Wer Aktuelles will, kommt um die Antike manchmal nicht herum: Die Leute, die in Hamburg an der Entwicklung der „Tagesschau“ gearbeitet haben, taten das Anfang der Fünfzigerjahre zunächst in einem Gebäude, über dessen Eingang groß das Wort „Mnemosyne“ stand. Humanistische Bildung oder ein Lexikon wird ihnen gesagt haben, dass das nicht nur der Name der Göttin des Gedächtnisses ist, sondern dass so in der Unterwelt auch der Fluss der Erinnerung heißt, das Gegenstück zur Lethe, dem Fluss des Vergessens, dem in jenen Jahren vieles zum Opfer gefallen schien – nicht zuletzt der Erbauer jenes Hauses.
Aby Warburg, der 1866 in einer Hamburger Bankiersfamilie zur Welt gekommen war, als einen der einflussreichsten Kunsthistoriker überhaupt zu bezeichnen, würde zu kurz greifen. Immerhin reichten die Interessen des Mannes von assyrischen Ausgrabungen über den Sternenhimmel bis zu den Briefmarken seiner Gegenwart. Nachdem er in einem Tausch des Erstgeburtsrechts auf die Übernahme der Bank verzichtet, dafür vom Bruder im Gegenzug die Finanzierung einer ständig wachsenden Bilder- und Büchersammlung erwirkt hatte, war seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, KBW, zu einem intellektuellen Zentrum geworden. Diese akademische Privatunternehmung hatte ihren Grund aber auch darin, dass jüdischen Gelehrten damals die Karrierewege an den Universitäten oft genug versperrt blieben. Warburg starb 1929, den Machtantritt der Nazis musste er also nicht mehr erleben; seine Sammlungen wurden von den Mitarbeitern sicherheitshalber nach London evakuiert. Dabei blieb allerdings etwas auf der Strecke, das sich zu einem geradezu mythischen Unterfangen ausgewachsen hatte: der „Bilderatlas Mnemosyne“, an dem Warburg von etwa 1924 an mit seinen Leuten gearbeitet hatte. Viel hatte man davon gehört, kaum einer hat ihn je gesehen. Wegen Ausmaß, Anspruch und Unabgeschlossenheit wurde das Projekt oft mit Walter Benjamins „Passagenwerk“ verglichen.
Es hat der Sache nicht geholfen, dass der erste Direktor des neuen Londoner Warburg Institutes Ernst Gombrich war, auch er ein legendärer Kunsthistoriker, aber kein großer Freund der ikonologischen Methode, für die Aby Warburg und seine Schule standen und die Gombrich wohl immer etwas abenteuerlich fand. Statt den Atlas publikationsfertig zu machen, tat er ihn als willkürlichen Wildwuchs ab. Die Fotos von Kunstwerken aller Arten und Epochen, die Warburg über Jahre zu Tableaus geordnet hatte, wo sie manchmal so überraschend sinnstiftend miteinander in Beziehung traten, als wären es Collagen von John Heartfield, sie wurden in die Magazine der Fotosammlung zurücksortiert, und ihr Zusammenhang geriet in Vergessenheit. Jetzt hingegen herrscht schon seit vier Jahrzehnten Warburg-Renaissance. Anti-Eurozentristen freuen sich seit den Siebzigern, dass Warburg bereits zur Jahrhundertwende die magischen Praktiken der Hopi-Indianer in New Mexico mit demselben Interesse bedachte, das er auch den Gemälden von Botticelli und Ghirlandaio entgegenbrachte. Martin Warnke hatte mit dem Geld seines Leibniz-Preises das Hamburger Warburg-Haus, wo nach der „Tagesschau“ unter anderem eine Werbeagentur residiert hatte, für die Hamburger Universität erworben und mit einem Bildindex für politische Ikonografie an den Geist des Gemäuers angeknüpft. Und jetzt kann man in der großen Ausstellungshalle des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin in einer Collage von Fernsehinterviews Leute wie Georges Didi-Huberman, Carlo Ginzburg oder Michael Fried den Einfluss Warburgs auf deren Denken und Tun rühmen hören. Drumherum: der Mnemosyne-Atlas, die Tafeln im Halbrund aufgestellt wie zu Warburgs Zeiten im elliptischen Lesesaal seiner Hamburger Bibliothek.
Nicht, dass es nicht vorher schon Rekonstruktionen, Ausstellungen, Publikationen nach den alten Fotoaufnahmen gegeben hätte. Aber als die Ausstellungsmacher Roberto Ohrt und Axel Heil offensichtliche Lücken und Zuordnungsfehler beheben wollten, stießen sie in der Fotosammlung des Londoner Warburg Institutes auf exakt die Lichtbilder, die einst Warburg in Hamburg auf die mit Stoff bezogenen Tafeln gepinnt hatte. Benjamin, der große Theoretiker von Kunstwerken im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, müsste entzückt darüber sein, wie viel Aura offensichtlich selbst Reproduktionen noch haben können, wenn sie erst einmal den Status eines Originals haben, das durch die Hände berühmter Leute ging.
Das Entzückende für alle anderen besteht darin, dass erstens im Verlag Hatje-Cantz begleitend dazu Reproduktionen der Reproduktionen erschienen sind, und zwar in einer Größe, die es endlich erlaubt, die Details auch zu Hause zu studieren. Und zweitens zeigt die Gemäldegalerie zur gleichen Zeit die Originale der Originale. Sehr viele von Warburgs Bildbeispielen stammten nun einmal aus den Berliner Sammlungen. Dort liegen zum Beispiel die versteinerten Tierlebern babylonischer Zukunftsdeuter, die auf Tafel eins des Mnemosyne-Atlas abgebildet sind, zusammen mit ersten Sternkreiszeichen. In diesem Auftakt steckt schon das ganze Warburg’sche Interesse an geistiger Überwindung der „grenzpolizeilichen Befangenheiten“ zwischen High und Low, Damals, Heute und in Zukunft: Dass sich die Gestirne in die Körper einschreiben, um etwas mitzuteilen, das ist eine so uralte, in so vielen Kulturen verbreitete, bis heute wirksame Denkfigur, dass sie sich wie ein roter Faden durch die Jahrtausende und also auch durch Warburgs Atlas zieht. Da sein Interesse dem Schicksal der antiken Mythen galt, die vom Mittelalter verschüttet, in der Renaissance plötzlich wieder auftauchen, kam er um die Astrologie ohnehin nicht herum: Wir sehen, wie die heidnischen Götter als Sternbilder überwintern, Exil am Nachthimmel finden und in arabischen Handschriften. Wie sie sich in Arabien auch verwandeln. Wie zum Beispiel Perseus immer dunklere Haut bekommt, statt der Medusa einen orientalischen Ghul köpft, bis er nur noch Eingeweihten wie eben Warburg als arabischer Reimport auf italienischen Renaissancefresken kenntlich war, bevor die Tierkreiszeichen selbst an deutschen Rathäusern der Dürerzeit auftauchten. Die beiden Berliner Warburg-Ausstellungen könnten nur dann noch wunderbarer sein, wenn Warburg selber, irgendwie zum Leben erweckt, hier Führungen geben würde: Den mit wehendem Gewand ins Bild fliegenden Nymphen folgen, die ihn so faszinierten, von antiken Münzen über Botticellis Gemälde bis zu einer Fisch-Reklame aus den Zwanzigern. Oder der Kindsmörderin Medea, deren Gebärden Jahrhunderte später in „energetischer Inversion“ zum Ausdruck tiefer Mutterliebe verwendet werden. Oder von Manets „Frühstück im Freien“ auf Tafel 55 zurück zu dem römischen Sarkophag auf Tafel zwei, wo ein paar melancholische Flussgötter genauso lagern wie später auf einem „Urteil des Paris“ von Raffael und schließlich dann die Pariser Bohemiens auf dem Picknick-Bild des Impressionisten.
Man kann sich das selber erschließen, wenn man Warburgs Schriften kennt (sind alle vor zehn Jahren gesammelt bei Suhrkamp erschienen). Und es lohnt sich ohnehin, die zu kennen, weil Warburg bei all der Fixierung auf Bilder ein so hinreißender Stilist war, der Begriffe am Ende genauso überraschend und sinnfällig zusammencollagieren konnte wie seine Bildertafeln. Da er es war, der die Wendung von den „Menschenrechten des Auges“ erfunden hat und auch die, wonach der „liebe Gott im Detail“ stecke, möchte man nun am liebsten ständig zwischen dem Atlas im Haus der Kulturen der Welt und der Gemäldegalerie hin- und herrennen, um Warburgs Themen und Motive immer auch in Lebensgröße und in Farbe – als Kunstwerke – zu studieren. Theoretisch wäre das machbar, es liegt nur der Tiergarten dazwischen. Praktisch muss man dieser Tage leider damit rechnen, bei den Demonstrationen dort dauernd in Leute hineinzulaufen, die über den Mikrokosmos des menschlichen Körpers im Zusammenhang mit Sonne, Mond und Merkel Dinge zum Besten geben, die Aby Warburg sicherlich auch hochinteressant gefunden hätte, da sie offensichtlich auf eher magischen Weltvorstellungen fußen. Das berührt die ungeheure Aktualität, die in Warburg und seinem Atlas steckt. Er zeigt, dass es sich immer lohnt, auch das Esoterische in den Blick zu nehmen, es allerdings als Gegenstand der Analyse und nicht des Glaubens zu behandeln, sonst wird man Ende selber irre. Es ist deshalb heikel, Warburg, wie das jetzt leider ebenfalls modisch geworden ist, als Galionsfigur der Rationalitätskritik und sozusagen post-westlichen Hingabe ans Emotionale in Stellung zu bringen, auch wenn das vielleicht gut zur Struktur gegenwärtiger Debatten passt. Eher geht es doch darum, die Gewaltspuren der psychischen Energien kühl zu rationalisieren: Das Mnemosyne-Projekt ist kein Trommelkurs, auch wenn es sich im Zweifel für solche Phänomene interessieren würde.
Warburgs Aktualität liegt schon deswegen auf der Hand, weil es bei ihm bereits um ein Denken und Argumentieren nicht über Bilder, sondern in Bildern ging, wie es durch die Erfindung des World Wide Web virulent wurde und heute im Triumph von Instagram über alle schriftlastigeren Sozialnetzwerke kulminiert. Auf Plattformen wie Pinterest versuchen längst Algorithmen das, was Warburg und seine Mitarbeiter mithilfe ihrer Bildung und ihrer Zettelkästen zu bewerkstelligen suchten. Dass das Internet als solches im Grund ein eminent Warburg’scher Apparat ist, zeigt sich nicht zuletzt in der bitteren Weisheit, dass es nichts vergesse. Das gilt Warburg zufolge für die Kulturgeschichte der Menschheit auch: Alles kommt wieder, gerade das Verdrängte ist nie wirklich weg, sondern segelt am Kiel der Dinge durch die Zeiten, bis es unversehens wieder auftauchen kann. So gesehen muss man sich auch nicht wundern, wenn im Spätsommer 2020 vor dem Reichstag wieder die Mänaden rasen und in Internet-Foren, so wie einst bei der astrologischen Leberschau der Babylonier, alles mit allem zu tun hat. Aber umso genauer ins Auge fassen sollte man es schon.
PETER RICHTER
Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 4.9.2020 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung