Great American Novels? Soziologiefachbücher!

Wenn man die Rezensionen liest, kann kein Zweifel mehr sein. Die am dringlichsten erwartete, am euphorischsten gefeierte Neuerscheinung auf dem amerikanischen Buchmarkt in diesem Jahr heißt „On the Run“, und die Eröffnungsszene geht so: Chuck, Mike, Alex und Alice hängen gegen Mitternacht noch ein bisschen draußen rum, drei schwarze Männer und eine junge weiße Frau. Wir sind im nicht so guten Teil von Philadelphia. Man trennt sich. Alice geht mit Mike. Dessen Telefon klingelt. Er schreit: „Where you at? Where you at?“ Sie rennen los. Alex liegt in einer Blutlache. Er kann nicht sagen, was passiert ist, seine Zähne fehlen, jemand hat sie ihm ausgeschlagen. Er kann Alice, die ihn ins Krankenhaus bringen will, nur mit letzter Kraft zu Verstehen geben, dass er da auf keinen Fall hin will. Die junge weiße Frau lässt nicht locker: Notaufnahme! Er wird nicht hingehen, sagt Mike: In den Krankenhäusern warten die Cops, und Alex war auf Bewährung; er hätte nicht hier sein dürfen, nicht hier und nicht um diese Uhrzeit, Alex würde lieber verbluteten als wieder in den Knast zu gehen.

Eines der besten Bücher, die im letzten Herbst auf den Bestsellertischen der amerikanischen Buchhändler lagen, „Floating City“ hieß es, ging wiederum folgendermaßen los: Eine Vernissage in Downtown Manhattan, Sudhir fühlt sich fremd, er ist nur hier, weil Evalina zu den ausgestellten Künstlern gehört, und Evalina ist die Cousine von Shine, und Shine ist der Dealer aus Harlem, der nach dem Ende der Crack-Epidemie auf Kokain umgestiegen ist und Sudhir nun zuschauen lässt, wie er sich einen neuen, weißeren Markt erschließt. Shine ist ebenfalls da. Nicht gerechnet hatte Sudhir hingegen mit Analisa, die ihm damals, in Harvard, gezeigt hat, wie man sich bei einer Weinverkostung nicht blamiert, Analisa, die reiche Göre vom Gramcery Park, von der sich an diesem Abend herausstellen wird, dass sie nebenher einen Escort-Service betreibt und dringend Kokain braucht, um eines ihrer Mädchen bei der Stange zu halten. Sudhir sieht mit einem gewissen Unbehagen, wie seine beiden Bekanntschaften hier nun miteinander ins Plaudern kommen… Er möchte ihre kriminellen Karrieren eigentlich nicht noch weiter vorantreiben. Er sieht schon die Schlagzeile: „Upscale Drug Ring Linked To Columbia Professor“.

Denn dass diese Bücher anheben wie klassische amerikanische Krimis oder Thriller, das ist das eine. Das neue und besonders erregende ist aber die Figur des Erzählers: Das ermittelnde Auge gehört hier keinem Detektiv oder Kommissar oder Reporter sondern Soziologieprofessoren an renommierten Hochschulen. Sudhir Venkatesh, von dem „Floating City“ stammt, eine Besichtigung der Untergrund-Ökonomien von New York, lehrt tatsächlich an der Columbia University. Alice Goffman, die „On the Run“ geschrieben hat, eine Studie über die Auswirkungen des amerikanischen Strafverfolgungssystem auf junge Schwarze in Philadelphia, hat eine Professur an der University of Wisconsin in Madison. Ausgebildet wurden beide aber in Chicago, und das sagt in diesem Fall alles. Die Chicago School of Sociology ist nun zwar eher ein Begriff vom Beginn des vorigen Jahrhunderts. Aber das, wofür er stand, ausgedehnte Feldstudien in depravierten Milieus, teilnehmende Beobachtung, die große, detailreiche Erzählung, scheint alle Bemühungen, das Fach durch den großflächigen Einsatz von Mathematik irgendwie naturwissenschaftlicher wirken zu lassen, gut überlebt zu haben: Die Lust an der Narration treibt geradezu belletristische Blüten in dieser New Chicago School.

Sudhir Venkatesh, der ohnehin schreibt, als lese er privat lieber Chandler als Durkheim, thematisiert das auch dauernd: Wie er als Inder in die Ghettos von Chicago geht, dort mit den Gangs lebt, darüber nicht nur eine wissenschaftliche Arbeit verfasst, sondern auch einen Bestseller („Gangleader for a Day. A Rogue Sociologist Takes To The Streets) und einen Film, und wie er mit diesen Referenzen schließlich nach New York kommt, wo die akademischen Gegner die Macht haben, Soziologen, die „Studien mit zu kleinen n’s“, also mit zu wenig Leuten in der Erhebungsgruppe nicht ernst zu nehmen pflegten.

Venkatesh würde aber nicht beschlossen haben sich wie ein Philip Marlowe mit Doktorhut durch sein eigenes Buch zu kämpfen, wenn er sich von so etwas entmutigen ließe. Seine Frage ist einfach auch zu spannend. Die Frage, was eigentlich mit den Dealern und Prostituierten vom Times Square geworden ist, nachdem der Times Square unter Bürgermeister Giuliani rabiat und mit Polizeigewalt von seinem Schmuddelimage bereinigt worden ist. Wie die nun weiterwirtschaften. Wie die Schwarzarbeiter und Illegalen auf die Gentrifizierung reagieren. Wie überhaupt der ganze Schattenbereich der Ökonomie in dieser Stadt funktioniert, der „underbelly of New York“. Und Venkatesh ist der Mann, der solchen Fragestellungen schon Erkenntnisse abgewonnen hat, wie die, dass der Durchschnittsverdienst in Drogengangs bei erschütternden 3,30 Dollar in der Stunde liegt.

So sieht man ihn also mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch die Milieus von New York stromern, die Sorge um die „tenure“ an der Uni im Nacken, das amerikanische Äquivalent zur Verbeamtung, und vor sich das Problem, genügend auskunftsfreudige Escort-Girls zu finden, um den akademischen Anforderungen genüge zu tun. Der Leser erfährt auch deutlich mehr über die Eheprobleme des Autors, als er das bei Büchern von Soziologieprofessoren gewohnt ist. Aber diese Mitteilsamkeit hat auch einen methodischen Sinn. Es geht hier immerhin die ganze Zeit um Geld, um Status und um Sex. Die Stimme, die einen da mit in die Puffs von New York nimmt, muss irgendwie klar machen, dass sie nicht einem herkunftslosen Eunuchen gehört, sondern einem heterosexuellen Mann, der nicht weiß ist, aber auch nicht schwarz. „How do you identify?“ ist ja immer die zentrale Frage in den USA, auch in der akademischen Literatur. Eine andere Eigenart amerikanischer Wissenschaftsprosa ist das fortlaufende Kommentieren des eigenen Tuns, das Begründen und Ankündigen dessen, was man gleich auszuführen gedenkt; es gibt Fälle, in denen bestehen die Bücher am Ende aus kaum noch etwas anderem. Venkatesh hat sich nun gleich ganz dafür entschieden, die wissenschaftlichen Ergebnisse direkt an die Universität durchzureichen, seinem Lesepublikum erzählt er dafür von seinen Begegnungen auf dem Weg dahin. Das ist einerseits schade, denn ein bisschen mehr Theorie, Schlüsse, am Ende auch Zahlen hätten sicher auch nicht geschadet. So aber sitzen wir um so ausführlicher bei Shine, dem schwarzen Dealer auf der Couch, die wie bei so vielen in Harlem für immer noch den Schutzüberzug aus Plastik trägt, mit der sie im Möbelladen stand, und lernen, wie man in dieser Branche mit Mitarbeitern umgeht, die sich selbständig machen wollen. Wir sind dabei, wenn die reichen Söhne von der Upper East Side nach einer Party in den Central Park kotzen und währenddessen ihren Freundinnen von Geschäftsideen erzählen. Wir erfahren wie diese Freundinnen wiederum Freundinnen von ihnen an einsame Herren in Hotelzimmern vermitteln. Und wir sitzen in dem Wohnungsbordell, wo alternde Prostituierte wie Angela gegen den Kundenschwund an ihrem Ende des Geschäftsmodells ankämpfen: „Männer wollen ein junges, dunkles Ding für ihre Fantasie, die wollen nicht ihre Nanny.“ Wir schauen zu, wie sie es im Internet probiert, und lesen in den Kommentarspalten mit ihr gemeinsam die höhnischen Kommentare auf ihr Latina-Englisch: „Kommst du grad von Drogen runter oder hast du es nicht bis zur dritten Klasse geschafft?“

Danach, aus dem Off, hören wir den Autor in illusionslosem Humphrey-Bogart-Tonfall sagen: „Der Kapitalismus hat alles in eine Ware verwandelt – aber er hat nicht garantiert, dass es auch Käufer geben würde.“

New York näselt, brüllt, flucht und zischt hier in allen seinen Dialekten und Stimmlagen, und irgendwann sind es nicht mehr einfach nur Fallstudien, sondern gute alte Bekannte, die da plötzlich verschwinden, weil sie sich auf gefährliche Geschäfte eingelassen haben oder von Freiern halbtotgeprügelt auf verlassenen Grundstücken aufgefunden werden, und man hat dann fast das Bedürfnis den Autor ein wenig trösten zu wollen dafür, dass er die Welt, die er beschreibt, auch durch das Beschreiben nicht ändern kann.

Aus der soziologischen Theorie spielen hier vor allem Bourdieus Schlagworte von den „feinen Unterschieden“ und dem „kulturellen Kapital“ eine Rolle: „Was brauchte jemand wie Carla, um an reiche, weiße Freier zu kommen? Sie würde lernen müssen, weiß zu reden, sich weiß zu benehmen, vielleicht sogar auf „weißere“ Weise Sex zu haben.“

Natürlich hat Venkatesh auch eine These und ein Anliegen. Sein Anliegen ist der Protest gegen den Determinismus, mit dem den armen, schwarzen Schichten in Amerikas Innenstädten ein quasi genetisches Unterklassenschicksal attestiert wird, und sein Protest gilt auch der Tatsache, dass die soziale Mobilität seit zwanzig Jahren faktisch eingefroren sei.

Seine These wiederum ist die, dass die ökonomische Zähigkeit, Widerstandskraft und Kreativität bei denen, die auf der Unterseite dieser Gesellschaft herumwirtschaften, sogar eher am größten ist – weil sie als Entrepeneure ihrer selbst ungleich größere Hindernisse überwinden müssen als jeder Unternehmer mit Wohnsitz auf der Park Avenue.

Bei Alice Goffman ist die Sache einfacher und direkter und daher auch hier schneller erzählt: Ihr Buch IST ihre Arbeit, ihre Dissertation. Dass man auch das problemlos als Roman lesen kann, liegt gewissermaßen an ihrer wissenschaftlichen Methode, denn die besteht aus absoluter Immersion: Goffman schildert das permanente Leben auf der Flucht direkt aus seiner Mitte, sie flieht mit, wo immer ein Polizeiauto in den schwarzen Vierteln von Philadelphia um die Ecke biegt. Ihre These und ihr Anliegen ist dementsprechend auch noch schlichter und simpler als bei Venkatesh. Die These: Der Strafverfolgungsdruck hat junge schwarze Männer wie ihre Freunde Chuck und Mike noch nie davon abhalten können, ihre kleinen Drogengeschäftchen zu drehen, er wird sie nie davon abhalten, er hat einzig und allein das Leben in der Community zur Hölle gemacht, und er sorgt für sinnlos überfüllte Gefängnisse. Ihr Anliegen: Schluß damit.

In einer „methodischen Anmerkung“, die sich auch wiederum als literarisches Erzählstück eigenen Rechts erweist, schildert sie, wie sie, die Tochter des berühmten Soziologen Erving Goffman, überhaupt dazu kam. Wie sie sich für einen Kurs in Feldforschung bei der Mensa ihrer eigenen Universität verdingte, wo das Personal durchgängig schwarz ist und eine kluge, alte Chefin ein System entwickeln musste, um den Analphabetismus ihrer Leute zu kaschieren: Das Beschriften von

Sandwich-Verpackungen, das Finden der richtigen Stechkarte: alles wird da zum Problem, und das Genöle der weißen Studenten auf der anderen Seite des Tresens ist von hier aus sehr, sehr nebensächlich.

Allein diese Beschreibung des initialen Seitenwechsels ist großartige, genaue Literatur. Und dann erst einmal der Weg zurück: Die Panik, in Universitäts-Städtchen wie Princeton plötzlich wieder allein unter Weißen zu sein, deren Codes und Gerede sie nicht mehr versteht, die sie ängstigen, vor allem die Männer, und die auch sonderbar riechen… Denn Goffman hatte lernen müssen, lernen wollen, schwarz zu reden, sich schwarz zu benehmen, vielleicht sogar auf „schwärzere“ Weise Sex zu haben.

Das Problem, dass sie am Ende trotzdem weiß ist, eine steile akademische Karriere hat und ein hochgelobtes Buch, während Mike im Knast ist und Chuck erschossen: Das ist nun einmal selbst bei einer derart radikalen Parteinahme für das eigene Material nicht aufzulösen. Aber das gilt für Venkatesh auch und für jeden, der mit Sozialreportagen Journalistenpreise abräumt.

Ob an den soziologischen Fakultäten der Glaube an die Macht der großen Zahl durch die Wucht solcher Erzählungen wirklich ins Wanken gerät, muss man erst einmal abwarten. Aber für alle, die zur Zeit nach großen amerikanischen Romanen suchen und zwischen all den Familienerinnerungen weißer Mittelklasseautoren so recht keinen finden, ist diese neue Chicagoer Schule auf jeden Fall ein Segen.

Peter Richter

 

Eine gekürzte Variante dieses Textes erschien zuerst am 28./29. Mai 2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung

 

 

 

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