Fertig

„Fertig ist besser als gut“ ist eine Weisheit, die fast jeder einmal zu hören bekommt, der zu lange an einem Projekt herumwerkelt. Bei dem Projekt, einen gemeinsamen Großflughafen für Berlin und Brandenburg zu bauen, ging andererseits sogar dieser Motivationsspruch nach hinten los: Als der erste Termin einer Eröffnung 2012 an technischen Mängeln gescheitert war, sei danach bei jedem Versuch, den Bau zügig irgendwie doch noch fertig zu kriegen, alles immer nur noch schlimmer geworden, klagt Engelbert Lütke-Daldrup, der Geschäftsführer dieses Unternehmens über die Aktivitäten seiner Vorgänger. Als er schließlich den Job übernahm, habe er den Politikern in Berlin und Potsdam deshalb gesagt, dass der Flughafen, wenn er jemals fertig soll, noch viel mehr Zeit und noch viel mehr Geld kosten werde. Das war 2017. Eine Schilderung dessen, was da alles schief gegangen war, wuchs sich in demselben Jahr zur längsten Geschichte aus, die der „Der Spiegel“ je gedruckt hat und kann hier deshalb nicht einmal gerafft wiedergegeben werden. Das Wichtige ist: Drei Jahre und sehr viele Steuermillionen später sind nun die Knoten endlich soweit entwirrt, dass Lütke-Daldrup erste Besucher durch das Terminal 1 führen kann. Am Ende seiner Tour steht er auf der Dachterrasse über dem Rollfeld und beziffert die Gesamtkosten mit sagenhaften 5,9 Milliarden Euro. Die 2012 zunächst vom Hof gejagten Architekten aus dem Hamburger Großbüro Von Gerkan, Mark und Partner, gmp, dürfen daneben stehen, sozusagen als Archäologen der eigenen Arbeit, und sich anhören, dass es auf die Architekten gar nicht so sehr ankomme, dass es in Deutschland vielmehr an Ingenieurbüros mangele, die den immer erdrückenderen Wust an Normen und Vorschriften überhaupt noch bewältigen könnten.

Das ist eine bemerkenswert deprimierende Aussage auf dem Dach eines Gebäudes, das sich leider ebenfalls nicht als besonders euphorisierend entpuppt, zumals es ja auch etwas aussagen soll über das Land, als dessen Hauptstadtflughafen es zukünftig dient. Der Flughafen Berlin-Brandenburg, benannt nach Willy Brandt, internationales Kürzel BER, seit 2006 im Bau und spätestens seit 2012 Gegenstand von Hohn und Spott in der ganzen Welt, vor allem aber Süddeutschland: Jetzt ist er also endlich doch noch fertig geworden. Und ist er damit auch gut?

Das wäre schön.

Es wäre ja wirklich schön, wenn sich jetzt wenigstens herausstellte, dass sich das lange Warten gelohnt hat. Aber am Ende ist der BER ein 5,9 Milliarden teures Jein aus Glas, Stahl, Muschelkalk und sehr viel französischem Nussbaumfurnier. Denn es kommt entschieden darauf an, von welcher Seite man die Sache sieht. Gerade luftseitig, wie das bei Flughäfen so schön heißt, hat der BER unbestreitbar Momente von Grandiosität. Das war schon zu sehen, wann immer bei der Anfkunft auf dem benachbarten Altflughafen von Schönefeld der Blick auf den neuen fiel, der irgendwann in den hier besonders steppenartig wirkenden Weiten Brandenburgs aufgetaucht war, fatamorganenhaft, wie der Kulturpalast eines postsowjetischen Potentaten. Vielleicht sollte man des Effektes wegen in Zukunft grundsätzlich abends hier ankommen: Die gläsernen Brücken, die sich als triumphale Reihe von Risaliten vor den Gebäuderiegel schieben, spiegeln dann den Sonnenuntergang mit dem coolen Pathos von Pilotenbrillen. Dass sie an der Front nach Westen hin zweigeschossig sind hat damit zu tun, dass Flüge außerhalb des Schengen-Raums auf einem anderen Stockwerk abgefertigt werden als die innereuropäischen. An den später hinzugeplanten seitlichen Piers sieht das bescheidener aus. Aber wo das in der Gesamtanlage nun schon einmal an einen dreiflügeligen Schlossbau erinnert, darf bermerkt werden, dass sozusagen die Gartenseite wirklich majestätisch auftritt. Wer dort den Blick nach Norden wendet, kann schon den Berliner Fernsehturm sehen und ist, wenn sich vor Passkontrolle und Gepäckband nichts staut, nur ein paar Rolltreppen später schon in der S-Bahn, im ICE oder bei den Taxis, selbst die Parkhäuser sind angenehm nah. Das ist vor allem deswegen praktisch, weil es Aufenthaltszeit auf dem Flughafen selbst spart. Ankommende haben üblicherweise ein Ziel vor Augen und werden so allenfalls aus den Augenwinkeln wahrnehmen, über wieviel Platten aus Muschelkalk sie der Weg nach draußen führt, an wie vielen Paneelen aus Nußbaum vorbei und an wie vielen Stützen, Pfeilern, Säulen. Touristen, die ihren Baedecker gelesen haben, werden vielleicht sogar erkennen, dass ihnen damit wie beim „foreshadowing“ im Kino schon mal der Schinkel gezeigt werden soll, den es dann auf der Museumsinsel zu sehen geben wird, und in den Deckenrastern die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe. Man kann jedenfalls erkennen, was gemeint ist, so wie man etwa auch die entsprechenden Nachbauten ins Berlins Legoland erkennt, und sollte sich durch die auf diese Weise markierte Differenz zwischen den baukünstlerischen Ansprüchen und den baupraktischen Tatsächlichen nicht entmutigen lassen. Denn die Leute, die hier abfliegen, müssen in dieser Hinsicht noch deutlich mehr Toleranz beweisen: Allein das Ausmaß an Taubenkot, das jetzt schon die gläsernen Nahtstellen zwischen dem Terminal 1 und den nachträglichen Anbauten einschwärzt, ist wirklich atemberaubend. Die Enge in den Sicherheitskontrollen ist es ebenfalls. Zum Glück gibt es viele davon, aber der Raum ist jeweils so gedrängt, dass bei den Kontrollen besser niemand seine Schuhe auszieht, der sie nur im Sitzen wieder anbekommt. Die Architekten sagen, sie mussten hier Platz sparen, damit der Duty-Free-Bereich mehr Raum hat, durch den sich jeder hindurch schlängeln muss, der nicht als V.I.P. oder mit ärztlichem Attest eine Abkürzung nehmen darf. Die Laune, mit der sich dann täglich Tausende durch dieses Nadelöhr pressen müssen, lässt jetzt schon nichts Gutes für die Stimmung an den Gates erwarten. Aber, wer weiß, vielleicht ergibt sich aus der Kollission von Menschenmengen mit Rollkoffern und Barrikaden aus Parfümflaschen am Ende auch Erheiterndes.

Entmutigender als solche Malheurs, die sich aus dem permanenten Wandel der Ansprüche ergeben, ist tatsächlich das, was exakt so werden durfte, wie die Architekten es wollten, nämlich edel, gut und ein wenig einfältig: Denn soviel antikische Gestik, wie der BER mit seinen endlosen Kolonnaden auffährt, evoziert am Ende schon von sich aus den Begriff der Tragik.

Ein tragisches Gebäude ist der BER aber nicht nur wegen seiner katastrophalen Baugeschichte, sondern weil Meinhard von Gerkan, der den BER zusammen mit Hubert Nienhoff und Hajo Paap geplant hat, vor fünfzig Jahren mit Volkwin Marg und Klaus Nickels auch den Flughafen Tegel entworfen hatte, den viele in Berlin immer noch so innig lieben, dass sie schon deshalb dem BER mit Unbehagen entgegen sehen, sofern TXL nicht am Ende noch integriert werden kann: Der alte Flughafen Schönefeld soll schließlich auch als Terminal 5 darin aufgehen – und Terminal 6 würde immerhin zu Tegels sechseckiger Grundform passen. Der Vergleich verbietet sich zwar aufgrund der Dimensionen, Aufgaben, Bedingungen, und saß den Architekten trotzdem sichtbar im Nacken. Sie haben sich löblich bemüht, auch hier wieder einen „Flughafen der kurzen Wege“ zu schaffen, diesmal sogar mit Bahnanschluss. Aber wo in Tegel aus einem Raster von Vier- und Dreiecken ein intuitiv überzeugendes, rhythmisches System von heller Musikalität daraus wurde, wirkt das Rechtecksraster, auf dem sämtliche Maße des BER beruhen, mit der Zeit enervierend repetitiv und pedantisch. Selbst die gähnenden 47,50 Meter zwischen zwei Vordach-Stützen werden am Ende penibel auf 1,25 Meter-breite Wand-Panele heruntergerechnet. So ist alles einerseits riesig und massiv, gleichzeitig aber buchstablich kleinkariert und wirkt damit als hätte jemand Nationalklischees über die Bundesrepublik Deutschland in 3D nachbauen sollen: Alles sehr säuberlich, sehr beflissen und sehr, sehr rechteckig. Das omnipräsente Nussbaumfurnier soll warm und wohltuend wirken, bekommt aber spätestens dann etwas beklemmend Obsessives, wenn man merkt, dass es als Folie sogar um Lüftungslamellen aus Aluminium gewickelt wurde. Hier und da gibt es Anflüge monumentalerer Eleganz, dann schießen etwa Stützen in die Höhen, die wie Strebepfeiler des 21. Jahrhunderts in filigrane Kreuzrippen münden, dann bauchen sich Kolossalordnungen aus Stahl unter ihren technizistischen Kapitellen, als müssten sie alleine zweitausend Jahre Architekturgeschichte buckeln. Das erinnert dann, um es im Sinne solcher Referenzen einmal schmeichelhaft auszudrücken, an die kühnen Linien, die Michelangelo einst den pusseligen Fleißarbeiten von Sangallo entgegensetzte. Nur wirkt es beim BER leider so, als wäre die Reihenfolge andersherum. Es ist ein ästhetisches Regredieren: Während Tegel trotz Alter und Überlastung immer noch munteren Zukunftsopitimismus ausstrahlt, verkündet Berlins neuester Flughafen noch vor der Eröffnung vor allem Rückzug: Stasis statt Dynamik, mehr Muschelkalk als in den Staatsbauten der Dreißigerjahre, mehr Holzvertäfelung als in allen Ratskellern des Landes, eine weitere von Berlins neoklassizistischen Shopping Malls, nur halt mit Gates zum Rollfeld. Bei der Besichtigung äußert jemand leise das Wort „gebaute Flugscham.“

Willy Brandt kann nichts dafür, dass ausgerechnet dieses jetzt schon staubig und veraltet aussehende Geschmacksmonument des Berliner Neunzigerjahre-Konservatismus nach ihm benannt ist. Vor allem kann er nichts dagegen machen. Aber dass auch der grimmige Appellplatz davor ausgerechnet seinen Namen tragen muss, das hat er wirklich nicht verdient. Aber immerhin ist er nun fertig, und das heißt eben auch, begeisterndere Airport-Architektur ist im Zweifel immer nur ein paar Flugstunden entfernt. Oder, für die, die hier ankommen, eine Taxifahrt.

PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 21.8.2020 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.