Die Architektin Annabelle Selldorf

Später würde Annabelle Selldorf über die Sache mit dem Moderator in Williamstown sagen: „Keiner hat sich daran gehalten, nur ich braves deutsches Mädchen.“ Dann würde sie darüber lachen, und dann würde sie hinzufügen: „But I liked the idea.“

Die Idee des Moderators ist nämlich die, dass alle in der Runde zunächst einmal sagen, was „The Clark“ für sie bedeutet – in einem Satz. Und die deutsche Architektin Annabelle Selldorf, Architektin, wohnhaft und tätig in New York, ist als erste dran.

Also hebt sie an und würdigt Ort, Bedeutung, Geschichte. „The Clark“ muß man dazu wissen, ist das Clark Institute in Williamstown, und Williamstown liegt exakt so weit von New York City entfernt, dass die Druckwelle einer über Manhattan abgeworfenen Atombombe der Gemäldesammlung von Robert Sterling Clark, jedenfalls nach den Berechnungen von Robert Sterling Clark, keinen Schaden mehr zufügen konnte. Robert Sterling Clark wiederum war der Erbe des Vermögens von Singer, der Nähmaschinenfirma. Er hatte sich für seine Renoirs und Goyas einen griechischen Tempel in die Hügellandschaft der Berkshires vier Stunden nördlich von New York setzen lassen, mit viel Marmor und vielen Säulen. Für das Betrachten von erstklassiger Kunst erwies sich der Bau im Inneren aber nur bedingt als geeignet, und als in den Siebzigern ein klotziger Bibliotheksanbau aus rotem Granit daneben gepflanzt wurde, wurde es auch außen problematisch.

Annabelle Selldorf hatte deshalb die Aufgabe bekommen, den Marmortempel und den Granitklotz endlich zu dem Museum zu machen, das der Qualität der Sammlungen auch gerecht wird. Das ist ihr durch eine ganze Reihe von radikalen Eingriffen in den verkorksten Bestand so gut gelungen, dass das Ergebnis nun völlig selbstverständlich aussieht. Annabelle Selldorf weiß aber natürlich, dass etwas, das selbstverständlich aussieht, nicht die gleiche Aufmerksamkeit bekommen wird wie etwas, das neu, fremd und enigmatisch auf der Wiese steht. Selldorf weiß also, dass sie hier als erste dran ist mit ihrem Satz, damit nach ihr der japanische Architekt Tadao Ando umso länger sprechen kann, denn der hat gleichzeitig einen neuen Eingangstrakt errichtet, der neben den Impressionisten in der Sammlung ab sofort die Hauptattraktion von Williamstown ist. Eine Kritikerin, die extra aus Paris angereist ist, mault zwar, Andos Anbau sehe genauso aus wie das, was er vor ein paar Jahren erst in den Museumspark von Chateau La Coste bei Aix-en-Provence gesetzt hatte: lange, meditative Mauern vor flachen Wasserbecken. Damit liegt sie aber falsch, die längste und meditativste Mauer sieht hier nämlich ganz anders aus. Sie ist, großes Novum bei Ando, nicht aus Sichtbeton, sondern aus rotem Granit, um das Material des Bibliotheksklotzes wieder aufzunehmen. Das war eine Bedingung des Museumsdirektors gewesen, und wenn man genau hinhört, kann man den Meister immer noch mit den Zähnen knirschen hören darüber.

Sie sitzen also alle in Williamstowns feinstem Saal, der Gast aus Japan, seine Übersetzerin, der willensstarke Direktor, der Landschaftsarchitekt, eine Dame von der Baufirma – und eben Annabelle Selldorf, die ihren Satz allmählich in die Richtung einer Architekturkritik ausbaut und die ausgleichende Wirkung von Andos Mauer-Origami auf den disparaten Baubestand lobt, und so ein Lob ist natürlich immer auch ein Selbstporträt: Zwei Dinge, die nicht zusammenpassen, durch ein Drittes zu versöhnen, ist nämlich ihr eigenes Lieblingsprinzip, sie hatte es zum Beispiel in Ronald Lauders „Neuer Galerie“ angewendet – eine Sammlung von Wiener Moderne in einem Palais französelndstem Beaux-Arts-Stils versöhnt durch kühlköpfigen Minimalismus. Das war damals ihr Durchbruch gewesen. Und schon vorher bekam es, wer sich in New York für Kunst interessierte, an allen Ecken und Enden mit Arbeiten von Annabelle Selldorf zu tun: die verschiedenen Repräsentanzen von David Zwirner, Gagosian, Hauser & Wirth, Barbara Gladstone, Acquavella… In dieser distinktionssüchtigen Ellenbogenstadt sind sich erstaunlich viele, vor allem unter den ganz großen Playern, erstaunlich einig, wenn es um die Architektur geht. Man kann im Prinzip sagen, Selldorfs gediegener Minimalismus ist die einzige Konstante im hyperventilierenden Kunstbetrieb New Yorks. Und mittlerweile wollen sie auch an der Westküste daran teilhaben: Selldorfs Büro errichtet gerade einen Erweiterungsbau für das Museum of Contemporary Art von San Diego. Gleichzeitig baut sie im südfranzösischen Arles gemeinsam mit Frank Gehry am Kunstzentrum für die Luma Foundation der Schweizer Mäzenin Maja Hoffmann. Das heißt: Selldorf macht die Ausstellungsräume, und Gehry setzt daneben noch einen Leuchtturm mit vielen frankgehryhaft glitzernden Metallbeulen für diejenigen, die allein der Kunst wegen den Weg nicht finden würden. Denn einen Gehry erkennt man überall auf Anhieb. Einen Ando auch. Das ist das Merkmal sogenannter Starchitects, ihr Markencharakter. Aber eine Arbeit von Selldorf?

Sie hat nicht einmal ein bevorzugtes Material. Es ist nur so: Wann immer einem in diesem bunten Tetris-Haufen mit den Namen Manhattan ein Haus oder auch nur ein Raum (oder ein Sessel, Architekten machen ja immer irgendwann im Leben auch mal Sessel) wegen seiner in sich ruhenden Eleganz auffällt und nicht dadurch, dass er auffallen will, wann immer einen also unvermutet mitten im Krach die heitere Gelassenheit überrumpelt, die einmal das Ziel jeder Klassik war: Dann steckt recht oft das Büro von Annabelle Selldorf dahinter. Und wenn man es auf einen Nenner bringen will, dann sind es vielleicht die Proportionen, die einem erstaunlich stimmig vorkommen. Nicht, dass es eine Regelästhetik zum Nachrechnen gäbe, es ist schon eher so wie Goethe über gute Proportionen sagt: ihre Hauptakkorde kann man beweisen, ihre Geheimnisse nur fühlen. Aber Annabelle Selldorf gehört, das sagt sie auch selber, in die Reihe derer, denen beim Bauen eine ausgewogene Proportionalität das Wichtigste ist, und diese Reihe reicht im Prinzip bis in die klassische Antike. Sie tauchte wie ein Faden im Gewebe der Kulturgeschichte immer mal wieder auf und wurde dazwischen wieder von der Tendenz überlagert, die Proportionen zu verzerren, zur Sache des persönlichen Geschmacks zu erklären, irrelevant zu machen. Die Gegenwartskultur, auch die architektonische und ganz speziell die von Manhattan, ist nun oft genug mit der überdehnten Überwältigungs-Ästhetik des Manierismus verglichen worden. In New York auf Architektur von Annabelle Selldorf zu stoßen, ist deshalb oft ein bisschen so, wie in einem Museum aus dem Saal mit den Tintorettos in den mit den Raffaels zu geraten. Das Klassische aber ist immer ein geeigneteres Passepartout für das Abweichende als umgekehrt. Und das, wer weiß, könnte vielleicht einer der Gründe sein für Selldorfs Erfolg im Kunstbetrieb, denn Kunst ist heute, jedenfalls ihrem Anspruch nach, grundsätzlich abweichend.

Manche finden ihre Erfüllung darin, Regeln zu brechen. Andere darin, mit ihnen zu spielen.

„Einen Satz“ hatte der Moderator von Williamstown gefordert, und das „brave deutsche Mädchen“ mag die Idee und setzt elegant den Gesetzen der englischen Grammatik folgend Komma an Komma.

Der Weg von dort nach hier, von Köln, wo Annabelle Selldorf aufgewachsen ist, nach Williamstown, wo sie dem Altmeister Tadao Ando gerade die Show stielt, verlief so: Von der deutschen Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen leider keinen Studienplatz vergeben bekommen, daher eben nach New York gegangen, im Jahr 1979, als es den Mudd Club noch gab und Max’s Kansas City und die Stadt für einen jungen Menschen noch ein ganzes Stück aufregender war als heute. Erste Unterkunft: West 70th Street zwischen Central Park und Columbus Avenue, was eine klangvolle Adresse ist für ein Zimmerchen, das nicht mal ein Fenster hat. Schließlich Deal mit dem Vater, er zahlt die Ausbildung am Pratt Institute, für ihren Lebensunterhalt sorgt sie selber. Daher wiederum Notwendigkeit eines Jobs, und den findet sie als Assistentin im Büro von Richard Gluckman, der damals in New York das war, was Selldorf heute ist: Der Architekt, der überall die Galerien und manchmal auch Museen baute. Dass Selldorf schließlich in diese Rolle wuchs, hat, erstens, mit dem Einflussreichtum ihrer Landsleute auf dem New Yorker Kunstmarkt zu tun: Der erste richtige Auftrag war die Galerie von Michael Werner, und David Zwirner, dem Selldorf gleich mehrere Galerien gebaut hat, stammt ebenfalls aus Köln. Und zweitens: „Die meisten anderen interessieren sich eigentlich gar nicht so sehr für Kunst“. Heißt: Andere Architekten interessieren sich mehr für ihre eigenen Gebäude.

Das alles schwingt mit in Annabelle Selldorfs Statement in Williamstown, zumindest als Subtext und Fußnote. Und als sie endlich ihren Punkt dahinter setzt, da entfährt dem Moderator, entnervt und entzückt, der Kommentar: Wow – das alles war tatsächlich EIN EINZIGER Satz.

Und Selldorf: „Naja, ich bin Deutsche, seien Sie froh, dass ich es nicht in ein einziges Wort gepackt habe.“

Es gibt innerhalb und außerhalb von Architektur- wie auch Kunstbetrieb tatsächlich wenige Leute, die schlagfertiger und pointierter wären als diese Frau aus Köln. Womöglich ist das auch einer der Gründe, warum sie heute die prominenteste Architektin von New York ist.

Wer Annabelle Selldorf zum Beispiel die Frage stellt, ob sie es als Frau irgendwie schwerer hatte in diesem Beruf, in dieser Stadt, der bekommt die Antwort: „Ich war nie ein Mann, ich weiß es nicht.“

Es ist kurz nach 8 Uhr am Morgen, als sie das sagt, in ihrem Büro am Broadway, Ecke Union Square werden die 60 Mitarbeiter erst im Laufe der kommenden Stunde eintrudeln, viele der Frauen bringen jetzt erst noch ihre Kinder unter. Es sieht aber nur so aus, als ob nur Frauen bei Selldorf Architects arbeiten, es gibt wohl tatsächlich auch etliche Männer.

Die Eröffnung des Clark Institutes liegt inzwischen ein paar Wochen zurück, Selldorf war in der Zwischenzeit auf der Bausstelle in Südfrankreich; sie hatte dort ihren 54. Geburtstag gefeiert, außerdem ist es immer eine Freude, mit Künstlern, Kuratoren, Sammlern zusammen zu sein, und so oft kommt sie ja nicht nach Europa.

Es gibt in London von ihr das Haus einer Kunstsammlerfamilie und in Zürich die Räume der Galerie Hauser und Wirth. Aber das meiste hat Selldorf in den USA gemacht, das allermeiste in New York. Zuletzt: die zentrale Recyclinganlage an den Piers von Brooklyn, eine weiße Halle am Wasser, die den Müll der Stadt schluckt – der erste städtische Auftrag und auch deshalb ein Herzensprojekt von Selldorf, weil es auch etwas Bedrückendes haben kann, dauernd als „hired gun of the 1 %“ tätig zu sein. Und es sind nun einmal die Reichen Amerikas, für die Landhäuser in den Hamptons errichtet werden, Apartmenthäuser in New York, Amerikas Reiche sind die Kunden in den Kunstgalerien und die Finanziers der Museen.

„Es ist teuer, gute Architektur zu bauen“, sagt Selldorf zu diesem Punkt, „das ist einfach eine Tatsache, und wenn wir Luxusgebäude bauen, dann sind die natürlich für die, die drin wohnen, aber die sind auch für die, die daran vorbeigehen.“ Das ist natürlich schon eine sehr amerikanisch gedachte Variante von Engagement für den öffentlichen Raum, aber

ein Hochhaus wie Selldorfs 200 Eleventh Avenue, berühmt für seine vielen prominenten Bewohner und seine luxuriöse Ausstattung, ist in der Tat ein Erholungsbad für die Augen in einer kakophonisch kreischenden Umgebung, was unter anderem an Gebäuden von Starchitects wie Frank Gehry und Jean Nouvel liegt: Meister des Solitärs, deren dramatische Gesten im urbanen Kontext von Manhattan in der Regel leer laufen. Annabelle Selldorf kann sich sehr ausdauernd über den rethorischen Überschuss solcher Baumeister amüsieren. Und was sie über den Gehry-Bau neben ihrer Ausstellungshalle in Arles zu sagen hat, das kann hier leider, leider gar nicht hingeschrieben werden, weil man ihr keinen juristischen Ärger wünschen mag. Dass sie jetzt immer wieder in unmittelbarer Nachbarschaft zu solchen Figuren zu tun hat, schärft aber nur den Blick auf ihre eigene Architektur. Und es ist keineswegs so, dass die, nur weil Selldorf rhetorisches Pathos lächerlich findet, deswegen gänzlich theoriefrei wäre.

Man könnte sogar sagen, sie hat ihren Kern in dem philosophischen Problem von Freiheit und Notwendigkeit. Das Selldorf’sche Entwurfs-Credo geht nämlich so: „Was Architektur ausmacht, sind die einzelnen ,Elemente’, um mal bei Rem Koolhaas’ aktueller Architekturbiennale und deren Motto zu bleiben. Du hast Struktur und Statik, du hast Systeme, Klimasysteme, Fenstersysteme, Proportionssysteme, funktionale Forderungen, die müssen alle logisch ineinander greifen, um die totale Freiheit zu erzeugen. Und Freiheit ist der Moment, wo du aufatmest und von diesen Dingen nicht belästigt wirst.“

Alles elegant, also regelkonform, unterbringen, damit die Sache aufgeht: Da geht es ihr mit dem Hausbau offenbar nicht anders als mit dem Satzbau.

Man wird sich Annabelle Selldorf nach ihrem Statement auf dem Podium von Williamstown als eine beglückte Architektin vorstellen dürfen.

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst im September 2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung