Und plötzlich wartet man wieder auf eine Straßenbahn in die Innenstadt, wo eine Montagsdemo stattfinden soll, so wie damals, vor der Ewigkeit von 25 Jahren, als man auch schon kein kleiner Junge mehr war, aber doch immerhin noch ziemlich jung.
„Und plötzlich steht man wieder in der Stadt, in der die Eltern wohnen und die Lehrer und andre, die man ganz vergessen hat“, schrieb Erich Kästner mal in einem Gedicht mit dem Titel „Führung durch die Jugend“, und weil es eben ein Gedicht war, gab es auch einen Reim dazu: „Mit jedem Schritte fällt das Gehen schwerer.“ Kann sein, dass das an vielen Orten gilt. Aber da wo Kästner herkam, gilt es auf jeden Fall, denn über „das Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein“, hat er zwar in seinen Kindheitserinnerungen ausführlich berichtet, aber wenn er als Erwachsener dahin zurückkehrte, im Roman oder im Gedicht, dann stand „der Fleischer Kurzhals“ immer noch vor seinem Haus und nickte zurück und sah verwundert aus: „Man kennt ihn noch. Er ist sich nicht im Klaren.“
Wer nun ebenfalls das Glück hatte, in Dresden aufgewachsen zu sein, hat das Pech, im Prinzip immer nur Kästner nachplappern zu können, wenn er weltweit die Schönheiten der Stadt anpreist. (Wobei Kästner wenigstens nicht dauernd lästige Einschränkungen wie „mal nur die Altstadt für sich genommen“ oder „wenn man sich diese Ruhrgebietskanalbrücke am Waldschlösschen mal wieder wegdenkt“ machen musste.) Wenn man länger weg war, dann hat einem Kästner aber manchmal auch schon die Beklemmung vorgespurt: „Dann fährt man Straßenbahn und hat viel Zeit. Der Schaffner ruft die kommenden Stationen. Es sind Stationen der Vergangenheit. Man dachte, sie sei tot. Sie blieb hier wohnen.“
Das, muss man sagen, stimmt auch dann noch, wenn der Schaffner eine Frau ist und vom Band kommt und säuselnd die „Fetscherstraße“ ankündigt, wo damals die Vietnamesen nachts in ihrem Wohnheim weggeschlossen waren, was am Ende für sie noch das Sicherste war. Und den „Fetscherplatz“, wohin Schreihälse von der Stasi einen ganzen Demonstrationszug gelenkt hatten, der dort günstig in die geparkten LKWs verladen werden konnte, in den Knast nach Bautzen. Das war am Sonntag, dem 8. Oktober 1989. Tags darauf wurde in Dresden überhaupt zum ersten Mal an einem Montag demonstriert, und selbst dann sollte es noch eine ganze Weile dauern, bis hier von Montagsdemonstrationen die Rede war. Was man nämlich als Dresdner auch mal zugeben muss, wenn auch ungern: Es gibt tatsächlich Dinge, die nebenan in Leipzig erfunden wurden und nur dort einen Sinn ergeben. Montagsdemonstrationen haben sich aus den Andachten in der dortigen Nikolaikirche ergeben, und der Ruf „Wir sind das Volk“ war dort noch vor allem eine Replik auf die Durchsage, hier spreche die Volkspolizei. Dort, in Leipzig, kann man auch mit größerer Berechtigung von einer „friedlichen Revolution“ sprechen. In Dresden wurde zwar auch zum Glück niemand erschossen, aber hier nahmen die Ereignisse ihren Ausgang nicht beim stillen Gebet, sondern beim Kampf mit der Polizei um den Hauptbahnhof, wo die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag erwartet wurden. Hier sah es Anfang Oktober deswegen auch nicht aus wie auf einem Kirchentag, sondern wie in Kreuzberg am ersten Mai; hier wurden keine Kerzen getragen, hier wurden Pflastersteine geworfen, und zwar tagelang. Das Klischee, wonach sie in Dresden, anders als in den angeblich agileren sächsischen Nachbarstädten, verzückt in ihre Elbe starrend nichts als sandsteinernen Tellkamp-Text vor sich hinnuscheln, das stimmt leider, wenn überhaupt, nur zum Teil. Es gibt einen anderen Teil in dieser Stadt, der ist ganz und gar nicht gemütlich, sondern in einem Maße hektisch und aggressiv, dass es Auswärtige, und nicht nur die, oft mit der Angst bekommen. In Dresden hatte man damals, als sich aus der Randale die ersten Demonstrationen formten, das Gefühl, dass die Kirchenleute und die sogenannten bürgerlichen, besonneneren Kräfte die Sache nicht so sehr anführen, sondern eher eindämmen mussten. Einen Monat später, nach dem Mauerfall, liefen dann montags eigentlich eher zwei Demonstrationen hintereinander her. Hinten die mit den Bürgerrechtlerbärten, vorne die mit den Deutschlandfahnen. Hinten ging es eher um Demokratie, vorne eher um die D-Mark. Und was zwischen beiden los war, würde heute Hundertschaften von Bereitschaftspolizisten beschäftigen. Damals jedoch nicht, denn die wollten nicht schon wieder Pflastersteine gegen den Helm geworfen kriegen.
Aber war bei den Montagsdemonstrationen damals eigentlich auch immer so ein Mistwetter? So eine Kälte? Und so ein fieser Regen? Die Erinnerung sagt vage: Ja. Die Erinnerung sagt, dass damals die Jeansblousons im Moon-Washed-Look gegen sogenannte Anoraks ausgetauscht wurden, die in Wahrheit auch eher Blousons waren, aber gefüttert. Dieses Meer von Anoraks und Deutschlandfahnen, von dem Helmut Kohl in jenem Dezember vor 25 Jahren vor der Ruine der Frauenkirche den Auftrag zur Herstellung der deutschen Einheit durch atmosphärisches Erspüren empfangen haben wollte, während selbst die, die es nur mit dem vorsichtigeren Zeitplan der SPD hielten, als rote Socken durch die Stadt gejagt wurden. Die Erinnerung sagt auch, dass es zunächst einmal bestürzend war, als die Rechtsradikalen an dieser Stelle das Gedenken an den 13. Februar an sich rissen, den Tag der Zerstörung der Stadt. Seit der Zeit, als sie drüben im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstrierten, hatten langhaarige Pazifisten in Parkas diesen Tag dazu genutzt, vor den Trümmern der Frauenkirche gegen die Aufrüstung im Ostblock zu protestieren. Die wurden damals dann von Leuten verdrängt, die vom „angloamerikanischen Bomben-Holocaust“ faselten. Erheiternd war immerhin, dass sich dazu in angloamerikanische Bomberjacken kuschelten. Die Erinnerung besagt weiterhin, dass sie diese zuverlässig wärmenden Produkte der Firma Alpha Industries aber oft auch trugen, wenn sie im Hochsommer auf der Prager Straße der schweißtreibenden Jagd auf Hütchenspieler und Ausländer nachgingen, wozu manche Passanten dann durchaus applaudierten: Leute mit Einkaufsbeuteln, Leute im Kurzarmhemd, Leute, um deren Ängste und Sorgen, wie das damals schon hieß, sich „die da oben“ nicht kümmern wollten – dafür aber ein etwas unrasiert und verschwitzt wirkender Mann, der Rainer Sonntag hieß. Rainer Sonntag stammte aus Dresden, hatte in der DDR schon im Gefängnis gesessen, war aus dem Gefängnis in den Westen abgeschoben worden, hatte im Glücksspiel- und Rotlichtmilieu von Frankfurt am Main Karriere gemacht und war nach einer Zeit als Leibwächter des Neonazis Michael Kühnen zurück nach Dresden gekommen, das er, gewissermaßen als dessen Gauleiter, zur neuen „Hauptstadt der Bewegung“ machen wollte. Irgendetwas musste diesen Leuten das Gefühl gegeben haben, das könnte sich hier lohnen. 1991 wurde er bei Streitigkeiten mit Zuhältern aus dem Westen erschossen. Es soll dabei gar nicht so sehr ums Prinzipielle gegangen sein, eher ums Geschäft.
Auch so einer kommt einem jetzt in der Straßenbahn plötzlich wieder in den Sinn, so unter der Kategorie „andre, die man ganz vergessen hat“. Die man am liebsten vergessen wollte, als man damals die Stadt verließ. Und an die man jetzt eben erinnert wird, wenn man wieder da ist und die Typen sieht, die auch zu dieser Montagsdemo stapfen. Kurzhalsige Fleischer. Man kennt sie noch. Man ist sich sofort wieder im Klaren.
„Peggy Pegida“ schrieb ein alter Freund aus Dresden unter eine Email, ganz einfach weil es in dieser Stadt immer auch Leute gibt, die einen eher spöttischen Umgang mit den Dingen und der Sprache pflegen, während andere, wie man aus dem Fernsehen weiß, noch nicht einmal ihre Wut irgendwie verständlich artikuliert bekommen. Peggy Pegida klingt ein wenig wie Zony Gaby als Schlagersängerin. „Peggy spielt ab 18:30 @ ,Cockerwiese‘“, schrieb also der Freund. Er habe da aber leider besseres zu tun. Gottchen, ja: Die Cockerwiese, die Wiese, wo ´88 Joe Cocker gesungen hat, hinter dem „Dreckschen Löffel“, wie man wiederum damals die Gaststätte Picnic am Fucikplatz nannte, wo die Trinker saßen und die Dynamo-Fans vorglühten, als der Mittelstürmer noch Matthias Sammer hieß und Berlin bei den Leuten hier manchmal auch „Juden-Berlin“. Inzwischen heißt der Fucikplatz Strasburger Platz und der Drecksche Löffel heißt „Acki‘s“. Es ist also nicht so, dass alles beim Alten geblieben wäre. Wen aber sieht man kurz nach 18 Uhr zum Vorglühen vor dem Laden stehen? Wie nennt man diese Halbwüchsigen in Outdoor-Jacken mit dem Transparent, auf dem in Fraktur „Erzgebirge“ steht und „Zschopau“ und „Deitsch un frei – so wie man eben spricht, wenn der Dialekt mit kyrillischen Buchstaben fast einfacher aufzuschreiben wäre? Jack-Wolfskin-Jugend? Man soll die Leute, die zu diesen Pegida-Demonstrationen gehen, ja nicht immer gleich als Nazis abtun.
Man soll nicht, soll nicht, soll nicht.
Aber „besorgte Bürger“ stellt man sich irgendwie auch anders vor.
Soviele Leute waren vor einem schon da, um sich die Sache „erst einmal mit eigenen Augen anzuschauen“, auf das von den originalen Montagsdemos her bekannte Risiko hin, dass man bei so was nun einmal nicht zuschauen kann, ohne selbst zur Menge beizutragen. Die wenigen, die hier an diesem Montag wirklich aussahen wie besorgte Bürger, waren solche, die sich ein eigenes Bild machen wollten und entsetzt das Weite suchten, noch bevor der Pulk zu seinem „Spaziergang“ rund um das Dynamo-Stadion losstürzte. Im Grunde sah das aus wie an einem Spieltag, wenn, sagen wir mal, Berlin kommt: All die Jungs mit den schwarzgelben Mützen auf dem Kopf und den Quarzsand-Handschuhen in der Arschtasche, für alle Fälle, die nachher nur mit großem Gebettel der Organisatoren davon abgehalten werden konnten, sich den Gegendemonstranten zu widmen („Ihr gefährdet die Bewegung!“) Und all diese grimmig blickenden Räuchermännchen, die ihre Fahnen schwingen als wären es Schlagstöcke. Wer kam eigentlich auf die rührende Idee, hier von Ängsten zu reden, die man auch noch ernst zu nehmen habe? Angst ist nun wirklich das einzige, was hier niemand ausstrahlt, sondern höchstens einflößt. Es gibt ja eine recht einfache Unterscheidung zwischen Angst und Ressentiment, und die ist physiognomischer Natur. Bei einer Demonstration, bei der vielleicht 7 Prozent Frauen zu sehen sind, ist das ohnehin eine eher sonderbare Idee, und da sind die Langhaarigeren unter den Männern schon mitgerechnet. Keine Ahnung, was das mit den ganz normal verunsicherten Bürgern aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft auf sich gehabt haben soll, die der AfD-Politiker Alexander Gauland hier getroffen haben will oder die Schriftstellerin Monika Maron. Die Leute vom Dorf, von denen so viel zu lesen war, die ja gern Flüchtlingsfamilien aus Syrien aufnehmen würden und sich wundern, dass bei ihnen lauter junge Männer aus Tunesien untergebracht werden, die, deutsche Asylgesetzgebung, nichts tun dürfen als herumzulungern. Kann sein, dass es die bei den letzten Montagsdemos gab. Bei dieser hier sind sie aber weggeblieben, beim besten Willen nicht zu sehen. Stattdessen: Vorgeschobene Unterkiefer, die böse ihre Buhs in den Himmel blöken, wenn die Rede auf Angela Merkel kommt. Eine Pegida-Sprecherin beklagt sich über die fehlende Zuneigung der Bundeskanzlerin und kann wirklich froh sein, dass sie hier nicht einwandern muss, denn den Sprachtest würde sie vor allem im Grammatikteil nicht bestehen. Aber das muss sie auch nicht. Stichworte, auf die die Menge zum Druckabbau mit dem schönen, alten Begriff „Volksverräter“ antworten kann, reichen offenbar für die Zwecke der Veranstaltung. Udo Ulfkotte (ehemals FAZ, ehemals auch Konvertit zum Islam, jetzt Journalismus- und Islamkritiker) liest von einem Zettelchen Klagen über die Atomraketen der Amerikaner ab, und jemand ruft, kein Witz, „Ami go home“, und immer wieder rufen alle: „Lügenpresse“, und dann erzählt Ulfkotte, dass auf manchen deutschen Friedhöfen Bereiche für die Riten der Muslime ausgewiesen wurden, und dann kommt wieder dieses himmelschreiende Wutgeheul, bei dem man bezweifeln muss, dass die syrische Flüchtlingsfamilie wirklich so viel willkommener wäre als der alleinreisende junge Mann aus Tunesien. Und als am Ende ein Zitat von Henryk Broder bejubelt wird, da ist es fast schon egal, wie happy nun ausgerechnet der, Broder, eigentlich wäre, wenn er sehen könnte, wer hier so alles zu seinen Worten johlend die Hände ineinander patscht. Man fragt sich nur, was diejenigen davon halten, die sich, zum Beispiel im Rheinland, wirklich und wahrhaftig und nicht nur in der Theorie mit Salafisten herumärgern müssen. Wenn die Pegida-Bewegung bisher eines erreicht hat, dann dass jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islamismus in Deutschland auf weiteres erschwert bis unmöglich gemacht wurde. Am Ende spielt das Gegröle von Dresden den Radikalen in die Hände.
Das ist das eine, was man der Pegida, sozusagen in der Hauptstadt der Bewegung, vorwerfen muss. Islamismuskritikfeindlichkeit durch stumpfe Islambepöbelung.
Das andere hat mit dem Patriotismus zu tun, den diese Leute sich anmaßen im Namen zu führen. Und hier muss man tatsächlich auch „die Presse“ mal scharf zur Ordnung rufen, sofern sie durch Wiederkäuen des lauen Gags vom „Tal der Ahnungslosen“ eine Dresden-Feindlichkeit im Rest des Landes bedient, die ganz genauso stumpfsinnig ist wie das Gewüte auf den Kundgebungen der Pegida. Tal der Ahnungslosen, liebe Kollegen, war eine selbstironische Beschreibung aus der Zeit, als das Westfernsehen hier nicht hinreichte. Das galt ohnehin nie für das Radio – während der Rest der DDR auf RTL „Tutti Frutti“ glotzte, informierte in Dresden der fast überall gehörte Deutschlandfunk – und akademische Studien wollen auch herausgefunden haben, dass das Westfernsehen die Leute eher sediert als mobilisiert hat. Ahnungslosigkeit ist definitiv der falsche Vorwurf. Da ist vielmehr eine recht genaue Ahnung dessen da, was man will und was man nicht will. Und das macht es eigentlich noch schlimmer.
Der Skandal ist, dass Pegida auch schuld daran ist, dass Dresden für immer mehr Leute als schuld an Pegida gilt, als Stadt, die immer irgendwie rechts und konservativ war, ist, sein wird, als Stadt, die aus Prinzip immer nur Rechtes und Konservatives hervorbringt und nichts anderes. Der arme Herbert Wehner. Auch die arme Katja Kipping. Und all die Freunde, Bekannten und Verwandten, die ausnahmslos Pegida ablehnen, verachten, dagegen auf die Straße gehen und sich trotzdem anhören müssen in einem Ort zu leben, den jeder zugereiste Spaßvogel als Kloake für seinen konservativen Kram glaubt missbrauchen zu dürfen. Ein Institut der „Identitären“ auf dem Weißen Hirsch, der Neuen Rechten zugeordnet, von einem Karatelehrer aus Chemnitz gegründet. Tritt mit wirren Plakaten auf Pegida-Demos auf, interessiert sonst in Dresden keinen Menschen, schadet aber dem Ruf der Stadt. Selbst wenn die angeblich 18000 Teilnehmer dieser letzten Montagsdemo alle aus Dresden gewesen wären, wäre es ein verschwindender Prozentsatz. Waren sie aber gar nicht. Sie kamen aus Bayern, NRW, Brandenburg, sie trugen ja ihre Banner vor sich her, als repräsentierten sie Gaue bei einem … ach, egal.
Wenn man nicht so drauf ist wie die, hatte man gehofft, die würden sich schon irgendwie integrieren lassen, es geht denen ja nicht so schlecht, dank der vielen übrigens recht ausländischen Firmen, die Arbeitsplätze geschaffen haben in der Stadt. Wenn man hingegen so drauf wäre wie die Pegida, müsste man die 18000 eigentlich gnadenlos abschieben. Als Standortrisiko. Aber wer will die schon haben.
Und man ist ja selber nur zu Gast, floh hier einst und wird wieder fliehen.
(c) Peter Richter
Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 7.1.2015 auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung