Am Ende seiner Autobiografie schreibt Nile Rodgers, Gitarrist und Produzent einiger der größten Verkaufserfolge in der Geschichte der Tanzmusik, fast beiläufig, dass er Krebs habe. Das Buch erschien 2011, da war er 58.
Vier Jahre später steht er nun auf einer Festivalbühne, die sie auf sein Geheiß hin 130 Kilometer vor New York in die Wiesen von Riverhead auf Long Island gesetzt haben, und verkündet, er sei die Krankheit wieder los.
Neben ihm steht Pharrell Williams, Sänger und Produzent einiger der größten Verkaufserfolge der Tanzmusik von heute, und sagt: „Dieser Mann lodert; seine Kreativität hat den Krebs aus seinem Körper gebrannt.“
Rodgers erzählt, wie er nach der Diagnose beschlossen habe, noch so viel Musik zu machen, wie möglich. Und wie er deshalb eines seiner forellenhaft fischelnden Gitarrenriffs an ein französisches Duo weitergab, das gleichzeitig vom Kollegen Williams mit einer fröhlichen Melodie bedacht wurde. Wie die Geschichte weiterging, hat man inzwischen bereits ein paar Milliarden Mal hören dürfen: Daft Punks „Get Lucky“ wurde zum Superhit der Jahre 2013ff.
Pharrell Williams weiß, dass er seine Stimme hier in Quecksilber baden darf, wodurch der Refrain zusätzlich mit Glanz besprenkelt wird, während die etwas weniger inspirierten Strophen dankbar abtauchen können. Er sagt Nile Rodgers deshalb, ABBA zitierend, „thank you for all the music.“ Und dass er jederzeit alles von ihm haben könne. „Du musst nicht mal fragen; du musst nur sagen, was.“ Rodgers entgegnet, dass er vor Rührung gleich ausflippt. Er benutzt also die Worte „freak out“. Dass das nun exakt der Schlachtruf war, mit dem Rodgers schon Ende der Siebziger die Welt zum Tanzen verdonnert hatte, das ist kein Zufall, es ist Kontinuität.
Während Pharrell Williams singt, spielt Nile Rodgers die gleiche typische Nile-Rodgers-Gitarre, mit der er zuvor „Dance, Dance, Dance“ gespielt hat, das „Get Lucky“ des Jahres 77, und zwar mit einem Orchester, das er wieder „Chic“ nennt, so wie seine Band früher, von der heute nur er noch übrig ist. Weil eine neue Platte von Chic zwar angekündigt, aber noch nicht erschienen ist, kann man nach diesem Abend nur sagen: Die neuen Chic spielen die alten Lieder so wie die alten Chic sie gespielt hätten, wenn die eine Big Band gewesen wären. Sie spielen allerdings auch „Get Lucky“ wie das Elektro-Duo Daft Punk, wenn das eine Big Band wäre.
Weil Pharrell Williams nach zwei ähnlich frohgemuten Stücken auch schon wieder verschwunden ist, gibt es dann bei ein paar Leuten auf der Wiese bei Riverhead kurz ein klitzekleines bisschen Gemurre.
Aber das verkennt, worum es an diesem Abend geht, und um wen. Pharrell Williams mag zur Zeit einer der größten Popstars dieser Erde sein. Nile Rodgers ist seit fast vierzig Jahren der Mann, der die größten Popstars ihrer Zeit noch einmal ein gehöriges Stück größer gemacht hat. Dieses Festival hat er FOLD genannt, weil das ein Akronym ist aus „Freak Out“ und „Let’s Dance“, dem Hit, mit dem er David Bowie 1983 so viele neue Hörer besorgt hatte, dass es gar keine Rolle spielte, wie viele alte Bowie-Fans danach eher keine mehr waren. Es ist Rodgers’ Festival, er ist der Veranstalter, also spielt er praktisch auch bei allen Gitarre, die er als Gäste geladen hat. Das führt am Ende dazu, dass sogar der zurückhaltende Scientologen-Sänger Beck („Loser“) mal zu einer gewissen Munterkeit gezwungen wird. Gemurre gehört aber auch gar nicht zu den Geräuschen, die in Nile Rodgers akustischer Welt irgendeinen Platz hätten.
Das weiß man aus seiner Autobiografie, in der er von seinen heroinsüchtigen Beatnik-Eltern im West Village erzählt, von seinen Zurückweisungen als Schwarzer und von seinen Erfolgen, von unfassbaren Mengen an Drogen und Sex im Nachtclub Studio 54, aber auch von der Sucht, die er überwunden hat, und vom Tod, der die Einschläge näher rücken lässt. Seine Antwort auf Herausforderungen ist offenkundig wie zuletzt beim Krebs: das Problem wegbrennen, und zwar mit Musik.
Kann man sagen, dass Nile Rodgers der sympathischste, wenn nicht sogar liebenswerteste Superpopstar ist, den es auf dieser Erde gibt? Es muss jedenfalls herrlich sein, durch seine Augen auf die Welt zu schauen. Andere Augen würden da in Riverhead womöglich eine Wiese sehen, auf der sich 3000 Leute verlieren, obwohl mit 10000 kalkuliert wurde. (Und am nächsten Tag, als er Chaka Khan und Duran Duran zu Gast hat, werden es noch mal 1000 weniger sein.). Rodgers aber freut sich über jeden, der da ist, bittet wegen eines Sturmes, der den Aufbau verzögert hat, um Nachsicht, dass er sich nicht umziehen konnte, und widmet sich dann seiner Freude beim Musizieren. Richtige Duelle liefert er sich mit dem Countrysänger Keith Urban. Immer wenn dessen Rockgitarre ein Klageliedchen anstimmen will, ruft Rodgers mit seinem aufmunternden Funk wieder zu Ordnung und Optimismus. Es gibt in seinem Buch ein Foto,das zeigt ihn mit seinem Party-Kumpel Billy Idol in den frühen Achtzigern. Der Pop-Punker aus England hält seine Faust in die Kamera, Rodgers tut das
auch, aber er kann nicht anders, er reckt aus Versehen den Daumen hoch dabei.
Ganz kurz wünscht man sich, es könnte bei seinem Superhit „Le Freak“ wenigstens einmal nur das gesungen werden, was nach Rodgers Aufzeichnungen die Urversion des Textes war. Nicht die animateurmäßige Anweisung „Freak Out!“, sondern ein rüdes „Fuck Off!“. Rodgers und sein Bassist Bernard Edwards hatten das Stück geschrieben, nachdem sie vor der Tür des Studio 54 abgewiesen worden waren. Aber dann ist es auch wiederum ganz richtig so, wie es jetzt ist, denn es wollte ja nichts anderes, als immer nur wieder hinein in diese Disco. Es wurde am Ende der Inbegriff für die Art von Musik, die man gleich selber Disco nannte. Und diese Musik erteilt strengere Mitmachbefehle als ein kommunistischer Jugendfunktionär; ein Danebenstehen ist nicht vorgesehen, ein kühles Zuschauen von außen schwierig. Deshalb muss sie ja bis heute dauernd zur Beschallung von Hochzeiten und Betriebsfeiern herhalten.
Wenn man sich nämlich herauszieht, um sich das Ganze gleichsam von hinten zu betrachten, dann kann man in eine merkwürdige Katerstimmung geraten. Das also ist nun das Woodstock von Disco: 3000 Menschen wippen in den Knien, 99 Prozent weiß und, soweit man das an den mitgeschleppten Kindern ablesen kann, zu 99 Prozent heterosexuell. Sommerfrischler aus den Milliardärsbadeorten in den Hamptons und lokales Landvolk, das sich freut, weil mal was los ist. Aber vielleicht ist das gar nicht so überraschend. Im Studio 54 waren die Schwarzen und die Schwulen, als deren originäre Musik Disco immer gilt, auch nur die sparsame Dekoration gewesen. Und Riverhead ist vor allem dadurch in die Populärmythologie eingegangen, weil Tom Wolfe hier einst ein Car Demolition Derby beschrieben hat, die Gaudi von Leuten, „die sich bei Autorennen die langweiligen Stellen zwischen den Crashs sparen wollten“. („Clean Fun at Riverhead“)
Solche Lust an der Zerstörung ist Nile Rodgers so fremd wie jede Negativität. In seinem Buch und in Interviews kommt immer noch Entsetzen zum Ausdruck, dass 1979 in Chicago bei einer „Disco Demolition Night“ Platten von Chic und den Bee Gees zertrümmert wurden. Die Pophistoriker haben sich angewöhnt, die „Disco Sucks“-Bewegung als homophobes und rassistisches Ressentiment von Rockdödeln aus dem Mittelwesten wegzuerklären. Und davon gab es sicher viele. Könnte allerdings trotzdem sein, dass sie es sich damit bisschen einfach gemacht haben. Könnte sein, dass für viele gar nicht das Schwul- oder das Schwarzsein das Problem war, sondern das Weiß- und Mainstreamsein, die Ubiquität, die Unentrinnbarkeit. Selbst James Brown hatte ja so seine Gründe, Disco nicht zu mögen. Heute wird einem Disco immer vor allem als politische Emanzipationsbewegung neu verkauft, als Punk für Besserangezogene mit speziellen Beischlafinteressen. Kann sein, dass Disco das auch mal war. „Jimmy Somerville hat mit seiner Platte Retro-Disco-Platte „Homage“ in diesem Frühjahr diesem Aspekt ein Denkmal gesetzt. Und vor lange davor hatte schon Isaac Julien mit „Young Soul Rebels“ in diese Richtung gewiesen, um der Linken den Widerwillen und den Hohn auszutreiben, der sie spätestens bei „Saturday Night Fever“ gepackt hatte, dem Film, der am viel nachhaltiger das Bild von Disco bei den Massen bestimmt haben dürfte als alles andere. Könnte es nicht sein, dass die Aversion, semiotisch gesprochen, bei vielen weniger die durch die Mainstreamwerdung ohnehin verschüttet gegangenen Signifikate betraf, als einfach nur die Signifikanten, das primäre Musikerlebnis? Gitarren, die klingen, als ob jemand ein Hühnchen mit sich selbst zu rupfen hätte, zähneklappernde Hi-Hats, aufgekratzte Bläsersätze, von sich selbst begeisterte Redundanz, und alles – die Tonhöhen, die Daumen, sogar die Hosenbünde – kennen nur eine Richtung – up!: Nile Rodgers beschreibt die Rolle der Feierdrogen bei der ganzen Sache in seinem Buch recht eindringlich. Könnte es nicht also sein, dass die Aversion gegen Disco wenigstens zum Teil auch ganz einfach die Aversion derer war, die das euphorische Geplapper der Druffis an sich abregnen lassen müssen, während sich über ihrem Alltag eher keine Diskokugel dreht? Und die auch politisch nüchtern genug sind, um zu ahnen, dass die Türsteher vor den Studios 54 dieser Welt schon dafür sorgen werden, dass das genau das nicht passiert, was von da drinnen her pausenlos in höchsten Tönen propagiert wird, nämlich „Everybody Dance“, auch so ein Titel des großen Nile Rodgers.
Dort in Riverhead sieht man nun die Art von stämmigen weißen Cowboyhutträgern, die vor
36 Jahren noch massenhaft „Disco sucks“ auf ihren T-Shirts stehen hatten, fröhlich johlend zu Rodgers’ exaltierter, spitz moussierender Musik in die Hände klatschen wie Bierbrauer beim Sektempfang.
Aus der Perspektive der Getränkestände und Dixie-Klos schießt einem kurz die Frage durch den Kopf, ob ein bisschen mehr Abgrenzung und „Fuck Off“ dieser Musik nicht besser bekäme, von außen wie vor allem von innen.
Aber das ist aus Sicht von Nile Rodgers, der da vorne auf seiner Bühne sich selbst und ein paar tausend anderen einen schönen Abend macht, sicher ein absurder Gedanke.
Und wer die Gitarre hält, hat Recht.
(c) PETER RICHTER
Eine wesentlich kürzere Version dieses Artikels erschien zuerst am 7. August 2015 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.