Tijuana und die Mauer

Die Grenze ist in die eine Richtung eine Drehtür, und in die andere ist es eine Warteschlange. In die eine Richtung geht alles sehr, sehr schnell. In die andere dauert alles sehr, sehr lange. (Im Sinne von: SEHR, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr lange.)

Es gibt nun Leute, die sagen, dass eine Grenze sich auflöst, wenn man nahe genug ran geht und lange genug draufschaut. Aber die Mauer, die Zäune, die Stacheldrahtrollen und die Drehtür machen es schon so digital wie möglich: Null oder Eins, drinnen oder draußen, USA oder Mexiko. Es gibt bei dieser stählernen Drehtür den Moment, wo kein Zurück mehr möglich ist; nur das zählt. Und von einem Augenblick auf den anderen ist alles anders, sieht anders aus, riecht auch anders. Eben noch: weiß lackierter Stahl und die schwarzen Rundaugen der Überwachungskameras. Jetzt: Behelfswände aus Holzfaserplatten, Buden, Staub, Menschen. Aber eine Passkontrolle?

Die Mexikaner überlassen die Bewirtschaftung der Grenze ganz den Nachbarn aus dem Norden: Die Grenze gehört den Gringos, die haben sie schließlich in die Welt gesetzt zwischen Kalifornien und Niederkalifornien; eine Idee der Mexikaner war das schließlich nicht, und es soll eine ganze Menge unter ihnen geben, die das auch bis heute nicht für das letzte Wort halten wollen.

Aber eine Grenze im Prinzip gar nicht anzuerkennen, bedeutet nicht, dass man nicht trotzdem irgendwie im Alltag damit umgehen muss; das ist etwas, das schon die Geschichte mit der Berliner Mauer lehrt. Mit der kann man die Mexikogrenze aus historischen und moralischen Gründen nicht vergleichen? Kann man ja mal versuchen, das nicht zu vergleichen. Dann sieht man aber, wie das eben so ist, wenn man etwas nicht soll, nur noch Parallelen.

San Diego in den USA dreht der Grenze zum Beispiel genauso seinen Rücken zu wie damals Westberlin, während Tijuana auf der mexikanischen Seite genauso langgestreckt und bäuchlings an der Mauer klebt wie einst die Hauptstadt der DDR.

San Ysidro, der eigentliche Grenzvorort auf amerikanischer Seite besteht eigentlich nur aus großen Parkplätzen, einem Bahnhof, um schnell wegzukommen, und einem McDonalds.

San Ysidro ist übrigens eine alte Schreibweise für den heiligen Isidor von Madrid, Schutzherr der Landarbeiter, also im Prinzip auch zuständig für die, die hier täglich über die Grenze kommen und den McDonalds rechts liegen lassen, um auf den Gemüsefeldern Kaliforniens zu verschwinden. (Vgl. hierzu: „Bei denen arbeiten, aber bei uns günstig wohnen?“ Gründe für den Mauerbau, Ostberlin 1961.) San Diego hingegen ist der Apostel Jakobus, für die Spanier einst der „Soldat Christi“. Tijuana schließlich ist abgeleitet von einem indianischen Wort und später persifliert als Tía Juana, als Tante Johanna, bei der sich alle willkommen fühlen dürfen. Eine Sprachbarriere markiert diese Grenze also schon mal genauso wenig wie damals die zwischen Lichtenberg und Lichtenrade. Mit Spanisch kommt man auf beiden Seiten durch, mit Englisch aber auch, was in Kalifornien an den Immigranten liegt, die als einzige immerhin die Ortsnamen korrekt aussprechen können, und in Niederkalifornien wiederum an den Kaliforniern, die hier zum Trinken, Drogeneinnehmen und Sex haben herfahren, oder um günstig einzukaufen oder um sich das Gebiss machen zu lassen oder ein neues Gesicht.

Direkt hinter der Grenze steht hoch in den Lüften eine Werbetafel, die nach Art der Propaganda-Transparente an der Berliner Sektorengrenze, folgende Botschaft nach drüben schreit: „¿Botox? Buenrostro. Cirujano Plástico“. „Cirujano Plástico“ heißt plastischer Chirurg, und „Buenrostro“ heißt so etwas wie: Schöngesicht. Dazu lächelt der Inhaber der Firma von dem Plakat, so gut man eben lächeln kann, wenn man faktisch – ¡Botox! – eine Wachsfigur ist. Von der anderen Seite her lächelt von einem genauso großen Plakat „King“ Stahlmann zurück. „King“ Stahlmann vermittelt Kautionen für Mexikaner, die als illegale Immigranten festgesetzt sind, er sieht ein wenig aus wie der Regisseur Martin Scorsese bei dem Versuch, einem Schauspieler vorzumachen, wie er sich das Grinsen eines besonders schmierigen Kredithais vorstellt. Standoff mit Plakaten: Hier zeigen beide Seiten, was der jeweils anderen ihrer Ansicht und Erfahrung nach am wichtigsten zu sein scheint.

Das, was die Mexikaner ansonsten für das Hauptinteresse eines von Norden her über die Grenze kommenden Tagestouristen halten, muss nicht extra mit Plakaten beworben werden.

Es dauert ab Grenzübertritt exakt zehn Minuten, bis das mit dem „Hey, Amigo!“ losgeht und der liebe Amigo von drüben dauernd in Tavernen gewunken wird. Nach dreizehn Minuten wird der Amigo dann zum ersten Mal von einer älteren Frau aufgefordert, mit ihr ein Hotelzimmer zu nehmen. Und noch einmal ein bis zwei Minuten braucht es, bis ihm klar ist, dass die Frau gar nicht so alt gewesen sein muss, wie sie aussah, denn Crystal Meth, so erzählt man drüben in San Diego, soll jetzt in der alten Kokain-Stadt Tijuana das neue große Thema sein, die Droge, die auch Zwanzigjährige aussehen lässt wie Greisinnen.

Dass das überhaupt zehn Minuten dauert, bevor sich alle so rührend des Amigos annehmen wollen, hat im übrigen nur damit zu tun, dass zuvor der Fluss überquert muss, und auf der Brücke zwischen Grenzübergang und Stadtzentrum hält es kein Mensch lange aus, sofern er sich nicht vom Doctor Buenrostro die Nasenlöcher zunähen lässt. Den Río Tijuana, eingezwängt in sein Betonbett, als Kloake zu bezeichnen tut jedem zivilen Abwasserbetrieb unrecht, aber irgendwie muss man ja beschreiben, was man da in großer Zahl herumschwimmen sieht, bekrönt von buntem Plastikmüll. Das kann offensichtlich nicht mal von den Chemieabwässern zersetzt werden, die zusätzlich noch von den Maquilladoras hier hereingeleitet werden, den vielen Sweatshops entlang der Grenze, in denen Fernseher und Textilien für die Amerikaner gefertigt werden, weil das hier noch günstiger ist als wenn das in China gemacht würde. Auch dies ein schöner Gruß an die Freunde von nebenan: Ein paar hundert Meter weiter fließt der Río Tijuana auf das Staatsgebiet der USA, und der Punkt, wo er in den Pazifischen Ozean mündet, gilt als eine der berühmtesten Stellen zum Surfen an der kalifornischen Küste. Da haben die Klärwerke der Amerikaner auf den letzten Metern vor dem Meer mit anderen Worten noch ganz schön was zu tun.

Alle, die sich in Westdeutschland oder Westberlin jemals darüber erregt haben, dass ihnen Elbe beziehungsweise Spree in einem bereits etwas abgenutzten Zustand von der DDR übergeben wurden, sind herzlich eingeladen, sich das hier erst einmal anzusehen. Im Osten hatte man die Touristen aus dem Westen damals ja oft genug verhöhnt, wenn sie mit ihren gerümpften Nasen über die Grenze kamen, professionell ausgenommen wurden und sich schon hinter dem Alexanderplatz nicht mehr so richtig weitertrauten ins echte Ostberlin. Und jetzt ist man in Tijuana selber der Idiot mit dem harten Geld in der Tasche und bleibt mal besser auf den Wegen, auf denen auch die anderen Gringos gehen: einmal die Avenida Revolución mit den Souvenirläden hoch und runter, dann die Kathedrale und von dort in die Zona Norte, das sogenannte Vergnügungsviertel, wo die Lokale, nur mal so zum Beispiel, „Lucky Lady“ heißen.

Wenn du dann aber die Avenida Niños Héroes, die in nur zwei Blocks von der Kathedrale zu den Puffs führt, einfach weiterläufst in Richtung der weißen Grenzmauer zu den USA: Dann kommt dir der dicke Typ hinterher, der dir schon aus dem Eingang der „Lucky Lady Bar“ was nachgerufen hat und bittet in aller Freundschaft, nicht weiter in diese Richtung zu gehen. „Ich hab schon zu viele Gringos, da runter laufen sehen, Amigo, und die sind nie mehr zurückgekommen.“ Dort unten sei es so gut wie sicher, dass man ausgeraubt, entführt, ermordet werde. Am Ende der Straße ist ein weißes Stückchen Wand zu sehen. Das ist jetzt praktisch wie in Ostberlin, wo es auch brenzlig wurde, wenn man der Mauer näher kam. Der Dicke sagt: „Es gibt die Stierkampfarena, und es gibt die Bars, es gibt Tequila, und es gibt Mädchen.“ Und wenn man Drogen wolle, dann sei das auch kein Problem. „Aber das ist es dann auch. Darum dreht sich das hier. Etwas anderes sollte man hier nicht zu suchen haben.“ Und dann schiebt er dich, in aller Freundschaft, vor die Adelita Bar, die es seit 1962 gibt, so als sei das die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt. Draußen ist es 12 Uhr am Mittag, und da drinnen herrscht die ewige, tequilavernebelte Nacht der stangentanzenden Vampire, die man aus dem Titty Twister in Robert Rodríguez’ „From Dusk till Dawn“ kennt: Entweder man geht hier sofort wieder weg, oder man kommt hier nie wieder raus.

Man könnte generell sagen, dass dies ein Film von allerrealistischstem Realismus ist, was den Ersteindruck der Atmosphäre von Tijuana anbelangt. Man könnte es aber auch so ausdrücken: Dermaßen bedrohlich ist dem Autor noch kein anderer Ort in Lateinamerika vorgekommen, nicht einmal Calí oder Medellín in den Neunzigern oder die Straße dazwischen, um die sich damals noch Drogenbarone, Paramilitärs und verschiedene Guerrilla-Truppen stritten. Auch in den Favelas von Rio, oder an den Hängen von Caracas ist es gefährlich, man spürt da ein Risiko. Aber in Tijuana riecht man, und zwar noch stärker als alles, was im Fluss herumschwimmt: den Tod.

Ja, das ist, als empfinde man ein billiges Klischee, aber gegen einen Geruch ist schwer anzukommen. Und das Empörende ist, dass einem dieses ganze Tijuana heute nur noch als billiges Klischee eines Sündenpfuhls entgegentritt, wie er an sich ja in der Logik liegt, wenn jenseits der Grenze erst jahrelang der Alkohol verboten ist und jetzt seit Jahrzehnten schon die Prostitution. Das Empörende ist, dass sich an der Mauer hinter Tijuana inzwischen wie nach oben gespülter Unrat alle extrembilligen Klischees auf das sammeln, was man als Dritte Welt bezeichnet, während San Diego auf der anderen Seite so ein extremteures Klischee von Erster Welt ist. Denn mit dem Rest von Lateinamerika hat Tijuana ja genauso wenig zu tun wie die satt in Sonne gleißende Nachbarstadt mit dem Rest der USA. Wenn stattdessen hier die bürgerlichen Teile von Mexiko-Stadt an die Innenstadt von Detroit grenzen würden, dann wäre es eher an den Mexikanern gewesen, eine Mauer gegen die Armut zu bauen.

Das ist übrigens auch der größte Unterschied zur Berliner Mauer: Hier hatte die ärmere Seite die Großzügigkeit, den Westen auf eigene Kosten vor dem Ansturm der eigenen Leuten zu schützen, und in den Villen von Grunewald gibt es heute noch genügend Leute, die das ausdrücklich vermissen. Weitere Hauptunterschiede: In die USA dürfen viel mehr Leute legal einreisen; Tijuana gilt als meistbeanspruchter Grenzübergang der Welt. Und es sterben hier gleichzeitig wesentlich mehr Menschen beim Versuch, diese Grenze illegal zu überwinden. Man kann das nicht verrechnen, weil jeder Tote für sich ein Skandal ist. Zweitens ist hier auch gar nicht so klar, wen man alles mitzählen müsste. Die Mauer von Tijuana hat ja vor allem den Effekt, dass es die Leute woanders versuchen, in der Wüste, wo viele, was durchaus ein Kalkül der Abschreckung ist, verdursten. Vielleicht wird man aber auch die dazu zählen müssen, die mit ihren Träumen auf den mörderischen Straßen von Tijuana stranden, und im Moment ist es besonders zum Heulen: Im Moment wird die Stadt von Kindern aus Mittelamerika geflutet, die sich alleine in die USA durchschlagen wollen.

Vielleicht ist aber natürlich alles auch ganz anders als der Augenschein, und wenn man lange genug hinschaut, dann ist Tijuana in Wirklichkeit Avantgarde und die Grenze eine spannende Chance. Es gibt genügend Bücher, in denen das so dargelegt wird. Es gibt unendlich viel Literatur, theoretische wie belletristische, über Tijuana und seine „Tortilla Wall“. Man könnte sie komplett durchlesen, während man in der Schlange auf den Grenzübertritt zurück in die USA wartet. Und dazu noch Roberto Bolaños „2666“, wo in einer sehr tijuanesken Stadt auf jeder Seite neue Leichen im Müll gefunden werden. Oder die Tageszeitung „La Frontera“, die sich in dieser Beziehung recht ähnlich liest. Es bliebe dann immer noch genügend Zeit, den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg aus dem 19. Jahrhundert zu rekapitulieren. Und die Abspaltung der Texaner von Mexiko, der die Amerikaner offensichtlich die Lehre entnommen haben, dass zu viele Immigranten einen ganzen Staat kippen können – nur dass sie damals die Immigranten waren. Bis man endlich seinen Pass vorzeigen darf, wäre sogar noch Gelegenheit, die Literatur zur technologischen Aufrüstung an der Grenze durchzusehen. Das Neueste sind Lügendetektoren bei der Passkontrolle. Und was sagt man denn nach vier, fünf Stunden Wartezeit auf die Frage, was man in den USA jetzt noch mal will? Wenn man ehrlich sein soll: auf schnellstem Wege nach La Jolla fahren, das Grunewald von San Diego, wo die Welt in pastellfarbener Ordnung ist, wo reiche Söhne ihre Tage sorglos mit Surfen verbringen dürfen, wo sich Palmen in den Swimmingpools spiegeln, und wo die dicksten Häuser oft Mexikanern gehören, denen man nachsagt, dass sie aus geschäftlichen Gründen sehr dankbar seien über die Mauer zwischen hier und Tijuana.

Aber dann fragt der Grenzer, ein recht zurückgelehnter Schwarzer, gar nicht, was man in den USA will. Er fragt: Was wollten Sie denn bloß in Mexiko?

Er schüttelt den Kopf. Er lacht. Und dann drückt er, erlösend, den Stempel runter.

(c) PETER RICHTER

Eine kürzere Variante dieses Textes erschien zuerst am 20.9.2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung

, , , , , , , , ,