Im Frühjahr 1986 kokste sich der mit der Darstellung eines masturbierenden Vorstadtjugendlichen bekannt gewordene Maler Eric Fischl durch die Vernissage seiner eigenen Retrospektive im Whitney Museum of American Art, stieg anschließend ins Auto und fuhr von Uptown, wo die Museen saßen, in Richtung Downtown, wo damals New Yorks Künstler zu Hause waren. Er war gerade 38, eine vom wichtigsten Museum für amerikanische Kunst geadelte Berühmtheit, die der „Vanity Fair“ sechs Seiten wert war, und er ahnte, so schreibt er in seiner Autobiografie „Bad Boy“, dass soeben ein epischer Fall ins Nichts begonnen hatte: Hinter dem Columbus Circle kam es zum Verkehrsduell mit einem anderen New Yorker Brüllaffen, irgendeinem Geldmenschen, der den berauschten Künstler exakt auf dem Höhepunkt seiner Karriere wissen ließ, er sei offensichtlich ein Niemand, „a big fuckin’ nobody.“
In der Tat spielt Fischl heute nur noch im Regionalmuseum seines Wohnorts in den Hamptons eine nennenswerte Rolle; damals im Whitney hatten sie noch anders gewettet.
Im Frühjahr 2015 ist nun das Whitney selber unterwegs Richtung Downtown in eine Gegend, wo heute kaum noch Künstler wohnen können, es sei denn, sie sind zu besseren Zeiten so reich geworden wie Julian Schnabel, damals der mächtigste Konkurrent von Fischl, der da in einem pinkfarbenen Märchenschloss residiert. Das Museum hat ein neues Haus am Hudson River zwischen Chelsea und West Village bezogen, das am 1. Mai eröffnet werden soll. Und wenn man Scott Rothkopf, die neue Kuratoren-Hoffnung am Whitney, dort nun spaßeshalber die Frage stellt, wo bei der üppigen Neupräsentation der Bestände in dem Gebäude eigentlich die Fischls und Schnabels aus der Sammlung abgeblieben seien, da schaut er für eine Sekunde, als hätte man ihn auf Leichen angesprochen, die sie vor dem Umzug noch schnell im Keller des Altbaus eingemauert haben. Dann verweist er darauf, dass aus dieser Kohorte, die für ihren übermäßigen Erfolg in den Achtzigern anschließend regelrecht abgestraft wurde, immerhin David Salle vertreten ist, der im Augenblick auch einen Wiederbelebungsversuch durch den Markt erfährt.
Manche Heiligsprechungen müssen später revidiert werden, und dann stehen auch die Revisionen wieder zur Revision: So ist das mit den Museen, wenn sie der unmittelbaren Gegenwart ihre Gütesiegel aufkleben sollen, und das gelegentliche Umpflügen der Depots macht sie erst fruchtbar. Man darf deshalb sagen, dass es generell eine helle Freude ist, durch dieses neue Whitney zu gehen, solange es alle seine Sonderausstellungsflächen mal der eigenen Geschichte widmet. All die amerikanischen Regionalismen, Sozialrealismen und Surrealismen, die in der Kunstgeschichte immer den provinziellen Hintergrund bilden müssen für den internationalen Siegeszug von Action Painting, New York School und Pop Art: Hier dürfen sie sich mal aus eigenem Recht entfalten. Das Whitney hat sich bemüht, Frauen ein bisschen weniger unterzurepräsentieren. Und endlich kommt von den Arbeiten auf Papier mal wieder was ans Licht, aus denen der Großteil der Sammlung besteht. Das beinhaltet nicht zuletzt die Studien, die Edward Hopper beim allgemeinen Aktzeichnen im Salon jener Gertrude Vanderbilt Whitney angefertigt hat, die das nach ihr benannte Institut 1931 auch als lokalpatriotische Reaktion auf das Museum of Modern Art ins Leben rief.
Was es neben dem MoMA darstellen will – und neben dem Metropolitan, dem Guggenheim, dem New Museum und all den anderen: Das ist nun eine Frage, die offensichtlich einfach nicht aufhören will, sich zu stellen. Wenn ein Museumsvorstand beschließt, Geld einzuwerben, umzuziehen, neu zu bauen, dann natürlich vor allem, weil das Haus etwas Größeres darstellen will als zuvor: ein big fuckin’ was eigentlich?
Nicht einfach zu sagen, wo New Yorks Kritiker ihre Museen gerade am liebsten dafür schelten, zu sehr nach dem Publikum, dem Markt, dem Geld, dem sogenannten Zeitgeist zu schielen, während das Schicksal eines Museums im darwinistischen Kulturleben dieser Stadt leider exakt von diesen Dingen abzuhängen scheint.
Jetzt ist das Whitney also an die Westside gezogen, zu den Touristen, die am Ende ihres Spaziergangs über die zum Park verwandelten Hochbahngleise der Highline jetzt noch Kunst anschauen können, die überwiegend in dieser Stadt entstanden ist. Es sitzt jetzt an der Nahtstelle zwischen den Meatpacking District, wo die meisten Galerien sind, und dem West Village, wo eine älter gewordene Boheme inzwischen fast teurer wohnt als der Finanzadel rund ums alte Whitney auf der Upper East Side. Zum Baubeginn war das eine hippe Ecke. Aber ist sie das noch? Nicht schon wieder bisschen over? Und ziehen nicht die ersten Galerien schon wieder weiter in den Flower District, so wie neulich die von Casey Kaplan?
Der Neubau von Renzo Piano steht nun mit der Unsicherheit von jemandem dazwischen, der etwas spät zu einer Party kommt. Er versucht, sich mit freundlicher Imitation der Anwesenden beliebt zu machen. Die New Yorker wiederum, repräsentiert durch ihre Architekturkritiker, sind noch etwas unsicher, was sie davon halten sollen.
Die gute Nachricht ist, dass es jedenfalls viel besser ist als viele das befürchtet hatten, die da in den letzten paar Jahren am Hudson einen Haufen metallischer Formen anwachsen sahen, der einigen Kommentatoren vorkam, wie etwas falsch Zusammengeschraubtes von Ikea. Vielleicht ist das aber gleichzeitig auch die schlechte Nachricht, vielleicht wäre eine Katastrophe einfacher zu verarbeiten. Denn ein Meisterwerk ist es wirklich auch nicht. Man kann den Daumen noch nicht einmal gefühlsneutral waagerecht halten. Er zittert einem hier vielmehr pausenlos von oben nach unten und zurück als hätte man einen Tremor in der Hand.
Das war bei dem letzten Quartier des Whitney, Marcel Breuers Bau auf der Upper East Side, etwas anders. Da war nachweislich die Ablehnung beim Einzug so heftig wie jetzt beim Auszug die Liebe. Breuers schieferner Schrein steht aber mit seinen wenigen um die Ecke schielenden Fenstern auch an der Ecke, als würde er für sich selber Schmiere stehen. Seine Massen weichen nach unten hin von der Madison Avenue zurück, so dass sich eine einladende Erweiterung ergibt und gleichzeitig Platz für einen Burggraben mit Brücke, durch den der Keller sein schönes Licht bekommt: Komm rein, sagt das, hier sind Schätze drin, hier seid ihr sicher und geschirmt. Es ist einer der angenehmsten Orte in der Stadt, die Künstler, hörte man oft, mochten ihn. Das Metropolitan, das ihn übernimmt, freut sich. Mitarbeiter des Whitney sagen, sie hätten ihn ebenfalls sehr geliebt, aber sie waren auch selten mal da: Platzmangel. Ihre Büros waren in Midtown, die der Finanzabteilung noch weiter südlich, und wenn Kunstwerke angeliefert wurden, dann mussten die bei Wind und Wetter über den Bürgersteig gehievt werden. Jetzt gibt es eine ordnungsgemäßes Ladedock für LKWs auf der Seite zum Fluss hin, von wo der Bau allerdings auch am meisten an eine pharmazeutische Fabrik denken lässt. Hatte nicht das Hochhaus von Schering in Westberlin ähnliche Flugzeugfenster in der Metallfassade? Oder war es das Haus der Rentenversicherung? Beide? Jedenfalls: Sehr Siebziger das alles und recht retro. Der Verdacht nagt, dass diese Fenster aber vielmehr als enorm heutig, nämlich iPhone-förmig gedacht sein könnten und zusammen mit der Alu-Fassade ans technologische Jetzt andocken sollen oder zumindest den nahegelegenen Apple-Store. Es wird aber auch unter diesem Blickwinkel das erste sein, das womöglich bald etwas „dated“ aussehen wird. Dafür zeigt die Gesamtform durchaus Willen zur Dramatik. Das dauernde Kontrastieren von strammen Vertikalen und steilen Schrägen macht fast den Eindruck, als hätte Piano beim Entwerfen ein wenig in den Architekturphantasien seines Landsmannes Antonio Sant’Elia geblättert, der seinerseits von Staudämmen und Kraftwerken fasziniert war, gleichzeitig aber wohl auch die Setback-Architektur der frühen Hochhäuser von Manhattan rezipierte. Das Problem mit der Architektur des sehr netten, sehr kultivierten und klugen Renzo Piano ist jedoch dieses: Sie gleicht oft groß geföhnten Frisuren aus zu dünnen Haaren. Diese ganze Transparenz, Leichtigkeit, Fragilität und Feinheit die Piano so liebt und für die von vielen so geliebt wird, sie kann einem auch gehörig auf den Wecker gehen. Und selbst wo es, wie hier, mal Anflüge einer gewissen Substantialität gibt, dann wirken selbst die wie mit den besonders feinen Zinken noch mal drübergekämmt. All diese zarten Alu-Panele, in die das Haus gewickelt ist wie in Frischhaltefolie, sind in ihrer Massierung zwar vielleicht immer noch nicht ganz so enervierend wie die Armee von Terrakottastäbchen, mit denen Piano am Potsdamer Platz den leider bedeutungslosesten Hinterhof Berlins geschaffen hat. Aber fast.
Für Bollwerke gegen die Spektakelgesellschaft, die New Yorks Kunstkritiker im Moment so ersehen, für die massiven, sicheren Mauern zum Schutz der Kunst vor Markt und sogenanntem Zeitgeist ist Renzo Piano insofern vielleicht nicht ganz die ideale Wahl gewesen. Denn auch im Inneren des Whitney sind die Räume natürlich licht und ihre Begrenzungen zweifelhaft. Statt Decken gibt es quasi Schnürböden, von Etage zu Etage unterschiedlich tief und unterschiedlich penetrant mit weißen Gattern zerrastert. Von hier baumeln die Wände herab, als seien es Figuren aus der Augsburger Puppenkiste. Soll möglicherweise an Schaulager erinnern. Eine andere Assoziation ist, leider: Kunstmesse. Man wartet beinahe drauf, dass abends dieser Kulissenapparat wieder nach oben geleiert wird und zum Beispiel Esstische auf den Fußboden gestellt werden, der mit seinen recycelten, eigentlich zu weichen und zu hellen Kieferndielen ohnehin weniger an ein Museum denken lässt als an die Farm-To-Table-Lokale, die rundherum gerade so in Mode sind. Das gäbe Raum für drei bis vier große Sponsoren-Events mit Blick auf das nächtliche Manhattan gleichzeitig, und es gibt ja Leute, die behaupten, dass so etwas inzwischen fast die wichtigere Funktion eines Museums in New York ist.
Es ist ohnehin nicht einfach für die Kunst, gegen die eigentlichen Attraktionen dieses Hauses anzukommen, und das sind die wirklich spektakulären Blicke nach draußen. Auf der einen Seite der Hudson, dahinter Jersey, auf der anderen ein New York wie aus den Panoramen von Saul Steinberg. Wahrscheinlich gibt es gar keinen hinreißenderen Blickwinkel auf Manhattan als diesen. Man darf es sich aus verschiedenen Höhen von ausladenden Terrassen mit Feuertreppe besehen. Das Whitney kann auf seinen vielen neuen Quadratmetern endlich viel mehr von dem zeigen, was es alles so hat. Endlich sitzen auch die Kuratoren und Restauratoren wieder unter einem Dach mit ihrer Kunst. Aber sie werden sich nicht wundern müssen, wenn sie ihre Galerien leerer vorfinden als die Sofas vor den Panoramafenstern. Man kann sich schon ausmalen, wie an schönen Tagen die Menschentrauben hier an den Brüstungen stehen werden wie auf den Kreuzfahrtschiffen bei der Einfahrt nach Venedig. Das Haus freut sich so sichtbar über seinen Ort, dass man es ihm fast als Mangel an Selbstbewusstsein auslegen muss. Jetzt ist das Whitney also auch endlich an der Westside und kommt aus dem Bestaunen der Umgebung nicht raus. Eigentlich sollte diese Umgebung ja vielleicht eher auf den prominenten neuen Nachbarn schauen. Aber der steht da, als hätte er sich aus kompletter Ratlosigkeit einfach alles übergeworfen, was er hier für angesagt hält.
Es sagt mit seiner silbrigen Außenhaut gleichzeitig „Hi“ in Richtung der letzten proletarischen Altmetallbuden zu seinen Füßen und zum Apple-Store um die Ecke. Vom Westen her, vom Fluss, wo demnächst noch ein Park am Ufer entstehen soll, hat es, natürlich, eine maritime Note: Man sieht an dieser Seite, dass das Gebäude einen schmalen Kern aus Beton hat, in dem sich die Erschließung befinden muss, und an dem die beiden Nutzflügel hängen wie unterschiedlich große Segel an einem Mast: nach Norden hin die Büros, nach Süden die Ausstellungsflächen. Die türmen sich, kommt man vom Fluss her um die Ecke, in silbrigen Volumen übereinander, als habe Piano hier die Anmutung von Sanaas hippem New Museum an der Bowery imitieren wollen. Kommt man aber von der anderen Seite her, von Osten, dann öffnet er, dies wiederum ein Zitat von Breuers Burggraben, das Gebäude zur Gansevort Street hin so entschlossen, so dass ein richtiger Platz entsteht, auf dem nur noch eine Glaswand innen und außen trennt. Piano spricht von einem Largo, Sonderform der Piazza. Wie unbeholfen und plump allerdings die Säulen, die den Überbau an dieser Stelle tragen, einfach irgendwie ins Material gestochen worden sind, als hätten die Bauarbeiter keine Pläne gefunden und schnell nach Hause gemusst. Daumen hoch, Daumen runter. Im Treppenhaus das gleiche: Ein Schacht zum Betonstreicheln mit einem Steinboden, auf dem man zu federn meint, bequem flache, aber nicht enervierend flache Stufen. Hört nur leider da auf, wo die eigentlichen Galeriegeschosse anfangen, und der Parcours verläuft, wieder wie beim New Museum, von oben nach unten. Man muss also die Fahrstühle nehmen, was enorme Geduld erfordert. Dafür sind die innen von Richard Artschwager die innen humorig ausgemalt worden, der eine zum Beispiel als Körbchen.
Es ist, um es irgendwie zusammenzufassen, überwiegend sehr herrlich in diesem Haus zu sein, aber das liegt nur manchmal an dem, was Piano gebaut hat und häufiger daran, dass die Kunst oder die Ausblicke auf New York seine Architektur zum Verschwinden bringen. Piano selbst belegt die Anhäufung von Disparatem, Ambivalenten, Unentschiedenem mit der in der Architekturgeschichte bisher eher seltenen Metapher der Bouillabaisse. New Yorks Kritiker gehen überwiegend davon aus, dass einem diese Bausuppe mit der Zeit so ans Herz wachsen wird wie das Whitney Museum von Breuer.
Die Leute vom Whitney scheinen sich da weniger sicher. Es gibt das Gerücht, dass sie den Breuer-Bau in ein paar Jahren vom Metropolitan wieder zurückhaben und selber nutzen wollen.
Wenn der Architekt nicht zu entschiedeneren Gesten fähig ist, kann man das vom Bauherren schließlich auch nicht verlangen.
(c) Peter Richter
Ein in einigen Teilen übereinstimmender Text erschien zuerst am 27.4.2015 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.