Black und Blue

Der Strand Bookstore ist die ideale Stelle. Dort, Broadway Ecke 12. Straße, hat man sie endlich ganz von vorn. Auf Höhe Astor Place war es eben noch zum Stau gekommen. Der Autoverkehr musste erst durchgewunken werden. Das war die Gelegenheit, auf der anderen Straßenseite vorbeizuziehen. Dann hatte die Polizei den Weg wieder freigegeben, und jetzt kommen sie da mit noch mal extra aufgestautem Druck den Broadway hochgeschossen. Sie kommen ihn nicht hochdemonstriert, sie kommen ihn auch nicht hochmarschiert, sie kommen ihn wirklich hochgerannt. Die Fäuste fliegen voran. Immer die rechten. Und der Arm ist dabei nicht etwa abgewinkelt nach altdeutscher Kommunistenart, der Arm fliegt als gerader Schweif der in die Welt geboxten Faust hinterher. Wie bei Superman. Der Comicfigur. Und wie beim Black Panther natürlich. Nicht der Comicfigur. Sondern der militanten Gruppe aus den Siebzigern, die sich ebenfalls so nannte.

Der Strand Bookstore ist die ideale Stelle, um sich so überrennen zu lassen. Hinter einem: vier Stockwerke Poesie und Theorie. Vor einem: die schlichten Klassiker der Straße.

„They say: Get back! – We say: Fight back!“

Sie sagen: Zurückgehen! Wir sagen: Zurückschlagen!

„What do we want? Justice. When do we want it? Now.“

Was wollen wir? Gerechtigkeit. Wann wollen wir die? Jetzt.

Das klingt nicht nur wie ca 1970, das sieht bei vielen auch so aus: Afros wie Assata Shakur zu ihrer Zeit bei der Black Liberation Army. Oder T-Shirts mit Assata Shakur drauf. Zur Erinnerung: Das ist die Frau, die als politische Asylantin in Kuba sitzt, weil das FBI sie nachwievor ganz oben auf der Liste der gesuchten Terroristen führt. Der Grund ist ein toter Polizist bei einer Schießerei während einer Autokontrolle wegen eines defekten Rücklichts in New Jersey. Wer die ganze Geschichte hochumstrittenen Falles wissen will und welche Rolle er seit vierzig Jahren in der Popkultur spielt: Im Strand Bookstore würde er Regalmeter voll von Antworten finden.

Wer hingegen jetzt zufällig gerade raus will aus New Yorks letztem echten großen Buchladen, steckt fest mit seinen klugen Tüten und staunt oder schaut irgendwie solidarisch oder zieht das Handy und drückt auf „Video“.

Denen aber wird zugerufen:

„Join it! Don’t tape it!“

Das ist definitiv ein neuerer Spruch. Und die historische Entsprechung ist eben nicht das berühmte „The Revolution will not be televised“ von Gil-Scott Heron aus dem Jahr 1970.

Es entspricht vielmehr eher einem der handgeklöppelten Reime aus den deutschen Demospruch-Verzeichnissen jener Zeit: „Bürger, lasst das Gaffen sein. / Kommt herunter, reiht Euch ein“.

Heute heißt Gaffen aber in der Regel, etwas mit dem Mobiltelefon zu filmen. In den USA heißt, etwas mit dem Mobiltelefon zu filmen, seit ein paar Jahren wiederum, dass daraus jederzeit ein Snuff-Movie werden kann. Snuff-Movies, also Filmaufnahmen von echten Tötungen, galten vor noch gar nicht so lange Zeit als gruseliger Mythos. Jetzt kriegt man sie zum Teil live, noch während des Geschehens, auf Facebook zu sehen, und dann in Endlosschleife in den Nachrichten und auf allen möglichen Webseiten. Wieder und wieder und wieder und wieder bekam vor zwei Jahren der große, schwere Eric Garner aus Staten Island beim Zugriff der Polizei keine Luft mehr und starb. Oder wie Walter Scott in North Charleston, South Carolina, beim Versuch, wegzulaufen, von einem Polizisten in den Rücken geschossen wurde wie ein Tier bei der Großwildjagd. Wieder und wieder und wieder und wieder muss, wer nicht schnell und eisern genug die Augen verschließt, seit letzter Woche mit ansehen, wie ein Mann namens Alton Sterling in Baton Rouge, Louisiana, von zwei Polizisten zu Boden gebracht, festgehalten und mit der Dienstpistole aus unmittelbarer Nähe in die Brust geschossen wird. Und, kurz darauf, wie Philando Castile in St. Paul, Minnesota, bei einer Verkehrskontrolle in seinem Auto sitzend erschossen wird, vor seiner diesen Tod mitfilmenden Freundin und seiner kleinen Tochter.

Es ist fast, als ob die Abstände zwischen diesen Horrorfilmen schon deshalb immer kürzer würden, weil auch die Tatsache, dass schwarze Amerikaner bei Polizeikontrollen so bestürzend häufig den Tod finden, nach ein paar Tagen des Schocks, der Aufregung und der üblichen Reflexe immer irgendwie genauso im Treibsand des Alltags versinkt wie all die Amokläufe und Schulschießereien in diesem Land der Feuerwaffen.

Dabei sieht es womöglich nur so aus, als ob sich diese Fälle in den letzten Jahren häuften. Kann auch sein, dass nur jetzt immer häufiger Bilder davon in die Öffentlichkeit dringen. Die Polizei filmt längst zurück, schon zur juristischen Eigenabsicherung. Kameras sind in den Autos im Einsatz und oft auch direkt an den Uniformen. Das nimmt in solchen Situationen die Welt schon mal vorweg, die Google mit seiner Brille für die Zukunft verspricht: Alles, was man sieht und tut, wird aufgezeichnet und archiviert oder gleich live weitergesendet. Die entsprechende Kameraeinstellung heißt allerdings nicht ohne Grund „Point of View“. Mit den Blickwinkeln unterscheiden sich auch die Wahrnehmungen. „Don’t tape!“ wäre deshalb ein Spruch, auf den sich Polizisten mit den Leuten vielleicht sogar einigen könnten, die da am Samstagabend in New York gegen sie auf dem Broadway demonstrieren und wiederum dabei nicht gefilmt werden wollen.

Zur gleichen Zeit wird bei einer ähnlichen Demonstration in Baton Rouge nämlich DeRay McKesson festgenommen, eines der prominentesten Gesichter von „Black Lives Matter“. Am Anfang, vor zwei Jahren ungefähr, war das ja erst einmal nur ein Slogan des Protests gegen die für Afroamerikaner so oft tödlichen Polizeieinsätze. Inzwischen ist es eine institutionalisierte Bewegung, die manche an die Zeit der Bürgerrechtskämpfe in den Sechzigern erinnern, und ob jemand wie McKesson nun eher als neuer Martin Luther King oder als ein zweiter Malcom X zu sehen ist, das entscheidet sich offensichtlich gerade. McKesson filmt und streamt seine Festnahme am Samstag jedenfalls gleich selber live.

Mike Edmonson, der Chef der State Police von Louisiana wird tags darauf den Fernsehnachrichten von CBS sagen, dass diese Bilder nur den Moment der Festnahme zeigten, nicht aber, was ihr vorausging. „Ja, es ist live und in Echtzeit, und wir glauben, die Öffentlichkeit hat ein Recht, zu wissen. Aber dann lasst sie doch das Recht haben, die ganze Wahrheit zu wissen.“

Die ganze Wahrheit sei nämlich: Die Festgenommenen von Baton Rouge, darunter der inzwischen wieder freigelassene McKesson, hätten trotz Aufforderung eine Straße nicht geräumt. Auch wurde die Polizei mit Feuerwerkskörpern, Flaschen und Steinen beworfen.

Diese Szenerien muss man sich vermutlich auch als weggeschnittenen Rahmen für das Foto annehmen, das diesen Abend von Baton Rouge in alle Bild-des-Jahres-Auswahlen heben wird: eine junge Afroamerikanerin steht da wie eine würdevolle griechische Statue, und drei vollverpanzerte Robo-Cops toben wie das Rumpelstielzchen um sie herum.

Bei den Protesten gegen die Polizei und bei den Versuchen ebendieser Polizei, blockierte Straßen von den Protestierern freizuräumen, hat es viele heftige Zusammenstöße gegeben am Wochenende in den USA, am heftigsten in St. Paul und Baton Rouge, wo die tödlichen Schüsse gefallen waren.

Kann man deswegen sagen, dass das ganze Land in Aufruhr geraten sei?

Ja und Nein.

So wie es „televised“ wird, ganz sicher. Die Medien beben natürlich, vor allem im Internet. Aber es gibt daneben auch einen Alltag, es gibt Verpflichtungen und Vergnügungen, denen trotzdem weiter nachgegangen wird wie immer.

Und gehen heißt ja in den USA meistens fahren. Daher ist auf das Freihalten der Straßen beim Demonstrieren so dringend zu achten. Die Polizisten, die die Protestmärsche abschirmen, gerieren sich sozusagen als Verkehrspolizisten, die das Recht der einen auf Protest einfach nur in Einklang bringen wollen mit den Rechten anderer Verkehrsteilnehmer.

Was auf dem Bürgersteig vor dem Strand Bookstore eindrucksvoll aussieht, ist schon von der anderen Straßenseite aus hinter dem dichten Verkehr kaum noch als Demonstration wahrzunehmen.

Da, wo am Samstagabend der Protestzug losgeht, pünktlich halb acht an der Brooklyn Bridge auf der Manhattaner Seite, zeigt sich dass sich auch das Bild, das man sich von den Protesten unter dem Banner „Black Lives Matter“ machen kann, in der Wirklichkeit nicht anders als im Fernsehen vom Ausschnitt abhängt – und vom Blickwinkel.

Kurz nach halb acht steht man da nämlich nur noch inmitten einer Gruppe von Nachzüglern, Schülern, die offenbar von außerhalb angereist sind, und nicht wissen, wohin mit sich und den Slogans auf ihren Pappen.

Immer wenn sich auf dem Weg mal eine Gruppe junger schwarzer Männer zeigt, die energisch ausschreiten, stellt sich schnell heraus, dass die nur zum nächsten Klamottengeschäft wollen. (War nicht das die eigentliche Klage von Gil-Scott Heron – Konsumismus statt Befreiung?)

Die Schüler wollen ihrem Ärger an der Seite von anderen Luft machen, finden die aber nicht. Sie rufen: „Wo ist jetzt hier der Broadway?“ und: „Weiß jemand, wie wir zum Union Square kommen?“

Sie könnten die Polizisten fragen, die hier herumstehen und die Autos herumwinken. Aber das sind halt Polizisten. Und es geht ja gegen die Polizei. Und dann sind die meisten von den Polizisten dort auch noch schwarz. Schwarze Frauen, um genau zu sein.

Das macht es alles natürlich nicht einfacher.

Wer die entlaufene Demonstration auf dem Broadway ein- und schließlich überholt, hat abschnittsweise den Eindruck, dass da ziemlich viele nichtweiße Polizisten einen Marsch von ziemlich vielen nichtschwarzen Studenten begleiten. Weiter vorne dreht sich das Verhältnis dann. Bei „Black Lives Matter“ gehen natürlich nicht nur Schwarze gegen den Rassismus der Polizei auf die Straße. Aber bei der Polizei, deren Rassismus da angeprangert wird, machen halt auch bei weitem nicht alle ihr Kreuz bei „caucasian“ oder „white“, wenn in den sonderbaren US-Formularen nach der „Race“, der Rasse, gefragt wird. Gerade das New York Police Department (NYPD) hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auffällig um mehr „diversity“ bemüht und unter schwarzen New Yorkern besonders massiv geworben, dort allerdings mit weniger Erfolg als bei Immigranten aller Gegenden der Welt. Es gab Zeiten, erinnert uns Ta-Nehisi Coates in seinem Buch „Between the World and Me“ von 2015, da galten auch irisch- und italienischstämmige Amerikaner durchaus nicht als „weiß“ im engeren Sinne. Und der klassische New Yorker Cop ist, wenn er weiß ist, ja nun einmal irisch- oder italienischstämmig oder beides.

Der große, wunderbar sortierte Strand Bookstore auf dem Broadway ist wirklich der ideale Standort, um all das in den Blick zu nehmen. Das von Coates liegt immer noch ganz vorne auf den Bestsellertischen. Wenn von weißen Polizisten die Rede ist, die Gewalt gegen Schwarze ausüben, lautet das definitionsbedürftigste Wort insofern eigentlich „weiß“. Bei Ta-Nehisi Coates war nun ebenfalls zu erfahren, dass auch die Schüsse eines schwarzen Polizisten auf einen schwarzen Verdächtigen letztlich weißer Rassismus seien; die Stichworte lauten Machtstrukturen und Ursünde der Sklaverei.

Als sich Ismaaiyl Abdullah Brinsley im Dezember 2014 aufmachte, aus Rache für den Tod von Eric Garner und all den anderen in New York ein paar „Schweinen Flügel zu verleihen“, wie er im Internet wissen ließ, da erwischte er einen chinesischstämmigen Beamten und einen, der den amerikanischen Klassifizierungen zufolge ein Hispanic war. Ein Schwarzer, der weiße Cops erschießen will, tötet, um in der kindischen Terminologie der Hautfarben zu bleiben, einen gelben und einen braunen. Was sie für ihn sozusagen weiß gemacht hat, war das Blau ihrer Uniformen.

„Blue Live Matters“ ist jetzt tatsächlich auch zu einem Slogan geworden, nachdem bei einer Black Live Matters-Demonstration in Dallas fünf Polizisten von einem ein Heckenschützen erschossen wurden, der sich in einem Rassenkrieg wähnte.

Man muss die jeweiligen Begriffe nur einmal bei Twitter eingeben, und man hat sofort das Gefühl, man hockt zwischen zwei Patienten, denen der Arzt abwechselnd mit dem Hämmerchen aufs Knie haut.

Anhänger von Black Lives Matter reagieren gereizt auf Blue Lives Matter, und umgekehrt ist es dasselbe. Nur sind auch hier wieder die Hautfarben gar nicht so eindeutig verteilt, wie man denken könnte. Später an diesem Wochenende würde Carol Swain bei CNN zu sehen sein, eine schwarze Professorin, und sie würde Black Lives Matter als destruktive Kraft verdammen, die den Schwarzen Amerikas mit marxistischer Propaganda den Kopf vernebele. Stichwort: Machtstrukturen und dergleichen. Aber Prof. Swain lehrt halt auch nicht Identity Politics, sondern Jura. Ihr Argument: Nicht Videoschnipsel aus dem Handy beurteilen, sondern die vollständige Untersuchung. In beiden Fällen habe es ja offenbar ein Fehlverhalten der Kontrollierten gegeben und Gründe für das Misstrauen der Beamten. Es ist die typische Argumentation amerikanischer Konservativer gleich welcher Hautfarbe, die nun einmal eher an die Verantwortlichkeit des Individuums glauben als an die Macht von Strukturen.

Aufschrei auf der anderen Seite: Und das rechtfertigt tödliche Schüsse?

Gegenaufschrei: Wenn ein bewaffneter Officer was von einem will, zuckt man gefälligst nicht missverständlich rum.

Man kann es nach ein paar Jahren in Amerika im Schlaf mitsprechen.

Als Europäer und Zaungast möchte man manchmal ein wenig mitschreien. Ob nicht zum Beispiel diese schreckliche potentielle Dauerangst vor den Schusswaffen des jeweils anderen, den vermuteten wie den tatsächlichen, der Hauptgrund für diesen Wahnsinn sind. Allein dieser Stress in den Augen der Männer und Frauen, die hier, alle eine Pistole am Gürtel, dafür sorgen müssen, dass der Verkehr auf der Fahrbahn genauso schnell den Broadway entlang kann wie auf dem Bürgersteig der Lindwurm derer, die sie als Rassisten, Ku Klux Klan und Kindermörder beschimpfen. Man sieht die Angst, vor dem Moment, in dem die beschließen, dass man den Broadway dicht machen müsse, um etwas zu erreichen. Und wenn es nur neue Verhaftungen sind. Geschubse. Vielleicht ein Griff zur Waffe.

Aber es gibt Momente, da bleibt man gerade als Zaungast und Europäer lieber still und versteckt sich hinter seinem Handy.

Irgendwann fordert das Filmen mehr Speicherplatz. Was soll man löschen?

Da war vor ein paar Wochen der Film, den jeder in der Straße aufgenommen hat: Mitten in der Nacht ein Autounfall, Kontrolle verloren, Riesenkarambolage, die Verursacherin tobt und pöbelt die Polizisten an. Ja, sie ist zufällig schwarz. Aber: Nein. Nichts weiter. Sechs Polizisten heben die offenbar betrunkene Frau wie eine widerspenstige Mingvase in den Streifenwagen. Auch kein schöner Film. Aber man kann ihn löschen, zum Glück.

 

(c) PETER RICHTER

Eine kürzere Version dieses Textes erschien zuerst Mitte Juli auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung.