„Latin America in Construction“ im MoMA

Wie lange ist das jetzt her, dass der Künstler Alfredo Jaar den New Yorkern mit einer Leuchtreklame auf dem Time Square mitgeteilt hat, dies hier sei nicht Amerika – und dazu leuchteten erst die Umrisse der USA auf und anschließend, zur Richtigstellung, der ganze Rest des Doppelkontinents? Fast dreißig Jahre. 1987 war das. Geholfen hat es aber wenig. Immer wieder wachsen in den Vereinigten Staaten ganze Generationen nach, die, nennen wir es mal: irritiert darauf reagieren, dass es da draußen ganze Völker gibt, die ebenfalls den Anspruch erheben, Amerikaner zu sein und zwar durchaus auch im Sinne von: Neue Welt, Lobor einer freieren Zukunft.

Wenn das Museum of Modern Art jetzt den New Yorkern „Latin America in Construction – Architecture 1955 – 1980“ zeigt, dann hat man es mit dem Problem zu tun, dass es ganz offensichtlich Ausstellungen gibt, die so groß und so großartig, so übervoll und so überfällig sind, dass sie im Prinzip schon wieder eine Zumutung darstellen. Die moderne Architektur ganz Lateinamerikas zeigen zu wollen, ist das nicht eine fast schon kolonialherrenhafte Überheblichkeit? Wenn irgendwo „die Literatur Afrikas“ gewürdigt werden soll, kann man sich auf Protest verlassen: Als ob es da nur eine einzige gäbe. Es würde auch niemand auf die Idee kommen, die Architektur ganz Europas in eine Gesamtschau packen zu wollen. Und allein im Falle der Architektur von Brasilien, soviel lehrt hier schon der übrigens sehr gute Katalog, wären mindestens zwei einzelne Großausstellungen gerechtfertigt, eine zur swingenden Schule von Rio um Oscar Niemeyer und eine zu der ganz anders gearteten, auch philosophisch viel kantigeren von Sao Paulo. Von beiden wiederum sind Buenos Aires, Lima oder Havanna nicht nur geografisch sehr viele Meilen weit entfernt. Und der Titel der Ausstellung weist ja selber darauf hin, wozu der avancierte Einsatz von Architektur an allen diesen Orten im höheren Sinne zu dienen hatte: dem „Nation Building“. Aber alle diese stolzen, einander mitunter auch eisern abgeneigten Nationen verhalten sich eben so unmittelbar zu den USA wie bei Leopold von Ranke die Epochen zu Gott. Argentinier, Brasilianer oder Mexikaner kann man in Bezug aufeinander sein, in Bezug auf den Hegemon im Norden werden alle zu Latinos. Europa und vor allem die USA – und dort wiederum nicht zuletzt das Museum of Modern Art – sind der Spiegel, in dem sich die Lateinamerikaner lange über den Stand ihrer Modernitätsbemühungen (und den der anderen) informierten, wenn Barry Bergdoll folgt, der sich mit dieser Ausstellung aus dem Architektur-Department des MoMA endgültig in seine Professur an der Columbia University verabschiedet.

Er hat also den Katalog von „Brazil Builds“ in eine Vitrine gelegt, der Ausstellung, mit der Brasilien, der umworbene Alliierte im Zweiten Weltkrieg, hier 1943 zum eigentlichen Refugium der Moderne gekrönt wurde, während Europa und die USA allen möglichen Spielarten des Neoklassizismus anheimgefallen waren. Und Bergdoll erwähnt auch die Collage, mit der Henry Russell Hitchcock hier 1955 den Katalog zu der Ausstellung über die „Architektur Lateinamerikas seit 1945“ abschloss: das Bild einer kontinuierlich den Kontinent überspannenden Supergroßstadt, einer einzigen modernen Hochhausfassade von Buenos Aires bis Mexiko-Stadt. Bergdoll und sein Team paraphrasieren diese Collage in ihrem ersten Ausstellungsraum mit einer wirklich grandiosen Filminstallation auf sieben Leinwänden, die in einer weiten Kurve an den Verlauf der Landmassen erinnern sollen. Der Filmemacher Joey Forsyte aus Los Angeles war vom MoMA beauftragt worden, historisches Material über Buenos Aires, Montevideo, Rio, Sao Paulo, Caracas, Havanna und Mexiko-Stadt zu sichten und synchron zu schneiden. Und so sieht man nun simultan die Fabriken dampfen, die Menschenmassen quellen, die weißen Hochhäuser wachsen. Sind all diese Orte etwa doch nicht ganz so unvergleichlich?

Die Ausstellung macht hier einen Punkt, der in ihrer zeitlichen Begrenzung liegt: 1955 ist nicht nur das Jahr der letzten großen Lateinamerika-Rundumschau am MoMA, es ist auch die Zeit, in der das Vorbild einer tropischeren, schwungvolleren Moderne nach dem Beispiel Brasiliens von Europas puritanischer eingestellten Altmeistern, allen voran Max Bill, mit moralisierenden Argumenten zurückgewiesen wurde, was sie in gewisser Weise aber vielleicht auch nur um so frischer gehalten hat für ihre Wiederentdeckung ab den postmoderne-müden.Neunzigern. Vor allem ist es aber der Zeitpunkt, zu dem in allen diesen Ländern, ermutigt von Weltbank wie UNO, die Ideologie forcierter „Entwicklung“ blühte. Der Begriff der „Entwicklungsländer“ rührt daher. Wo spanisch gesprochen wurde, war von „Desarrollismo“ die Rede: Und der Glaube, dass mit staatlicher Initiative eine nachholende Industrialisierung in Gang gesetzt werden könnte, die aus dem Joch des ewigen Rohstoff-Lieferantentums am Ende zu mehr Autonomie und nationalem Wohlstand führen würde: Der drückte sich naturgemäß überall auch in der großen Anzahl babylonischer Bauprojekte aus. Bergdoll hat in den Eingang seiner Schau einen „Entwicklungs-Kalkulator“ gehängt, mit dem Gómez Gavazzo an der Universität von Montevideo vor seinen Studenten herumoperiert haben muss: eine Art Rechenschieber für Bauen und Wohlstand. Da hängt es nun wie ein schwer lesbar gewordenes Heiligtum einer verschütteten Religion.

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