Alter!

Der große, herrliche und auch offenbar sehr schlaue Vincent Damon Furnier. Schon dass er sich Alice Cooper nennt, wenn er auf der Bühne steht, elektrische Stühle besteigt, böse, böse, böse dreinschaut und, nicht zu vergessen, singt. Wie lange ist der jetzt in dem Geschäft? Genau genommen seit 1964. Da war er 16, und seine erste Band hieß The Spiders. Ein Jahr später sollten in Hannover die Scorpions gegründet werden. Man gab seinen Bands Tiernamen damals. So lange ist das schon her. Harter Rock, gestreifte Spandexhosen, effeminiertes Machotum: Das musste alles erst noch erfunden werden. Ein halbes Jahrhundert später steht er nun in der Rummelplatz-Geisterbahn, die er aus dem Rock’n’Roll gemacht hat und singt immer noch „School’s out – forever“, wie fast ganz an Anfang. Und in der Brooklyner Barclays Arena brüllen 18000 New Yorker in ihrem schönsten vokalverliebten Arbeiterklassen-Newyorkerisch „SchOOOOl’s OUt fOAEvA!“

Danach kann, eigentlich, nichts mehr kommen. Alice Cooper ist, eigentlich, natürlicher Höhe- und Endpunkt einer Show, weil er schließlich ja auch Erfinder und Ausgangspunkt des Prinzips Rock für die Ohren plus Theater fürs Auge war. Aber hier ist er mal nur das Vorprogramm, und in der Hauptsache geht es um die Band Mötley Crüe.

Die großen, herrlichen und in ihrer Gesamtanmutung immer auch ein wenig einfältigen Mötley Crüe. Superstars der Achtziger, 50 Millionen verkaufte Alben: Selbst wer nichts anfangen kann mit südkalifornischem Glam-Metal, Hair-Metal, Poser-Metal oder wie auch immer man das genannt hat in jenen jahren, selbst der hat die irgendwann, irgendwie mal mitbekommen müssen. Denn Mötley Crüe, das hieß: noch mehr Glamour, noch mehr Haarspray, noch mehr Gepose als alle anderen. Und natürlich auch noch mehr finster aussehen wollende Metal-Umlaute auf dem Namen als die Konkurrenz (- aber sich dann wundern, dass sie in Deutschland immer auf Sächsisch angesprochen werden.) Dafür, dass man ihr gar nicht entgehen konnte, hat schon der unendlich viele Klatsch gesorgt, der von dieser Band fast noch eifriger produziert wurde als Schallplatten: die gescheiterten Ehen mit all den Stripperinnen, Pornodarstellerinnen und Pamela Andersons, die sich überhaupt nur auf die Harley hieven ließen beim Herumknattern durch Los Angeles, die Drogeneskapaden, Haftstrafen und privaten Sexfilmchen, die da über die Jahre an die Öffentlichkeit gelangt waren. Dagegen konnte man die Ohren selbst, wenn man wollte, so wenig verschließen wie gegen die Musik, die als Soundtrack zu diesen Krawallnachrichten mitkam. Es geht in den Songs ja praktisch auch exakt um das gleiche: Girls und Gaudi. Selten mal waren Kunst und Leben kongruenter.

Und nun, nach fast 35 Jahren, die große Abschiedstournee. Die definitive. Das letzte Mal New York. Für immer. Nie wieder wird Vince Neil die Leute hier freudig als „Motherfuckers“ begrüßen. Nie wieder Tommy Lee kopfüber in seinem Achterbahn-Schlagzeug auf die Pauken hauen.

Sind das also Momente der Rührseligkeit? Und wie.

Rührend ist zum Beispiel der Gesichtsausdruck von Vince Neil, als er fragt, für wie viele hier, diese letzte Show von Mötley Crüe zugleich die allererste ist, und ungelogen die Hälfte der Leute in der Riesenhalle ihren Arm hochreißen. Die Hälfte!

Es ist in diesem Augenblick, in diesem Gesichtsaudruck, zu ahnen, dass dieser Abschied auch ein Anfang sein könnte.

Aber in solche Zeitlöcher stolpert, wer in New York Rockkonzerte besucht, dauernd.

Man kann in dieser Stadt jeden Abend in der Woche an zig Orten Bands sehen, sehr bekannte für sehr viel Geld, oder für nur zehn Dollar gleich fünf oder sechs neue am Stück. Von vielen wird man nie wieder etwas hören, aber alle tun selbst vor drei, zwei oder noch weniger Zuschauern so, als hätten sie gerade den ausverkauften Madison Square Garden zu rocken. Das beleidigte Muggertum deutscher Musikanten, man wird es hier nicht finden. Schon ganz junge Bands gehen ihre Shows an, als wäre es ein paar hundert Millionen verkaufte Platten später der grandiose Abschied. Da muss man sich nicht wundern, wenn Abschiedsshows wirken wie der Start in eine Karriere. Es kann einen nur zeitachsenmäßig in Verwirrung stürzen.

Vor ein paar Wochen traten zum Beispiel in einem Brooklyner Metal-Club eine Handvoll Bands auf, die klangen und aussahen, als wären wir im Jahr 1969 beim Vorprogramm für Led Zeppelin – psychedelischer Hardrock mit Hammondorgeln, Bärten, allem Drum und Dran. Wir waren aber im Jahr 2015, und das waren blutjunge Kerlchen.

So als mittelalter Sack steht man dann da und denkt sich: Alter, Alter, Alter – die da vorne könnten sowohl deine Eltern als auch deine Kinder sein.

Wie man in so etwas reingerät? Weil man zuvor bei einer wirklich alten, musikstilistisch aber viel jüngeren Band, keine Karte mehr bekommen hat.

Government Issue würden irgendwo in Bushwick spielen, hatte jemand geraunt. DIE Government Issue – Straight Edge Washington D.C.-style Hardcore wie um 1980? Genau die, hatte es geheißen. Und dann sagt der Türsteher: Sorry, ausverkauft, habt Ihr keine Karten im Internet bestellt?

Man wäre bereit gewesen, sich ein X auf die Hand zu malen und keinen Alkohol zu trinken, wie man das aus den Geschichtslehrwerken zum amerikanischen Punkrock gelernt hat. Aber die Punks von heute bestellen Government-Issue-Karten im Internet und haben dann Zeit, Bio-Bier in sich hineinzukippen, das von barfüßigen Bartmönchen in irgendeinem Hinterhof der Nachbarschaft handgehopft wird. So kann es kommen.

Die Denkmalschutzdoktrin nach Georg Dehio verlangt, dass möglichst viel Originalsubstanz erhalten bleiben sollte. Auf Rockbands angewendet stellt sich nur die Frage, ob das originale Personal substantieller ist oder das, was es den Leuten mal bedeutet hat. Die musikalische Substanz eines Frühwerks ist ja manchmal bei Coverbands fast besser aufgehoben, wenn die Originale im Alter auf die oft unvorteilhafte Idee kommen, mit der Zeit gehen zu wollen. Am wenigsten original ist aber generell das Publikum, das immer gern alles so original und früher wie möglich hätte, dann allerdings die Mobiltelefone zwischen sich und ihr Erlebnis halten wie einen Schutzfilter gegen die alte Intensität.

Diejenigen, die – um nur mal ein ein paar Beispiele für das Wiederauftauchen alter Heroen aus den letzten Wochen hier zu nehmen – am letzten Sonntag den Auftritt der Post-Metal-Band Neurosis in Brooklyn mehr oder weniger komplett mitgefilmt haben, werden später auf den Aufnahmen vor allem sehen, dass Scott Kelly inzwischen auch als Santa Claus arbeiten könnte mit seinem immer weißer werdenden Rauschebart; von seiner schmerzforscherischen Arbeit auf der Gitarre wird die überforderte Tonspur dagegen wenig wiedergeben können, davon werden sie im Konzert auch wenig gehabt haben vor lauter Konzentration aufs Filmen. Aus Angst vorm Verwackeln der Aufnahmen sind Rockshows, auf denen es früher im Publikum zuging wie beim Wrestling, heute oft steifere Veranstaltungen als ein Sinfoniekonzert.

Und das trifft auch ganz andere Musikrichtungen. Als der große, herrliche und mitunter aber auch recht mürrische Afrika Bambaataa vor ein paar Wochen in einem Club in Williamsburg auftrat, schaute er missbilligend in die ihm entgegengehaltenen Smartphones. Dann legte er die Hände auf die Plattenteller, schrubbte ein paar Mal wütend hin und her, als stünde er an einem Waschbrett, und dann ließ er extrafunkigen Discofunk laufen, denn Leute, die tanzen, filmen mal nicht, sondern sind einfach nur.

Die Pixies wiederum hatten das Problem bei ihren Gastspielen im Frühjahr so gelöst, dass die Scheinwerfer sie durchgängig nur von hinten anstrahlten. Das Publikum sah vier schwarze Musikervorderseiten, und was es hörte, war vor allem eine Rückkopplung ins Jahr 1990. Das war erst ganz schön, und dann aber auch ein bisschen schade, denn nicht nur die Bassistin ist ja inzwischen eine andere, das gilt vermutlich fast noch mehr für Frank Black, den Bandleader, selbst.

Und bei Mötley Crüe?

Eine junge Band, die Haarspray-Metal im Stil der Achtzigerjahre spielte, würde vielleicht die Entfesselung zu sehen bekommen, die die jungen Mötley Crüe zu sehen bekommen haben. Die echten Mötley Crüe blicken bei ihrem Abschied in 18000 Handykameras, hochgehalten in dem dokumentarischen Eifer des „Dass ich das noch erleben darf.“ Auf 18000 New Yorker Smartphones befinden sich jetzt Aufnahmen, die zu krachenden Soundfetzen einen Nikki Sixx am Bass und einen Tommy Lee hinter dem Schlagzeug zeigen, wo sie immer noch den Eindruck machen, dass sie nach dem Konzert umgehend in den nächste Stripclub müssen, um sich wieder abzuregen. Man sieht dann aber auch: Mick Mars steht hinter seiner Gitarre so unbeweglich wie seit Jahren schon, weil die Knochenkrankheit Morbus Bechterew ihn dazu zwingt. Diese Krankheit in dieser hippeligen, für immer pubertierenden Band, das ist ein bisschen wie der Tod in Arkadien. Mick Mars’ Krankheit wird auch als Grund dafür angegeben, dass nach dieser letzten, langen Tour Schluss sein soll. Er selbst beteuert immer, er sei fit genug zum Spielen. Er ist jetzt 60. Nach anderen Angaben sogar 64. Da sollte ein Gitarrist eigentlich einfach nur zum Spielen auf der Bühne stehen dürfen und nicht auch noch den sogenannten Larry machen müssen. Aber es geht bei Mötley Crüe eben nicht so sehr um die Musik, es geht schon auch sehr wesentlich darum, dass diese Show glaubhaft als das Vorspiel herüberkommt für alles, was die Groupies nachher hinter der Bühne zu Ende bringen mögen. Es ist Rockstar-Rock als selbsterfüllende Prophezeiung. Das kann mit der Zeit aber auch zur Falle werden, was nicht nur am Älterwerden der Band liegt. Gibt es das denn heute überhaupt noch – Groupies? Es gibt in New York ja noch nicht einmal mehr wirklich viele Stripschuppen. Mötley Crüe haben möglicherweise einfach begriffen, dass sie dabei sind, als Ganzes zu fossilieren.

Alice Cooper hat sich in diese Authentizitätsfalle gleich von vornherein überhaupt nicht erst hineinbegeben. Bei Alice Cooper war von Anfang an alles immer theaterhaftestes Theater. Auf der Bühne rollen die Köpfe, privat rollen die Golfbälle. Auf der Bühne wird mit blutsudelnden Krankenschwestern rumgemacht, privat ist er seit 100 Jahren mit derselben Frau verheiratet, angeblich glücklich. Die Band ist alleine er, die Musiker können nach Bedarf ausgewechselt und verjüngt werden. Und wenn er bei der Geburt von Rockspektakeln wie Mötley Crüe schon mit an der Wiege stand, dann kann er jetzt auch den Sterbebegleiter spielen.

„Wem dieses Überleben oft gelingt, der ist ein Held“, schreibt Elias Canetti. „Er hat mehr Leben in sich. Die höheren Mächte sind ihm gewogen.“

Alice Cooper sieht sein Geschäft als Langlebigkeitswettbewerb, er will auf jeden Fall länger auf der Bühne stehen als Mick Jagger von den Rolling Stones, hat er mal angekündigt.

Das wird also noch eine Weile dauern.

Und wenn es dann soweit ist, spielen zu seinem Abschied sicher gerne die Scorpions.

 

(c) PETER RICHTER

Eine stark verkürzte Variante dieses Textes erschien zuerst am 17.8.2015 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung