Ebola in New York City

„Take the A Train“, das ist dieser Jazz-Standard aus den Dreißigern, den Duke Ellington mit seinem Orchester bekannt gemacht hat. Einerseits. Andererseits ist es aber auch etwas, das jeden Tag Tausende von New Yorkern tun. Die Züge der U-Bahnlinie A fahren nach Harlem. Da kam der Jazz her, dort wohnten traditionell viele Schwarze. Dort wohnen auch heute noch viele Schwarze, aber inzwischen wohnt dort auch viel weißer Mittelstand. Junge Mediziner zum Beispiel, wie jener Doctor Craig Spencer, 33 Jahre alt, der bis vorletzte Woche noch für Ärzte ohne Grenzen in Guinea gearbeitet hat.

Die Ärzte ohne Grenzen empfehlen Rückkehrern aus diesen westafrikanischen Kerngebieten der Ebola-Epidemie, 21 Tage lang in freiwilliger Quarantäne zu bleiben und regelmäßig ihre Temperatur zu messen. Am Mittwoch nun fühlte sich Doctor Spencer schon den zweiten Tag ein wenig schlapp. Er ging trotzdem joggen. Er ging einkaufen. Und er nahm den A Train.

Das war, wie jeder in der Stadt inzwischen weiß, kurz nach 17:30 Uhr. Er fuhr bis zur 14. Straße, und dort nahm er den L Train. Die U-Bahnlinie L ist inzwischen ebenfalls ein kultureller Mythos New Yorks: Sie verbindet Manhattan mit Williamsburg in Brooklyn, dem sogenannten Hipsterland. Alles, was je zur Definition von Hipstern im allgemeinen und denen von Williamsburg im Speziellen vorgebracht wurde, kommt dort vorbildlich in einem Ort zusammen, der den Namen „The Gutter“ trägt. Das heißt zum einen Rinne, zum anderen aber auch Gosse. Und das ist zum einen ironisch, zu anderen aber auch ganz wörtlich zu verstehen. Denn „The Gutter“ ist eine Bowling Bahn und gleichzeitig das, was sie hier eine Dive Bar nennen. Dive Bars wiederum sind diese dick mit Bier und Schweiß imprägnierten Löcher, in die man eintaucht wie in einen braunen Tümpel; der Name impliziert auch sehr richtig, dass man vorher ein letztes Mal tief Luft holen sollte. So etwas finden gerade junge New Yorker, die sonst sehr auf ihre Gesundheit achten, gelegentlich ganz unterhaltsam.

Da also ist Dr. Craig Spencer am Mittwoch abend. Mit seiner Verlobten und zwei Freunden. Er bowlt ein wenig. Halb neun, auch das weiß inzwischen die ganze Stadt, lässt er sich von einem Wagen der Taxi-App Uber wieder nach Harlem fahren. Dann misst er nochmal Fieber. Und dann ruft er den Notdienst.

Das Blaulicht, mit dem Spencer daraufhin abtransportiert wird, stammt nicht nur dem Krankenwagen, eine ganze Eskorte von Polizeiautos begleitet den Transport ins Bellevue Hospital auf der East Side von New York.

Am Donnerstag, nachdem die Laborbefunde ausgewertet sind, hat die Stadt dann die Gewissheit, dass eingetreten ist, was wochenlang befürchtet worden war: Die Seuche ist angekommen. Und damit ist nicht nur das Ebola-Virus gemeint, sondern auch das, was die Angst davor mit den Leuten macht.

Am Freitag war auf einmal die Zahl der Krankmeldungen unter den Angestellten des Bellevue Hospitals ungewöhnlich hoch, würde später das Krawallblatt New York Post erfahren haben wollen. Eine Krankenschwester habe sogar einen Schlaganfall vorgetäuscht, um nicht bei der Betreuung von Spencer eingesetzt zu werden, sei aber nach medizinischer Abklärung erbarmungslos auf die Station zurückgeschickt worden. Das Krankenhaus selber lässt, natürlich, verlautbaren: Alles vollkommen normal.

Trotzdem trägt der Briefträger, der das Haus in der 147. Straße beliefert, in dem Spencer wohnt, heute vorsichtshalber Gummihandschuhe und Gesichtsmaske bei der Arbeit. Auch ein paar Leute, die sich nur mit Atemmaske und Gummihandschuhe in den L-Train trauen, werden aufgestöbert. Aber dass deswegen in New York auf einmal niemand mehr den A Train nimmt? Undenkbar. Man muss ja.

Bürgermeister Bill de Blasio lässt zur Beruhigung ein Bild auf Twitter herumschicken: Er selbst U-Bahn-Fahren. Zuversichtlich hält er sich mit barer Hand an der Stange fest. Völlig unbeschadet davon wird er dann gegen Mittag den New Yorkern auf einer live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz zurufen, dass keinerlei Grund zur Panik bestehe. Wg.: Übertragung nur durch Körperflüssigkeiten möglich. Andererseits: Die Lage sei schon auch sehr ernst, und wer ungewöhnlich hohes Fieber verspüre … New Yorks Gesundheitssystem sei das beste in der Welt. De Blasio sagt das merkwürdigerweise direkt danach auch noch mal in dem rundlichen Volkshochschulspanisch des Nicaragua-Sympathisanten, der er mal war: „Nueva York tiene el mejor sistema médico del mundo.“ Über diese Aussage an sich ließe sich zwar auch schon eine Weile diskutieren, aber bemerkenswerter ist der Satz, den er anschließend sagt, und zwar sonderbarerweise wieder auf Englisch, obwohl der nun wirklich auf Spanische mehr Wert hätte: „Papiere sind in dem Fall kein Thema, auch Geld nicht.“

Wer vorher nicht an die Hunderttausenden von Illegalen in dieser Stadt gedacht hat, die es selbst bei schweren Verletzungen in der Regel vermeiden, sich in einer Notaufnahme den Behörden auszuliefern, der tut es spätestens jetzt und blickt ganz kurz in den Abgrund, der sich auftun würde, wenn in dieser Stadt ernsthaft einmal eine Epidemie ausbricht.

Es sind Momente wie dieser, in denen hinter jedem „Keine Panik!“, genau das spürbar wird: ein Anflug von Panik. Es sind Sätze wie solche, bei denen sich in die besorgten Entwarnungen tatsächlich etwas Gruseliges schleicht.

Am selben Tag, fast zur gleichen Zeit, wird die eine der beiden infizierten Krankenschwestern aus Dallas als geheilt entlassen. Man sieht sie dann im Oval Office, wo Obama sie demonstrativ umarmt – so gut das eben geht, wenn man dabei versucht, einen Meter Abstand zu halten. Es ist ein beklemmendes Bild.

Dieser Freitag ist, reiner Zufall, auch der Tag, an dem der Film „Citizenfour“ in den New Yorker Kinos anläuft, Laura Poitras‘ Dokumentation über Edward Snowden. In dem Film gibt es ganz am Anfang eine Szene, in welcher der Hacker Jacob Applebaum einer Gruppe von Occupy-Aktivisten erklärt, wie Meta-Daten aggregiert werden. Ihr habt eine U-Bahn-Karte, und ihr habt eine Kreditkarte, sagt er da, und die Daten von beiden zusammengenommen, verraten, wann ihr wo wart, und wenn ihr, reiner Zufall, zu lange neben einem Terrorverdächtigen standet – man solle sich selbst ausmalen, was daraus folgen könne. Da schauen Occupy-Aktivisten ernsthaft erschrocken.

Bill de Blasio nun sagt an demselben Freitag den New Yorkern folgendes: Es gibt Health Detectives. Health Detectives gehen vor wie die echten Detectives vom FBI; sie verfolgen anhand Ihrer Kredit- und U-Bahn-Karten, wer wann wo mit dem Infizierten in Kontakt gekommen sein könnte. Diese Personen werden dann aufgesucht und zur Untersuchung, sagen wir, gebeten.

Immer noch scary? Oder doch in dem Falle auf einmal ganz tröstlich?

Und ist DAS dann nicht erst recht scary?

Eines hat Ebola in der kurzen Zeit jedenfalls schon geschafft: Dass die Dinge ein bisschen komplexer werden.

Ist Doctor Craig Spencer zum Beispiel ein amüsierwütiger Egoist, der wissentlich acht Millionen Menschen in Gefahr bringt?

Von den Leuten, die der Welt ihre Meinungen gern auf Twitter mitteilen, sind nicht wenige dieser Ansicht. Warum muss einer, der weiß, dass er in einem Ebola-Herd gearbeitet hat, unbedingt durch die halbe Stadt zum Bowling fahren, statt die freiwillige Quarantänezeit auszusitzen, die Ärzte ohne Grenzen ihren Mitgliedern empfiehlt? Warum muss einer mit Hochschulabschluss überhaupt zum Bowling fahren?

Bürgermeister de Blasio nennt Spencer hingegen einen echten Helden, einen, der selbstlos rausgeht, um den Ärmsten zu helfen. Aber Bürgermeister de Blasio ist, wie gesagt, auch einer, der sich in seiner Jugend selbst als Helfer für Nicaragua engagiert hat. Die Angehörigen sagen, Spencer sei ein Mann von solcher Selbstlosigkeit und solchem Charme, dass er selbst Sterbende oft noch einmal zum Lächeln bringt. Wenn man Fotos von ihm sieht, mag man das glauben. Er lacht offenbar gern. Und er ist jetzt selber ein Sterbender, der auf die experimentellen Therapien hoffen muss, die man an ihm ausprobieren wird. Man kann ihm nur das Beste wünschen, und dazu würde in diesem Fall auch zählen, dass seine Ärzte alle sozialen Schimpfnetzwerke von ihm fernhalten.

Auf NPR, dem Deutschlandfunk Amerikas, haben sie seinen Nachbarn vor das Mikrofon bekommen. Der erzählt mit der sarkastischen Belustigung älterer Homosexueller in der Stimme, wie viele andere Mieter vorsichtshalber schon zu Verwandten gezogen seien. Er bleibe da. Ebola werde schließlich durch Körperflüssigkeiten übertragen. Und so nah, man hört ihn schmunzeln, sei er seinem netten Nachbarn dann auch wiederum nicht.

Wissen Sie, sagt er, und das klingt schon eine Spur weniger amüsiert: Ich habe so vieles gesehen in dieser Stadt, alleine die Aids-Epidemie…

Und das ist natürlich auch so ein ganz gutes Stichwort. Craig Spencer liegt im Bellevue Hospital tatsächlich auf einer Isolierstation, die man seinerzeit für die Tuberkulosefälle unter den Aids-Kranken gebaut hatte. Das verknüpft seinen Fall schon rein räumlich mit der Tragödie der Achtziger, als Amerikas Konservative das Schwulsein an sich unter Quarantäne stellen wollten und der Horror von Aids durch die Kälte der Homophobie nur noch grausamer gemacht wurde.

Währenddessen machen sich in Spencers Wohnung die Experten einer Biohazard Recovery Corp. in Ganzkörperschutzanzügen an die Reinigungsarbeiten. Danach fahren sie nach Williamsburg zu „The Gutter“ und putzen dort. Bezahlen muss das übrigens deren Wirt, sagt der Chef des Unternehmens, ein Mann mit dem schönen Namen Sal Pain. Ausgerechnet diese, den liebevoll gepflegten Film aus Schmuddel schon im Namen tragende Dive Bar wird danach der säuberlichste Ort von ganz New York sein, schreibt schadenfroh die böse „New York Post“, die sich, natürlich, auch den Kalauer „Ebol-ing“ nicht verkneifen kann.

Die Wagen des A Train wie des L Train werden hingegen extra nicht gereinigt, weil das, wie es heißt, das falsche Signal wäre. Denn: Nur Körperflüssigkeiten. Und: Keine Panik!

New York hat die Sache im Griff. Aber das Rathaus schickt mit dem Vermerk „Dringend“ flehende Emails an alle Krankenhäuser, auf der Suche nach dem Test-Medikament Brincidofovir. Bitte keine Sorgen machen, aber wachsam sein!

Was man so sagt, als Verantwortungsträger. Und es ist ja im Prinzip auch richtig. Aber es klingt halt so, als würde da jemand dauernd sowohl Gas wie Kupplung bemühen: Die Stadt knirscht sich gewissermaßen auf dem Schleifpunkt durch diesen Tag.

Und am Abend, als die Stimmung schon ganz pragmatisch, weil halt Feierabend ist und das Nachtleben wartet, zu „Keine Panik“ tendiert: Da tritt auf einmal Andrew Cuomo, der Gouverneur des Staates New York, zusammen mit seinem Kollegen Chris Christie aus New Jersey vor die Presse und verkündet, dass „freiwillige Quarantäne“ für ihn ein Widerspruch in sich sei. Ab sofort würde in beiden Staaten für 21 Tage unter Zwangsquarantäne gestellt, wer aus den Krisengebieten Westafrikas einreist.

Keine Panik?

Bill de Blasio ist vorab nicht informiert worden. Soviel zum Verhältnis des Gouverneurs zum Bürgermeister seiner wichtigsten Stadt. Von de Blasios Gesundheitschefin wird berichtet: Sie tobe. An diesem Abend hat Ebola endgültig auch die Lokalpolitik erreicht. Der Regierung in Washington wird ohnehin von den Republikanern seit Wochen vorgeworfen, die Sache typischerweise nicht im Griff zu haben. Cuomo nimmt nun mit dieser Durchgriffsgeste seinem republikanischen Herausforderer Rob Astorino ein wenig den Wind aus den Segeln. Es stehen unmittelbar Wahlen an.

Zu diesem Zeitpunkt ist bereits ein erster Passagier auf dem Flughafen von Newark in New Jersey zur Seite geführt worden: Kaci Hickox, eine Krankenschwester aus Texas, die den letzten Monat über Ebola-Kranke in Sierra Leone versorgt hat. In der Quarantäne habe sie auch prompt Fieber entwickelt.

Am Samstag dann: Entwarnung. Die Tests seien negativ. Kein Ebola.

Und daraufhin kommt zum ersten Mal Hickox, die Krankenschwester, selber zu Wort. Sie ist sehr, sehr sauer.

Sie habe, erklärt sie in den Dallas Morning News, versucht, die Ebola-Seuche da zu bekämpfen, wo sie herkommt und die meisten Menschen tötet, und sie habe nach einem langen, anstrengenden Flug bei der Passkontrolle ehrlich gesagt, wo sie herkam. Daraufhin habe der Offizier Handschuhe angezogen. Dann wurde sie weggeführt, in einen Raum gesetzt, stundenlang befragt, von immer neuen Leuten, immer in Schutzanzügen, mal stellten sie sich vor, mal eher nicht, mal herrschten sie sie auch einfach nur an. Ihr Eindruck: Komplette Konfusion. Kopfloser Aktivismus. Und: Ahnungslosigkeit. Dann will jemand mit einem Scanner erhöhte Temperatur an der Stirn der Krankenschwester festgestellt haben und sagt, geradezu triumphierend: „Sehen Sie: Fieber!“ Und darauf Hickox, die Krankenschwester: So misst man doch kein Fiber! Ich habe eine heiße Stirn, weil ich sehr, sehr wütend bin über all das hier.

Klingt wie eine sinnbildhafte Pointe?

Ist offenbar einfach das, was passiert, wenn in den Behörden Panik am Wirken ist.

Wütend sei sie, schreibt Hickox, wenn sie daran denkt, dass alle Gesundheitshelfer, die jetzt aus Afrika zurückkommen, diese Schikanen erwartet. Wütend mache sie, dass sich dann niemand mehr finden werde, der noch freiwillig dort hingeht, um zu helfen.

Diese Sorge treibt auch Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen um. Für die UNO-Mission gegen Ebola wird in den nächsten Monaten ja eher noch wesentlich mehr medizinisches Personal aus dem Westen gebraucht.

Aber diese Appelle stehen halt immer gegen den aus den Zeiten der Pest herübergewachsenen Gemeinplatz, dass es im Zweifel der Arzt ist, der die Seuchen verbreitet.

Und die New Yorker?

Sind eigentlich viel zu busy für moralische Dilemmata wie dieses. Das ist ja der Quell des Ärgers. Die Woche über muss gearbeitet werden. Und am Wochenende ist Brunch, auch brutal wichtig, die Kinder müssen zum Football-Spielen in den Park gebracht werden, vor dem MoMA will Schlange gestanden sein wegen dieser Scherenschnittausstellung von Matisse, über die alle reden. Als New Yorker hat man viele Verpflichtungen und wenig Zeit für Hätte, Wäre und Könnte. New Yorker der Sorte, die auch Spaß daran haben, in Williamsburger Dive Bars Bowling zu spielen, machen sich immerhin auf einschlägigen Webseiten Gedanken darüber, was man aus Zombie-Filmen über die Situation lernen kann. In ein paar Tagen ist Halloween.

Man darf sich schon mal darauf gefasst machen, dass sehr viele Leute auf den originellen Einfall kommen werden, sich als Seuche zu verkleiden. Und wie verkleidet man sich als Seuche? Mit den bedrohlichen Ganzkörperanzügen von Seuchenschützern.

(c) Peter Richter

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 27. Oktober 2014 auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung