Nach dem Wochenende, an dem der Abgasbetrug von VW bekannt geworden ist, steht auf einmal das Auto mit eingeschlagener Heckscheibe in Brooklyn auf der Straße. Dabei ist es noch nicht mal ein Volkswagen. Ein deutsches Fabrikat zwar, das schon. Allerdings in den USA gefertigt. Oder endmontiert. Man blickt bei den Autos heute ja nicht mehr durch. Aber dann hatte offensichtlich jemand zumindest mal reinschauen wollen in das Auto und drei kapitale Löcher in das Fenster gehackt.
Eine Attacke von germanophoben Umweltschützern?
Die besondere Gemeinheit an Akten des Vandalismus besteht darin, dass der Betroffene hinterher mit der Sinnlosigkeit klar kommen muss und sich deshalb lieber die abstrusesten Gründe zusammenreimt.
Der erste Passant, den man in Brooklyn fragen kann, hat gleich ganz andere Assoziationen: „Gunshots?“, Pistolenkugeln?
Wie lange der Wagen hier schon gestanden habe.
„Drei Tage? Oh boy, in drei Tagen kann ein ganzer Bandenkrieg passiert sein.“ Es ist, als würden ihn die Glassplitter an goldene Jugendjahre erinnern.
Der Mann ist allerdings auch schon älter, Italoamerikaner, für den war Brooklyn immer noch ein Schlachtfeld, jede Straßenzug eine Front in zähen Territorialkämpfen. So steht man mit ihm auf der 16th Street, Höhe 6th Avenue, und schaut feldherrenhaft nach links und rechts. Manche sagen, das ist gerade noch südlichstes Park Slope. Andere finden, es sei schon eher der Nordrand Lateinamerikas. Vor allem finden das die knurrigen Ureinwohner, deren Vorfahren wiederum meistens aus Italien und manchmal auch aus Irland kamen, nachdem diese Straßen hier von den Holländern an die Engländer gefallen waren. Nur von den eigentlichen Ureinwohnern ist keine Rede mehr.
In Dresden und Umgebung, wo Karl May einst den Winnetou erfand, würden sich die Anhänger von Pegida aller Wahrscheinlichkeit nach mit den verschwundenen Indianern identifizieren. Wenn der Rest von Deutschland aber jetzt wirklich das vorbildlichste Einwanderungsland Europas werden möchte: Was könnte es in Brooklyn, im größten Einwandererstadtteil des größten Einwanderungslandes der Welt, eigentlich so alles lernen?
Zum Beispiel dies: Dass die amerikanische Realität oft das exakte Gegenteil ist von deutscher Romantik.
Brooklyn hat heute 2,6 Millionen Einwohner, deren Wurzeln zu hundert Prozent irgendwo anders liegen, und die zum Teil recht hartnäckig an ihrer Fremdheit festhalten, wie das bei Botho Strauß heißen würde. Führt das zwangsläufig zum Kampf der Kulturen, zum „Clash of Civilizations“? Wenn ja, dann läuft der hier aber im Moment genau anders herum ab, als das Samuel Huntington in seinem gleichnamigen Pamphlet vorausgesagt hat: Das angelsächsische Nordamerika mit seiner protestantischen Erfolgsethik wird hier nicht verdrängt, im Gegenteil, es hat hier in den letzten zehn, zwanzig Jahren überhaupt zu ersten Mal wirklich Fuß gefasst und frisst sich nun Straße für Straße in die Welten der angestammten katholischen, jüdischen, muslimischen Minderheiten hinein. Man nennt diesen Prozess auch Gentrifizierung. In der 16th Street, wo die Autoscheibe eingeschlagen wurde, kosten die Einfamilienhäuschen inzwischen auch schon eher 2 Millionen Dollar als nur eine.
Bei der nächstbesten Autoglaserei, ein paar Blocks Richtung Hafen, erzählt einem der Inhaber als erstes, dass er sein Geschäft hier schon betrieben habe, als das noch der Straßenstrich von Brooklyn war, „alles voll von hookers und pimps“, Nutten und Zuhältern. Und auch bei ihm kann man schwer sagen, ob da der Stolz des Zeitzeugen überwiegt oder die Wehmut, dass es heute hier nicht mehr so viele Scherben gibt wie damals. Als zweites sagt er dann, er heiße Joe. Joe, der Glaser – das ist natürlich wundervoll, weil „Joe, der Klempner“ in amerikanischen Wahlkämpfen ein feststehender Begriff für den gebeutelten Mittelstand ist. Und drittens wünscht Joe überhaupt erstmal ein frohes neues Jahr.
Hinter Joe daddelt in einem alten Sessel ein Kollege auf dem Telefon herum und hat dabei seine Kippa so lässig in die Stirn geschoben, als wäre es eine Kappe der Brooklyn Nets auf dem Haupt von Jay Z. Damit sie ihm nicht ganz herunterrutscht, quittiert er die Gegenglückwünsche mit einem wirklich nur ganz minimalen Nicken.
Das mit dem „Guten Rutsch“ kann im Herbst in Brooklyn tatsächlich so anstrengend werden wie woanders zu Silvester. Eine Woche davor waren wegen Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, erst zwei Tage lang die Schulen geschlossen gewesen. Für ein paar Millionen berufstätige New Yorker ist so etwas immer eine klitzekleine Herausforderung, denn arbeitsfrei ist in den allermeisten Firmen nicht, und wer seine Kinder unbeaufsichtigt lässt, wird von der Polizei verhaftet. Wen der Feiertag nicht betrifft, nimmt daher am besten frei und fährt weg. Damit entgeht er auch am ehesten der Gefahr, mit der Parkordnung durcheinanderzukommen, was immer teuer ist. In New York läuft das nämlich folgendermaßen: Einmal pro Woche steht jede Straßenseite zur Reinigung an, dann müssen die Autos dort für anderthalb Stunden weggefahren werden, denn dann will die Kehrmaschine durch sowie, hinter der Kehrmaschine lauernd herfahrend, eine Politesse in Casinolaune. Die Stadt lebt zu einem beträchtlichen Teil von den hier anfallenden Einnahmen. Wer nicht rechtzeitig umparkt, zahlt 45 Dollar. Wer nicht rechtzeitig (oder zu früh) zurückparkt, zahlt ebenfalls (oder nochmal) 45 Dollar. 45 Dollar werden allerdings auch dann fällig, wenn man beflissen umparkt, aber das Umparkgebot wegen eines Feiertags ausgesetzt ist, worauf man sich aber auch wiederum nicht immer verlassen kann. Nun kommen zu den christlichen Feiertagen wie Ostern und Weihnachten noch all die patriotischen: Columbus Day, Memorial Day, President’s Day und soviele weitere Sonstwas-Days, dass man fast schon wieder das Gefühl hat, in Bayern zu sein, feiertagemäßig. Die Juden New Yorks haben aber auch ein paar „holy days“, an denen sie Besseres zu tun haben, als ihre Autos zu rangieren, und die häufen sich im Herbst.
„Morgen ist Jom Kippur, Joe.“
„Wer wüsste das besser als ich“, sagt Joe.
„Wir wollen wegfahren, das Auto wird gebraucht, ist das heute noch zu schaffen mit der neuen Scheibe?“
Eine Ersatzscheibe hätte er da, die sei aber „Made in Mexico“, sagt Joe, oder „Made in China“, eins von beidem, amerikanische Jobs gingen ja jetzt alle nach China oder Mexiko. Er klingt ein bisschen Donald Trump in dem Moment. Eine originale Scheibe, also eine amerikanische vom deutschen Hersteller, die könne man übermorgen haben.
„Übermorgen ist aber schon wieder so ein Feiertag, da wollen wir auch wegfahren.“
Joe schaut auf den Kalender und staunt. Tatsächlich: Eid-Al Adha, Opferfest.
Dafür könne er ja nun nichts. „Muslim holiday.“
Etwa zwei Prozent der Menschen in und um New York City sollen Muslime sein. Denen hat Bürgermeister Bill de Blasio (katholisch; Vorfahren Italiener und Deutsche) in diesem Jahr auch erstmals einen Feiertag in den Rang der Schul- und Kehrmaschinenfreiheit erhoben. Das islamische Opferfest nicht auf dem Schirm haben, kostet in New York, wenn man Pech hat, ab sofort ebenfalls 45 Dollar. Dabei wird die Geschichte von dem Mann, der erst seinen Sohn schlachten soll und dann doch stattdessen einen Ziegenbock nehmen darf, auch den jüdischen und den christlichen Kindern erzählt. Das Ganze ist also eine sehr newyorkerische Version von Lessings Ringparabel.
Tom Hanks ruft in dem neuen Spielberg-Film „Bridge of Spies“ an einer Stelle: „Was macht uns denn alle zu Amerikanern? Die Verfassung!“ Bis man aber der Verfassung seine Treue schwören und Amerikaner werden darf, ist man, und das heißt wirklich so, ein „resident alien“. Ein ortsansässiger Fremder. Auch für Aliens gilt das überwölbende Gesetz, es drückt sich im Alltag nur etwas weniger pathetisch aus: in Form von Strafzetteln oder als schiere Einsicht in Notwendigkeiten.
Jeder Blick in die U-Bahn zur Stoßzeit erzählt einem dieselbe Geschichte: orthodox jüdische Strenggläubigkeitsmaximalistin mit Glatze unter der Perücke direkt neben Koranschüler im Kaftan und der direkt neben der tätowierten Burlesktänzerin, die mal ein Mann war, und die wiederum neben dem Gangstarapper-Darsteller, der mit der einen Hand im Schritt rumkniepert und mit der anderen Verwünschungen gegen „Crackers“ in sein Smartphone tippt. (Crackers ist ein Schimpfwort von der Güteklasse wie Nigger, nur umgedreht, von Schwarzen für Weiße, welche die Preise in Brooklyn hochtrieben, allesamt schwul seien, sehr kurze Penisse hätten… Für Details bitte mal die Rubrik „Rants and Raves“ auf den New Yorker Seiten von Craigslist.com konsultieren.)
Wie wahrscheinlich ist es, dass die alle sich mögen?
Gegenfrage: Müssen sie denn?
Sie müssen klar kommen in der Enge des Wagens. Wenn sie sich an die Gurgel gingen, hätte jeder noch weniger Platz. Wenn sich alle um den Hals fallen wollten, allerdings auch.
Denn es würde niemand im Ernst behaupten wollen, dass sich alle hier in ihrer jeweiligen Andersartigkeit durchgängig immer nur als Bereicherung empfinden. Man kann noch nicht einmal sagen, dass die Skepsis gegenüber Muslimen in Brooklyn soviel geringer wäre als im Rest von in Amerika, und es hat sicher nicht geholfen, dass die drei Jungs, die sich dieses Frühjahr dem Islamischen Staat anschließen wollten und vorher hochgenommen wurden, in Brooklyn zu Hause waren. Aber veranstalten die irischstämmigen 9/11-Feuerwehrmänner aus Windsor Terrace bedrohliche Abendspaziergänge vor die Häuser der Moslems aus Bangladesh im benachbarten Kensington? Gehen Brooklyns Vollbart-Veganer gegen die genausobärtigen Männer vor, die am Vorabend von Jom Kippur Hühner über dem Kopf herumschleudern, um so ihre Sünden auf die Tiere abzuladen. Und machen die Latinos einen Aufstand, denen diese sündenbeladenen Hühnchen dann zum Verzehr angeboten werden, weil Latinos schließlich ohnehin dauernd Huhn essen und außerdem Katholiken sind? Wird über die kulturellen und ethnischen und religiösen Gräben hinweg beleidigt mit Steinen und Brandflaschen geworfen?
Nicht, dass es das hier nicht auch schon gegeben hätte. Die schweren Auseinandersetzungen zwischen den karibischen Schwarzen und den orthodoxen Juden in Crown Heights in den Achtzigern sind schon deswegen unvergessen, weil bis heute jeder Taxifahrer auf dem Eastern Parkway extralangsam fährt: Da beide Communities längst gelernt haben, auf ruppige Art und Weise aneinander vorbei zu leben, hat die immer noch üppig dort positionierte Polizei viel Zeit, auf Raser zu achten.
Auf zur Not ruppige Art aneinander vorbei zu leben – ist das vielleicht schon das ganze Geheimrezept? Auf diese Weise entfällt immerhin die postkoitale Frustration. Wenn man dem Alltag von Brooklyn eines wirklich nicht vorwerfen kann, dann dass er an einen ökumenischen Kirchentag erinnern würde. Das, was man da sieht, erfüllt fast alle Erwartungen, die man an den kaltschnäuzigen Pragmatismus nur haben kann, den man Amerikanern gerne nachsagt. Gleichzeitig sagt man ihnen allerdings auch nach, große Erfinder von besonders herzwärmender Ermunterungsrhetorik zu sein. Stimmt ebenfalls. Widerspruch? Vielleicht auch nur Dialektik.
„Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten“, steht seit 1903 als Inschrift auf der Freiheitsstatue, die aus dem Hafenbecken von New York eigentlich eher auf Brooklyn als nach Europa zu schauen scheint. Das war aus einem Sonett der früh verstorbenen Dichterin Emma Lazarus entnommen und verhielt sich zur tatsächlichen Lage schon damals ungefähr so wie heute ein Hollywoodfilm zu dem, was in der Zeitung steht. Denn amerikanische Zeitungen bestehen oft noch ganz altmodisch auf striktester Trennung zwischen Nachricht und Kommentar und überlassen Pathos und Predigt eher dem Kino und der Kirche. Die Inschrift auf der Freiheitsstatue ist ja auch deshalb so berühmt geworden, weil in der Realität zu ihren Füßen die meiste Zeit über geradezu planmäßig das exakte Gegenteil betrieben wurde.
Die Realität war die Immigranten-Quarantäne auf Ellis Island. Die Realität war eine Politik, die Einwanderer nach den Bedürfnissen des Landes zu filtern versuchte. Und die Realität war vor allem eine öffentliche Meinung, die ganz speziell die armen und müden Massen als Unrat betrachtete, deren Religion und Kultur nicht ins Land passten. Das betraf damals vor allem die Iren und die Italiener, und die Juden betraf es auch. Aber sie alle haben sich festgesetzt und speziell Brooklyn zu ihrer jeweiligen Hochburg werden lassen. Vielleicht, wer weiß, hat ihnen der Umstand, dass sie eben nicht so besonders willkommen waren, auf dem Weg dahin besonders Beine gemacht.
Die größte Immigrantengruppe von allen damals war allerdings weitgehend wohlgelitten. Dafür spielt sie heute kaum noch eine Rolle.
3,4 Millionen New Yorker haben mal deutsch gesprochen; es war die drittgrößte deutschsprachige Stadt nach Berlin und Wien. Der deutschstämmige Autor Erik Kirschbaum fragte neulich in der New York Times: „What happened to German America?“ Und die drei Antworten lauteten, natürlich, Weltkrieg Nummer eins, Weltkrieg Nummer zwei sowie „I pledge allegiance to ze flag of ze United States of America“. Also Schande, Scham und Flucht in die Assimilation.
Der Politpsychologe Manfred Koch-Hillebrecht schildert in seinem schönen Buch „Die Deutschen sind schrecklich. Geschichte eines europäischen Feindbildes“ wie sich nach 1914 auch in den USA das Image der Deutschen von „bisschen gefräßig, aber fleißig“ allmählich in „neurotisch geltungssüchtig“ drehte. Die Deutschen, die im Sommer 2015 jubelnd an den Bahnhöfen standen, werden es vermutlich als Ungerechtigkeit empfinden, dass sie aus der Ferne mit den Deutschen, die im Sommer 1914 jubelnd an den Bahnhöfen standen, zu einem Volk mit katastrophalen Gefühlsschwankungen zusammendampfen. Aber viele Kommentatoren konnten gar nicht glauben, dass das wirklich die Deutschen sollen, die da jetzt so reagieren. Und bang schwang immer die Frage mit, ob das nicht auch alles wieder in sein ungemütliches Gegenteil umschlagen kann. Was es ja, wie man in den Wochen seither sehen darf, mit Karacho zu tun scheint. Wer sich in Amerika überhaupt für das Zeitgeschehen im Ausland interessiert, bekam in so schnellem Wechsel Deutsche mit Blumen und Deutsche mit Brandflaschen präsentiert, dass es aussah, als herrschte in der Bundesrepublik ein Bürgerkrieg. Umso gespannter wird in den USA jetzt beobachtet, was mit der ja doch recht stattlichen Zahl von Flüchtlingen konkret passieren soll, die nun einmal zwischen diese innerdeutschen Fronten geraten sind. Die Amerikaner sind sich beim Thema Immigration schließlich selber, vorsichtig ausgedrückt, uneinig.
Konservative finden, wie ihr derzeit populärster Lautsprecher Donald Trump, die Flüchtlingspolitik von Angelika Merkel „irrsinnig.“ In den Zeitungen und Magazinen der Gegenseite lobten sie ein wenig verblüfft den moralischen Ehrgeiz der Deutschen. Andererseits hatte Jon Stewart in einer der letzten Ausgaben seiner „Daily Show“ im Sommer daraus noch einen sicheren Lacher gemacht: Wenn einen ausgerechnet die Deutschen über Moral belehren, dann müsse man es wirklich nötig haben. Und da ging es noch lediglich um die Zahlungsmoral von Griechenland. Da summte bei VW der Diesel noch.
Und jetzt das.
Der VW-Skandal habe Berlin von seinem hohen moralischen Ross in die Sphären der Normalsterblichen zurückgestoßen, heißt es in der New York Times. So eine unscharfe Mittellage widerstrebt aber natürlich dem Geist der deutschen Gründlichkeit. Es sind lustigerweise immer die Gesprächspartner aus der Bundesrepublik, die den amerikanischen Reportern seither erklären, wie vollständig im Eimer der Ruf von „Made in Germany“ jetzt sei. Aber die Amerikaner, von denen immerhin so gut wie jeder zweite einen deutschen Nachnamen hat, tun ihnen den Gefallen nicht. Sie haben störrisch weiterhin Freude am Fahren ihrer am liebsten kraftvoll motorisierten German cars. Sie sperren auch an dem Wochenende, an dem der Abgasbetrug von VW bekannt wird, die Fifth Avenue in Manhattan für die Steuben Parade, was der Nationalfeiertag der deutsch-amerikanischen Trachtentruppen ist. Und auch an allen Wochenenden seitdem biegen sich in den Bavarian Beer Gardens der Stadt die Tische unter prachtvollen Einliterkrügen voller auch hier so genanntem Oktoberfestbier und manchmal – aus Ferne schrumpfen die regionalen Unterschiede nun einmal – sogar Kölsch. Man muss nur „Kolsh“ sagen, sonst ist die Bedienung nicht im Bilde.
Soll man es den Amerikanern vorwerfen, dass sie sich rauspicken, was vielen Deutschen wegen seiner krachledernen Klischeehaftigkeit oft etwas peinlich ist, wo man doch auch Tiefe, Innerlichkeit, Hegel und sparsame Dieseltechnologie zu bieten hätte?
Das Deutsche ist in New York nun einmal aufgehoben – im dreifachen Wortsinn: Die Amerikaner haben etwas Neues daraus gemacht, nach ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen. Die Sprache hingegen wird hier nicht mehr gesprochen, und VW wird das mit seiner deutschsprachigen Werbung für „Das Auto“ jetzt gewiss auch nicht mehr ändern. Sie ist aber trotzdem aufbewahrt geblieben – und zwar ausgerechnet bei denen, die Deutschland einst mit aller Gewalt los werden wollte.
In einer kleinen Autoglaserei in Brooklyn heißt das Fenster nämlich noch Fentster. Und die Scheibe heißt Shoyb. Und Joe, der Glaser, der das Jiddische von seiner Mutter hat, seufzt, als man nach all den verschiedenen Feiertagen doch noch einmal bei ihm aufkreuzen muss, weil seine schnell eingebaute Ersatzscheibe beim Durchgucken das Gefühl vermittelt, man habe ein paar Mass Kölsch zuviel getrunken.
Joe sagt, dann müsse jetzt eben doch eine Originalscheibe vom Hersteller ran. Sei natürlich teurer. Aber dann vermutlich auch tiptop. Joe sagt, dass deutsche Autos generell irre teuer seien, aber allermeistens dafür auch wirklich zuverlässig.
Manchmal seien jedoch sogar die ein großer, verpfuschter Mist, den man einfach nur am Wegesrand stehen lassen und wegrennen sollte, denn auf nichts sei Verlass. So sei das nun mal, sagt Joe, der Glaser, und blickt wie der weise, alte Mann, der er ganz offensichtlich auch ist.
(c) PETER RICHTER
Eine Variation dieses Textes erschien zuerst unter dem Titel „Oh boy, the Germans“ auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung vom 17./18.10.2015