Historikerstreit um „Hamilton“

Jetzt hat „Hamilton“ auch noch einen eigenen Historikerstreit. Warum auch nicht? Das erstaunlichste an diesem Musical ist inzwischen, dass im Zusammenhang damit eigentlich so gut wie nichts mehr erstaunt. Nicht einmal die Schlagzeile in der New York Times von Bernie Sanders’ „big win“ an diesem Wochenende. Die Vorwahlen im Bundesstaat New York sind aber erst nächste Woche. Sanders’ „dicker Gewinn“ bezieht sich auf zwei Eintrittskarten zum ausverkauftesten Broadway-Musical seit Menschengedenken (also mindestens seit dem Erfolg von „Book of Mormon“). Ein Präsidentschaftsanwärter der Demokraten kann sich offensichtlich nicht leisten, das Stück nicht gesehen zu haben. Hillary Clinton war letztes Jahr schon drin. Und Obama, der sogar schon mehrmals im Publikum gesehen wurde, hat es sich vor ein paar Wochen gleich komplett ins Weiße Haus geholt – für die „folks“, die sonst keine Gelegenheit hätten, es zu sehen, wie er sich ausdrückte. Es blieb ein bisschen unklar, ob er mit diesen „Leuten“ nicht vor allem seine engeren Mitarbeiter meinte, aber es ist nun einmal seine Lieblingsformulierung, und die klingt nicht ohne Grund immer auch ein wenig nach „ganz normalen Leuten“, um nicht zu sagen „breiten Massen“: Das Musical „Hamilton“ gilt in diesem Teil des politischen Spektrums als sozialpädagogisch wertvoll wie selten mal was. Denn Alexander Hamilton (1755 oder 1757 bis 1804) ist selbst vielen Amerikanern heute nur noch als das Gesicht auf der Zehn-Dollar-Note geläufig.

Dass der Mann nicht nur ein Gründervater der USA und ihr erster Finanzminister war, sondern auch als uneheliches Kind in der Karibik zur Welt kam, später im Leben unter anderem für die Abschaffung der Sklaverei eintrat und schließlich an den Folgen eines Pistolenduells mit seinem schärfsten politischen Widersacher starb: Das lässt sich aber in Büchern wie der großen Hamilton-Biografie von Ron Chernow nachlesen. Exakt das hatte nun Lin-Manuel Miranda, ein Schauspieler, Komponist und Rapper aus New York, vor ein paar Jahren im Urlaub getan, und er sah das Potential für ein erstklassiges Bühnenstück. Ein „good guy“, noch dazu Immigrant, der sich ganz nach oben arbeitet, Revolution, Patriotismus, Verfassung, „Black Lives Matter“, Intrigen, Drama, Tod – da war praktisch alles drin, was Amerika ohnehin immer beschäftigt und im Moment ganz besonders. Miranda, der selber von Immigranten aus der Karibik abstammt, besetzte die Rolle Alexander Hamiltons mit sich selbst und alle anderen überwiegend mit Latinos und Schwarzen. Dass er die ihre Texte überwiegend rappend vortragen lässt, kann man auch als clever bezeichnen, denn erstens sind es ja nun einmal vor allem juristische Rededuelle, die da auf die Bühne gebracht werden wollen, zweitens ist Rap ganz einfach populär. Als drittes fügt Miranda, wenn er sein Erfolgsmusical erklärt, gerne noch hinzu, dass Rap der natürliche Musikstil der Revolution sei. Das wiederum kann man auch anders sehen. (Zum Beispiel als ein oft außerordentlich selbstzufrieden sich an den Eiern herumkratzendes Marginalisiertheits-Gepose.) Aber darum, dass bei Tageslicht vieles eben etwas anders aussieht als unter den Scheinwerfern von Broadway-Bühnen, geht es jetzt ja auch bei den Wortmeldungen aus der Geschichtswissenschaft.

Nachdem nämlich „Hamilton“, die Musical-Figur, zum Superhelden der Progressivität und der ethnischen „Diversity“ emporgewachsen ist, wird jetzt überwiegend im Internet darüber debattiert, ob es nicht ein klitzekleines bisschen übertrieben sei, sich Hamilton, den Politiker, als eine Art Obama mit Zopfperücke vorzustellen.

Hamiltons Kampf gegen die Sklaverei werde heillos aufgeblasen, die Tatsache, dass er in eine Sklavenhalterfamilie eingeheiratet habe, heruntergespielt, heißt es da.

Dass Historiker Einwände erheben, wenn historische Biografien in eine Bühnenfassung gebracht werden, ist normal. Andrew Lloyd-Webber hat mit „Evita“ unter Zeithistorikern auch nicht nur für Jubel gesorgt. Von Spielbergs Historienkino ganz zu schweigen. Aber bemerkenswert an der Debatte um „Hamilton“ ist, dass nur ausnahmsweise wirklich „Hamilton“ in der Kritik steht, also das Stück. Lyra Monteiro, eine junge Historikerin von der Rutgers University, hatte eingewendet, dass die vielen Schwarzen, die in dem Stück die Rollen von weißen Figuren einnehmen, den Blick darauf verstellten, wie viele historisch belegte schwarze Figuren in dem Stück gar nicht erst vorkämen. Über die Feststellung, dass sich das Stück den heroischen Sklavenbefreier zurechtfantasiert als den wir den Mann heute gern hätten (Annette Gordon-Reed von der Harvard University) hat sich der Tenor aber allmählich zu einer Kritik an Hamilton, dem Politiker, verschoben, dem nun mehr oder weniger zur Last gelegt wird, dem Hamilton aus „Hamilton“ an Progressivität bedenklich hinterherzuhinken. Der historische Hamilton muss sich den Vorwurf gefallen lassen, seiner Zeit nicht 210 Jahre voraus gewesen zu sein, sondern nur ungefähr 60.

Dass unter den Gründervätern der USA tatsächlich überproportional viele weiße Männer waren, ist aus dieser Perspektive dann natürlich nur einer der Missstände, die eine Glorifizierung durch Broadway-Musicals fragwürdig macht. Gegen Hamilton sprechen dann auch diejenigen unter seinen politischen Überzeugungen, mit denen ein demokratischer Präsidentschaftskandidat heute bei der Generation, die eben erst „Occupy Wall Street!“ gerufen hat, weniger gut punkten kann: Hamilton als Gründer und Freund von Großbanken mit Sympathien für eher aristokratische Verhältnisse in der Politik, eine Erbpräsidentschaft, Senatorenwürde auf Lebenszeit und solche Dinge. Hamilton sei eher ein Mann für die „ein Prozent“ gewesen, klagt Sean Wilentz, der in Princeton lehrt. In der politischen Rhetorik der USA ist das die aktuelle Formulierung für das, was früher mal „die oberen Zehntausend“ hieß.

Es ist auffällig, dass es ausgerechnet Amerikas Elite-Universitäten sind, in denen im Moment solche geradezu jakobinischen Formen von rückwirkender Eliten-Fresserei gedeihen. Kann sein, dass diese Historiker ihren Studenten anhand von „Hamilton“ vor Augen führen wollen, dass Geschichte eben nicht einfach ist, sondern immer wieder gemacht wird, und zwar durchaus nach Maßgaben der politischen Opportunität. Dass es aber ausgerechnet der Präsidentschaftswahlkampf 2016 sein soll, der Amerikas Blick auf Alexander Hamilton konditioniert, lässt einen Grundwiderspruch unaufgelöst: Wenn Bernie Sanders wirklich so ein volkstümlicher Typ aus Brooklyn wäre, wie er das einen ganzen Wahlkampftag in New York beteuert hat, dann hätte er hinterher eigentlich nicht in die Aufführung von „Hamilton“ gehen dürfen. Die Karten sind, wie gesagt, auf Monate hin ausverkauft. Wie die New York Times mit süffisanter Genauigkeit ermittelte, wurden Sanders und seiner Frau von seinem Wahlkampfteam zum Vorzugspreis von nur jeweils 167 Dollar sogenannte House Seats besorgt. Das sind Karten, die sie am Broadway für besondere Fälle bereit halten, für Ehrengäste aus der Politik zum Beispiel, man könnte auch sagen: Eliten.

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 14. April 2016 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.