht einmal seinen Namen geändert hatte wie so viele andere – Dean Martin, ehemals Dino Paul Crocetti, zum Beispiel – und der Erfolg hatte, und zwar bei allen Amerikanern, nicht nur bei denen aus Italien.

Es gibt Orte in den USA, so klassische Einwandererviertel wie Brooklyn gehören dazu, an denen der Name Sinatra heute noch mehr Strahlkraft zu haben scheint als selbst der von Elvis.

Tja, Elvis, seufzt Talese. Der Elvis habe halt den amerikanischen Süden repräsentiert. Sicher, auch der ein großer Star. Jeder wisse, wer Elvis ist. „Aber Sinatra war vielseitiger, auch besser als Schauspieler, und er war politisch aktiv. Die meisten Künstler und Sportler werden in Amerika politisch nicht aktiv, weil jemand, der in diesem Land von allen gemocht werden will, in der Regel Angst hat, sich zu eindeutig auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Nicht so Sinatra.“ Der Kennedy-Kumpel. „Sinatra war Sinatra“, sagt Talese. „Ich habe nie mit ihm gesprochen, aber ich kannte seine Story: Er war aus New Jersey, ich bin aus New Jersey.“

Sinatra wollte nicht reden, er war prinzipiell verschnupft. Aber Talese wollte auch nicht. Keine Neugier auf den Mann, hat er hinterher mal bekannt. Stattdessen ließ er schon gleich in einem der ersten Absätze die Frau durchs Bild marschieren, die Sinatra die für 400 Dollar pro Woche in einem Köfferchen die Toupets hinterhertrug.

Kann es sein, dass Sie Sinatra nicht besonders mochten, Herr Talese?

„Ich muss jemanden nicht mögen, um ihn zu respektieren!“

Aber es klingt fast, als wären Sie sauer gewesen.

„Ich wollte die Geschichte gar nicht machen! Er war viel zu bekannt. Ich habe Ihnen doch eben schon gesagt: Ich wollte über Unbekannte schreiben. Nächstes Jahr haben wir hier eine Präsidentenwahl, meine persönliche Vorstellung von Hölle wäre es, über Frau Clinton oder Herrn Trump zu berichten. Ich wollte nie über Berühmtheiten schreiben. Höchstens, wenn sie auf dem absteigenden Ast sind. Sinatra hatte aber gerade ein Comeback gehabt. Sinatra war der berühmteste Berühmtheit.“

Die Redaktion von Esquire hatte ihn aber angehalten, stattdessen eben mit allen anderen über Sinatra zu reden. Das hat Talese getan, vier Wochen lang, mit über hundert Leuten aus Sinatras Umgebung. Der Rest hat dann noch mal sechs Wochen gedauert. Ordnen, Schreiben, Verwerfen, Neuschreiben. Taleses Vertrag mit Esquire verlangte nicht mehr als sechs Texte pro Jahr. Dafür bekam er aber damals schon mehr als viele, die sechs Texte am Tag wegschreiben müssen, heute.

Kurze Unterbrechung, um die heimkommende Ehefrau zu begrüßen, die Verlegerin Nan Talese. Sie grüßt, klagt fröhlich über das Mistwetter und geht nach oben. Talese schaut ihr nach. 56 Jahre verheiratet. Noch länger wohnhaft hier in diesem Townhouse auf der Upper East Side. Er hat es sich Etage für Etage erworben, man könnte auch sagen: zusammengeschrieben. Vielleicht ist das also jetzt der Augenblick, an sein schlechtes Gewissen wegen der Verspätung appellierend um Einblick ins Allerheiligste zu ersuchen.

Also gut, sagt Talese, er greift nach dem Hut. „Gehen wir noch kurz in den Keller.“

Man muss erst auf die Straße zurück, durch eine zweite Gartentür und eine kleine Treppe herab, dann ist da der lange, fensterlose Schlauch, in dem Talese seit jeher schreibt.

Eigentlich immer noch ganz klassisch auf der Schreibmaschine?

„Immer noch zunächst einmal per Hand! Geht sonst zu schnell. Wird nicht sorgfältig genug.“

Mit der Maschine werden nur jeden Abend vorm Schlafengehen die Recherchen und Interviews zusammengefasst. Die Unterlagen liegen bis heute in Kisten, die von Talese eigenhändig mit hannahöchartigen Collagen beklebt werden. Ob man bitte mal die Kiste mit den Sinatra-Bildern herunterheben könne, vorsichtig bitte. Da: das Originalmanuskript. Und da die Notizen.

Stimmt es, dass er seine Gespräche niemals mitschneidet und fast nie mitnotiert? Kommt alles aus der Erinnerung? In seinen eigenen Worten? Wieviel Talese steckt dann sogar in den Zitaten seiner Gegenüber?

Talese hat den Hut wieder abgenommen und schüttelt den Kopf wie über eine falsch gestellte Frage: „Wenn ich eine Antwort bekomme, die ich nicht gut genug finde, stelle ich die Frage notfalls zehn Mal und sage jedes Mal: Das kannst Du besser.“

Redigieren im Kopf der Gesprächspartner?

„Oh, ich mache sie zu Partnern. Du musst Ihnen zu zeigen, dass du sie verstehen willst und anderen verständlich machen. Es ist eine Partnerschaft für Profis.“

Er reicht Tafeln heran, auf denen mit farbigem Stiften der Bauplan der Geschichten skizziert wurde. Er denke in Szenen, sagt er. „Wie ein Regisseur: Sinatra sitzt in einer Bar. Sinatra hat eine Auseinandersetzung. Sinatra geht zu einem Boxkampf. Sinatra geht ins Studio. Vier große Szenen. Was wichtig ist: Ich habe es GESEHEN. Ich habe es mir nicht vorgestellt. Ich sah Sinatra in der Bar. Ich habe ihn nicht gesprochen, aber ich sah ihn.“ Ob man die Kiste nun wieder hochstellen könne. Bitte mit der Sinatra-Zeichnung aus „Esquire“ nach vorne. Danke sehr. Etliches daraus ist nun auch in dem Band von Taschen abgebildet.

Es gibt zwei große Computerbildschirme in diesem Keller, aber es macht den Eindruck, dass sie eher für den Notfall da stehen, so wie die Küche, das Bad, das Bett und die kleine Bar. Man kommt auch nicht weit, wenn man fragen will, ob eine derart couturierhafte Art des Schreibens noch eine Zukunft haben kann, wo doch heute mit dem Internet… „Internet?“, fährt Talese dazwischen, und dann hängt er aus dem Stand eine Tirade dran, als hätte er zehnmal bei sich selber nach der grundsätzlichsten Generalantwort zum Thema Digitalisierung nachgefragt: „Ich schenke dem Internet gar keine Beachtung. Meine Arbeitsweise hat sich kein bisschen geändert seither. Regel Nummer eins bleibt: Man muss persönlich hingehen. Man kann es nicht googlen oder über das Telefon erledigen. Man muss hingehen, die Dinge persönlich in Anschauung nehmen, mit jemandem reden, Augenkontakt haben dabei. Viele Leute sind zu faul und wollen es mit Emails erledigen, zur Not von Deutschland aus. Und dann jammern sie: Ich kann mir den Flug nicht leisten. Aber man muss. Man muss persönlich da sein. Sonst wird es nicht gut. Es geht um Qualität. Mich kümmert nicht mal, wenn es der Wirtschaft schlecht geht. Es gibt immer Luxusgüter, die sich verkaufen. Nicht unbedingt an besonders viele Leute. Aber es wird immer einen Verlangen nach Qualität geben.“

Als er geendet hat, kommt der Hut wieder auf den weißen Schopf. Gay Talese muss zu seinem nächsten Termin, irgendwo in der 71st Street. Draußen immer noch Regen. Schließlich endet es so, wie in seiner Sinatra-Geschichte, wie in so vielen Geschichten, wie eigentlich immer im Leben: Man selber lächelt noch, und er ist weg.

Dann schickt man tags drauf allerdings doch noch eine Email mit ein paar Nachfragen hinterher – und die Antwort kommt schon gespenstisch wenige Minuten später. („The Lucky Strike Hit Parade“ hieß die Radiosendung, in der er Sinatra hörte. Aber nein, Platten von ihm hat er sich nicht gekauft.)

 

Gay Talese / Phil Stern: Frank Sinatra Has A Cold. TASCHEN 200 Dollar

 

PETER RICHTER

Eine kürzere Version dieses Textes erschien zuerst am 14.11.2015 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung