Einen Satz bilden, in dem Bach, Bruch, Schumann und der U.S. Fish and Wildlife Service vorkommen? Kein Problem. Leider. Hört man im Moment sogar recht häufig. Und zwar muss man sich diese Sätze überwiegend als geseufzt vorstellen.
Deshalb zunächst einmal zum guten Teil der Nachricht: Die Berliner Philharmoniker waren in New York, und sie hätten, wenn es nach den New Yorkern gegangen wäre, gern noch länger bleiben können. Dabei war das schon eher das, was man hier eine „residency“ nennt, als einfach nur ein Gastspiel: Eine ganze Woche lang war das Orchester in der Stadt, so gut wie jeden Tag gab es einen Auftritt, und zuletzt hatten sie sogar ihre szenische Inszenierung der Matthäuspassion auf die Bühne der Park Avenue Armory gebracht – mit dem Ergebnis, dass der Musikkritiker der Times fand, das hätte 14 Tage hintereinander aufgeführt werden müssen, mindestens, und nicht nur an zweien. Schwarzmarktpreis für die Karten, voller Ernst: 3500 Dollar. Selbst die in letzter Minute für das Publikum noch geöffnete Generalprobe war hoffnungslos überbucht. Die New Yorker Presse hatte die Passion schon vorher zum größten Musikereignis des Jahres erklärt, und das war es allein schon wegen des technischen Aufwandes. Die Park Avenue Armory ist eine Riesenhalle, in der im 19. Jahrhundert die Regimenter aus der Upper East Side ihren militärischen Drill erhielten. Dort hatte das Lincoln Center als Veranstalter nun eine siebzigprozentige Kopie der Philharmonie einbauen lassen: Nicht ganz die 2400 Plätze von Berlin, sondern nur 1700, die allerdings genauso weinbergsmäßig um die Bühne herumgeordnet wie in dem berühmten Bau von Hans Scharoun. Nicht einmal die Schallsegel über der Bühne waren vergessen worden. Das Musikereignis des Jahres war das für New York aber auch wegen der von Peter Sellars aus dieser Architektur abgeleiteten Inszenierung, dieser räumlichen und emotionalen Inklusion des Publikums mitten ins Heilsgeschehen und ins Musizieren. Und das Musikereignis des Jahres war es wegen der Sänger. (Neben dem Rundfunkchor Berlin immer noch die gleiche, offensichtlich auch nach schauspielerischen Charaktertypen gecastete Riege von Solisten wie bei der Uraufführung vor vier Jahren in Berlin. Nur für Thomas Quasthoff, der sich zur Ruhe gesetzt hat, sang der Amerikaner Eric Owens, dem man dermaßen wörtlich abnahm, dass er seinen Jesum wiederhaben/selbst begraben/ihm das Kreuz abnehmen wollte, dass man hier praktisch mit dem sonst eher von barocken Devotionalskulpturen bekannten Phänomen des emotionalen Hyperrealismus konfrontiert war.)
Und dann spielten natürlich nicht zuletzt Sir Simon Rattle und seine Philharmoniker eine gewisse Rolle dabei, dass man diese Matthäuspassion auch die von der New York Times geforderten 14 Mal hintereinander hätte ausverkaufen können. Sie hätten ja auch ihre Schumann-Sinfonien in der Carnegie Hall noch häufiger ausverkaufen können, wenn sie länger hier geblieben wären (und Schumann mehr Sinfonien geschrieben hätte.) Sogar die amerikanische Uraufführung der „dark dreams“ des Österreichers Georg Friedrich Haas fand genügend Bewunderer, um jedes empörte Buh auf der Stelle in ein umso enthusiastischeres Bravo zu wickeln. Die sogenannte Spektralmusik von Haas suggerierte im Wesentlichen, dass einem die monströsen Fledermausschwärme aus Goyas „Schlaf der Vernunft“ hart um den Kopf flattern, und das fand offensichtlich nicht nur Freunde in der Carnegie Hall.
Dafür hatten die Philharmoniker für die besonders wohlhabenden Gönner der Halle zu deren offizieller Saisoneröffnung letzten Mittwoch ein regelrecht kulinarisch kalkuliertes Kurzprogramm: Rachmaninows Sinfonische Tänze, den Schluss von Strawinskis Feuervogel und eine Anne-Sophie Mutter, die dem Bruch’schen Violinkonzert immer noch, was sehr hinreißend ist, den Schwung eines trotzigen kleinen Mädchens gibt. Danach konnte man ungefähr den Gegenwert des deutschen Bruttoinlandsproduktes die Treppen der Carnegie Hall dinnerwärts herunterrauschen sehen: Ronald Lauder, der Kosmetikerbe, und Larry Silverstein, der Immobilien-Mogul, und wie diese reichen, oft betagten Menschen alle heißen, auf deren runden Schultern nun einmal die Finanzierung des amerikanischen Kulturbetriebes ruht, und sie schienen von der Musik exakt so euphorisiert, wie das einer anschließenden Spendengala gut tut.
Kann man also sagen, dass das Gastspiel der Berliner Philharmoniker in New York ein Erfolg war? Es sieht ganz so aus.
Kann man sagen, dass es sich gelohnt hat? Auch das. Die Unternehmung hat etliche Millionen Dollar gekostet, schon wegen der Matthäuspassion, aber die New Yorker haben sich leisten wollen, und die Philharmoniker sind eines der wenigen Orchester, denen man nicht nachsagt, dass sie mit Verlust von Amerika-Tourneen zurückzukehren. Hat der Steuerzahler in Berlin was davon? Unbedingt. Weil es nicht schaden kann, wenn sich für die Amerikaner mit Berlin gelegentlich auch mal wieder Dinge wie Perfektion und Brillanz verbinden und nicht immer nur Fetischpartys und Wenigarbeitenmüssen (die Berlin-Berichterstattung der New Yorker Medien handelte im vergangenen Jahr eigentlich fast nur noch von den Toiletten im Technoclub Berghain.)
Und hat es das Musikleben von New York bereichert? Von den New Yorkern hört man: Ja. So unverschwiemelt und deswegen so klar und reich haben viele hier zum Beispiel die oft ein bisschen belächelten Schumann-Sinfonien noch nie gehört, vor allem nicht die vierte, die Rattle in ihrer früheren Fassung präsentierte. Man kann also ziemlich sicher sagen: Diese Reise war für alle Seiten eine gewinnbringende und beglückende Angelegenheit.
Nur der US Fish and Wildlife Service – der war nicht so begeisterungsfähig.
Bis vor kurzem hätten vermutlich auch die meisten Orchestermusiker angenommen, dass das eine Behörde ist, bei der man vielleicht seinen Angelschein beantragen muss, aber nicht die Erlaubnis, in den USA sein Instrument zu spielen. Nun ist es jedoch so, dass es seit Jahrzehnten ein internationales Artenschutzabkommen gibt, die „Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora“, kurz: CITES. Geschützt ist unter anderem das Elfenbein aus Elefantenstoßzähnen. Die Bögen von Streichinstrumenten haben traditionell aber oft daumennagelgroße Spitzen aus Elfenbein. Das war im internationalen Klassikgeschäft solange kein Problem, bis der US Fish and Wildlife Service beschloss, radikal durchzugreifen, und jegliche Einfuhr von Elfenbein, auch in Daumennagelgröße, in diesem Winter erst total verbot und im Frühjahr ausnahmsweise für historische Musikinstrumente und Kunstgegenstände wieder erlaubte – wenn detaillierte Kauf- und Herkunftsbelege beigebracht werden. Das ist in der Praxis aber oft gar nicht möglich. Da haben es Museen noch einfacher. Aus den Dresdner Kunstsammlungen, wo im Grünen Gewölbe etliche Elefantenzähne lagern, die vor vierhundert Jahren zu Skulpturen, Schmuck, Trinkgefäßen verarbeiten wurden, heißt es, dass im Moment ohnehin keine Leihgaben in die USA anstehen, im Zweifel aber alles gut genug dokumentiert sei, um auch den Fish and Wildlife Service zufriedenzustellen. Bei alten Instrumenten und Bögen ist das anders. Zuviele Besitzer, zuviele ausgetauschte Teile.
Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks war schon bei seinem Gastspiel im Mai hier betroffen. Dort wollte und will man aber aus diplomatischen Gründen keine große Sache daraus machen. Das gleiche hört man jetzt bei den Berliner Philharmonikern. Deren Intendant Martin Hofmann sagt allerdings, dass der bürokratische Mehraufwand eine ganze Abteilung über Monate beschäftigt hat. Bei etlichen Musikern auch erfolglos. Ein Bogen ist am Flughafen tatsächlich eingezogen worden. Eine ganze Menge der Streicher hat ihre hochwertigeren Instrumente deswegen lieber zu Hause gelassen, und die Bögen, die ja manchmal teurer sein können als die Geige oder das Cello, erst recht. Zwanzig von ihnen hat dann in New York Christophe Landon einen von seinen Bögen geliehen. Die restlichen, sagt Landon, spielten einfach Karbonbögen für 50 Dollar.
Christophe Landon, „Rare Violins“ steht an seiner Tür im sechsten Stock eines Hochhauses an der Upper West Side, ist Geigenbauer und Geigenhändler, und wenn er so darüber ins Reden kommt, mit seinem französischen Akzent, dann klingt es wie ein mittelschwerer Kulturkonflikt zwischen der musikalischen Tradition Europas und dem Rechtsrigorismus Amerikas. „Ich war das erste Opfer“, sagt er. Vor drei Jahren hatten sie ihm auf einmal sieben Bögen konfisziert, einige davon nicht mal sein Eigentum. Gesamtwert: 240000 Dollar. „Es ist noch nicht mal klar, ob es wirklich Elfenbein ist. Es ist weiß. Es könnte Mammut sein. Oder Kuhknochen. Man bräuchte ein Labor. Vorsichtshalber konfiszieren sie es.“ 10000 Dollar habe der erste Anwalt gekostet, mit dem er versucht hat, die Bögen wieder zu bekommen, 50000 der zweite. Er würde die alten Spitzen, Elfenbein oder was auch immer, ja liebend gerne rausnehmen, Elfenbein, erklärt er, ist, weil brüchig, noch nicht einmal ein besonders taugliches Material. Aber man lasse ihn nicht. Vor zwei Jahren sei er dann laut geworden. Die New Yorker Philharmoniker führen bei ihren Tourneen dauernd hunderte Bögen ein und aus – und seine Bögen konfiszieren sie, ob das rechtens sei?
Daraufhin bekam er seine Bögen trotzdem nicht wieder. Sondern seither wird das Gesetz mit der vollen Härte auch auf die Orchester angewandt.
„Ich habe das also auch noch ausgelöst“, sagt Landon. Und dass er jetzt vorsichtshalber überhaupt nichts mehr verbaut, das weiß ist und für Elfenbein gehalten werden könnte. Mit den Hölzern werde es aber auch schwierig, Palisander aus manchen Gegenden ist geschützt, aus anderen nicht, der Nachweis schwierig, und die Beweislast liegt offenbar nicht bei der Behörde… „Die Konsequenz? Die Europäer reisen mit minderwertigen Instrumenten an; New York bezahlt Millionen von Dollar, um die Berliner Philharmoniker zu holen, und die spielen hier auf Billigbögen!“
Genau das ist nun der Eindruck, den die Berliner vermeiden wollten: In der Siebzigprozent-Philharmonie nur als Siebzigprozent-Philharmoniker angetreten zu sein. Am Ende pflegt die ganze Angelegenheit mal wieder den Mythos, wonach dieses Orchester vermutlich selbst auf Gießkannen noch ganz passable Konzerte hinbekommen würde: Tatsächlich ist dieses Handicap in New York nicht aufgefallen, es konnte ausgeglichen werden. Auch Christophe Landon hat in den Konzerten einen Qualitätsverlust nicht wirklich hören können. Aber ein Handicap ist es trotzdem, und zwar kein geringes, wenn man sich vor Augen hält, wie elementar für einen Streicher der gewohnte Bogen ist. Das US Fish and Wildlife Service ist jedoch, wie es aussieht, nicht unbedingt eine Sammlungsbewegung von Klassik-Liebhabern, sondern eine Behörde, die schematisch ihre Vorgaben umsetzt.
Deshalb wollen die verschiedenen europäischen Orchesterverbände dieses Problem am 16. Oktober der EU-Kommission vortragen, in der Hoffnung, dass die bei der US-Regierung eine generelle Ausnahme für alte Musikinstrumente erwirkt. Gerald Mertens, der Geschäftsführer der deutschen Orchestervereinigung, sagt am Telefon, dass bisher schon die Beschaffung der Arbeitsvisa für jedes einzelne Orchestermitglied vor einer Amerika-Reise aufwendig und teuer genug war. Wenn diese Zusatzbürokratie nun dazu führt, dass Orchester künstlerische Abstriche machen oder gar nicht mehr zu ihnen reisen, dann würde das sicher auch nicht im Interesse der Amerikaner liegen.
Vielleicht, wer weiß, kann bei diesen transatlantischen Konsultationen dann auch mal die Frage geklärt werden, wie auch nur einem Elefanten von heute überhaupt das Leben gerettet werden soll, indem man Geigenbögen von vor zweihundert Jahren in den Schredder schiebt.
(c) Peter Richter
Dieser Text erschien zuerst Anfang Oktober 2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung