Die Bombe von Chelsea

Und dann auf einmal auf dem Handybildschirm das hier: „Emergency Alert. now.“

Warndreieck mit Ausrufezeichen. Und: „WANTED: Ahmad Khan Rahami, 28-yr-old male.“ Man solle die Medien konsultieren für ein Bild von dem Mann, und wenn man ihn gesehen hat, solle man 911 anrufen, den Polizeiruf.

Es war kurz vor acht am Montag morgen als in New York und New Jersey die Mobiltelefone fiepen wie sonst nur bei Hochwasser-Alarm. Die Telefone fiepten so, dass auch der letzte Langschläfer mitkriegen musste, was Bill de Blasio eine halbe Stunde zuvor verkündet hatte. Allein der Umstand, ihren Bürgermeister an einem Montagmorgen so zeitig schon seines Amtes walten zu sehen, muss den New Yorkern schlagend deutlich machen, dass ihre Stadt sich in einem Ausnahmezustand befindet. Es gibt natürlich auch andere Anzeichen an diesem Morgen: 1000 zusätzliche Polizisten und State Troopers, die vielen Hundestreifen in den U-Bahnen, die Taschenkontrollen, die Verspätungen… Die Polizeipräsenz wäre aber auch größer als normal, wenn nicht zwei Tage zuvor auf der 23. Straße eine selbstgebaute Bombe in einem Mülleimer explodiert wäre und 29 Menschen verletzt hätte. Und wenn nicht ein paar Blocks weiter ein weiterer zur Bombe umgebauter Schnellkochtopf in einem Mülleimer gefunden worden wäre. Und wenn nicht an demselben Samstag schon im nahen New Jersey bei einem Sportevent zu Ehren der US Marines eine selbstgebaute Bombe detoniert wäre. Alles ohne Todesfolgen, zum Glück. Bei dem Marines-Lauf in New Jersey allerdings nur deshalb, weil die Sportler wegen chaotischer Organisation nicht rechtzeitig auf die Strecke kamen. Und da haben wir von dem Mann, der ebenfalls an jenem Samstag oben in Minnesota, in einem Einkaufszentrum mit einem Messer auf Passanten losging, noch gar nicht gesprochen. Der Grund, aus dem sich der Ausnahmezustand in New York nur graduell vom Alltag unterscheidet: Der Alltag ist halt immer Ausnahmezustand hier, gerade Montagmorgens im Berufsverkehr. Außerdem ist UNO-Vollversammlung an diesem Tag. Da ist die Stadt ohnehin noch gespannter, noch voller, noch verstopfter als sonst schon.

Bill de Blasio so zeitig schon in Aktion zu erleben, ist deswegen die herausragendere Ungewöhnlichkeit, weil sich der Mann Montagvormittags normalerweise in seinem großen schwarzen Chevrolet Tahoe erst einmal durch die ganze Stadt bis nach Park Slope in Brooklyn fahren lässt, wo er in seinem alten Stamm-Fitnessstudio ein Stündchen aufs Laufband geht, bis er irgendwann am frühen Mittag mal im Rathaus eintrudelt. Der Mann hat, wie man so sagt, sehr ostantativ die Ruhe weg.

Aber jetzt stattdessen: Ahmad Khan Rahami werde gesucht. Afghane mit amerikanischer Staatsbürgerschaft. 167 groß, knapp 91 Kilo schwer, mit anderen Worten: ein kleiner, übergewichtiger Typ aus New Jersey, wo am Bahnhof der Stadt Elizabeth Sonntagnacht übrigens schon wieder eine selbstgebaute Bombe gefunden wurde, recht ähnlich denen in New York. Das Foto auf dem Steckbrief zeigt ein breites Gesicht mit der Art von Umhängebart um den Kiefer, wie ihn besonders strenge Muslime oft für kleidsam halten.

Man muss leider sagen, dass dieser Steckbrief schon ziemlich exakt dem entsprechen dürfte, was diejenigen vor Augen hatten, die jetzt zwei Tage Zeit hatten, auf Twitter herumzuhöhnen, was für eine verdruckste Pfeife de Blasio sei. Und Hillary Clinton natürlich auch. Und Obama sowieso. Und allen voran die „Mainstream Medien“, in denen man offensichtlich fieberhaft hoffe, dass möglichst ein weißer, heterosexueller Rechtsextremer irgendwie schuld sein möge an all dem Horror. Was halt auf Twitter immer so los ist, wenn was passiert. Die zweite Bombe war am Samstagabend noch gar nicht entschärft, als die Sache dort schon zum Wahlkampfthema wurde. Wieso sagt Clinton, sie könne noch nichts sagen, sie müsse erst mehr wissen? Und wieso sagt Donald Trump wiederum als erstes „Junge, das ist eine Welt, in der wir leben; wir müssen echt strenger werden“? Und hat nicht der Somalier, der in Minnesota auf die Leute einstach, vorher gefragt, ob die Moslems seien? Und „Allah ist groß“ gerufen?

Wenn Schnellkochtöpfe am Straßenrand zur Explosion gebracht werden, setzt in Amerika automatisch die Erinnerung an das Attentat auf den Boston-Marathon vor drei Jahren ein. Damals hielten sich die Medien auch so lange es ging, an der Theorie fest, dass immerhin auch einer der wütenden weißen Holzfällerhemdträger in ihrem Kreuzzug gegen die liberale Ostküste gewesen sein könnte. Es waren dann aber zwei tschetschenische Brüder, die die Bastelanleitung für ihre Bomben dem englischsprachigen Internetmagazin „Inspire“ entnommen hatten, Herausgeber: Al-Qaida, Jemen.

Die Besonnenheit, zu der Hillary Clinton im Informationsstau unmittelbar nach der Explosion vom Samstag aufrief, beißt sich zwangsläufig mit dem notorischen Besserwissertum auf Echauffiermedien wie eben Twitter. Noch querer dazu steht die ostentative Geruhsamkeit von Bürgermeister Bill de Blasio: Die Explosion sei „ein vorsätzlicher Akt“ gewesen, hatte der am Samstag abend erklärt, aber es gebe keine Hinweise auf Terrorismus. Das war natürlich eher gut gemeint, als besonders treffend gesagt. Wenig später meinte Andrew Cuomo, der Gouverneur des Staates New York, dass man vermutlich schon von Terrorismus sprechen könne, wenn jemand an einer belebten Straße eine Bombe zündet. Aber die Schockwellen sind außerhalb immer heftiger als am Epizentrum selber.

Einen Tag später, Sonntag gegen Mittag, sah man die beiden nicht unbedingt eng befreundeten Politiker exakt an dieser Straße stehen und den Ort des Geschehens noch einmal betrachten. 23. Straße zwischen 6. und 7. Avenue, dann gingen sie gemeinsam zu Starbucks. Kein Witz. Einen Block weiter liegt das berühmte Chelsea Hotel, in dem früher immer die englischen Rockstars abstiegen. Wenn die das heute noch täten, hätten sie sich vielleicht an die Zeit erinnert gefühlt, als in London immer die Papierkörbe explodierten, weil die IRA Bomben reinlegte. Wie hat London reagiert? Mit dem alten „Keep calm and carry on“ natürlich. Den Churchill-Spruch leben sie traditionell auch in New York. Sie gehen: essen. Noch direkt nach der Explosion waren die Kneipen in der Umgebung voll. Wohin sollten die Leute auch gehen. Die U-Bahn fuhr nicht mehr, und Uber, der freundliche Mietfahrservice, vervielfachte auf der Stelle seine Preise…Draußen ist eigentlich alles wie immer, der Ärger wohnt eher in dem kleinen kreischenden Ding in der Handfläche.

 

(c) PETER RICHTER

Eine kürzere Version dieses Textes erschien zuerst unter dem Titel „Zu Starbucks? Kein Witz“ am 20.9.2016 auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung