Joel Meyerowitz

Und wenn die Fotos von Joel Meyerowitz doch nicht so großartig sind, wie sie diese Berliner Retrospektive einen glauben machen will? Die wiederum ist nämlich so großartig, auf jeden Fall aber so groß, dass sie selbst diesen Blickwinkel zulässt, ohne dass sich dabei jemand langweilen muss.

Was also, wenn die Kritiker nicht ganz falsch liegen, die Meyerowitz’ fotografische Unbekümmertheit aufregt. Muss das zum Beispiel wirklich sein, dass so oft irgendwo ein Kopf abgeschnitten ist, Leute aus dem Bild rennen, und, wenn man schon so einen fröhlichen schwarzen Hundehalter vor die Kamera kriegt und daneben einen weißen Portier, der selber ausschaut – und schaut – wie eine scharfe Bulldogge: Hätten dann nicht wenigstens von allen Beteiligen auch die Füße zu sehen sein können? Könnte natürlich auch sein, dass solche Penibilitäten dem beiläufigen Humor dieser Aufnahmen etwas Wesentliches nehmen würden.

Es ließe sich allerdings auch mit gutem Grund behaupten, dass die wie beiläufig aus den Augenwinkeln erzwinkerten Straßenfotografien, in denen Mann aus der Bronx ab den Sechzigerjahren zufälligen „Begebenheiten“ auf der Spur war, wie er das nannte, manchmal ein klitzekleines bisschen sehr auf Pointen aus sind. Vor einem Kino, das den Film „Kiss me, stupid“ ankündigt, stehen eine Frau und ein Mann und – dadah: küssen sich. Oder diese Frau, die im Badesee die Krüken von sich wirft wie bei einer Wunderheilung. Oder dieses Interieur mit dem Manet-Bild, junger Mann spricht mit junger Frau, und daneben durch das Fenster sehen wir draußen im Garten: alter Mann spricht mit alter Frau. Aber gegen die Heiterkeit dieser Szenen ist man am Ende auch dadurch nicht gefeit, dass man den langen Anlauf dahinter immer mitsieht. Bei Meyerowitz ist ja selbst ein Motiv heiter, dass laut Titel einen „Antikriegsprotest“ zeigt und auf den ersten Blick ein Knäuel von zähnefletschenden Hunden, wie man das von den ikonischen Schreckensbildern aus der Bürgerrechts-Ära kennt. Aber beim genauen Hinschauen wirken auch diese Hundehalter eher wie amüsierte Upper-East-Side-Nachbarn, denen sich beim Gassigehen die Leinen verheddert haben. Es ist ein bisschen so wie in den Filmen von Woody Allen, der das irre, hektische, wundervolle Leben in New York feiert, während Kollege Scorsese zeitgleich dieselbe Stadt mit demselben Wahrheitsanspruch als komplett kaputte Vorhölle präsentiert.

Das gilt grundsätzlich auch ab dem Moment noch, in dem Meyerowitz das Anekdotische der „Street Photography“ aufgab, um „Field Photography“ zu betreiben, wie er das nennt, also eine Fotografie, in der alles im Bildfeld als Information wichtig genommen wird, was ihn zwangsläufig zum Einsatz von Farbe brachte, die damals in der Kunstfotografie noch als vulgär und werbemäßig benasrümpft wurde. Das Amerika, das Meyerowitz zeigt, ist ein ungleich lebens- und liebenswerterer Ort als das von William Eggleston und Stephen Shore, den anderen beiden großen amerikanischen Pionieren der Farbfotografie, hinter deren Bildern man immer irgendeine Art von Drama, Kaputtheit, Gewalt, Serienmord und Leben ohne Krankenversicherung zu ahnen meint. Als Meyerowitz nach einem längeren Aufenthalt in Europa in das Amerika der Vietnamkriegs-Jahre zurückkommt und sich auf den Spuren des verehrten Robert Frank aufmacht, mit der Kamera das Land zu durchmessen, kommen auch bei ihm diese typischen Amerikana heraus, die absurd großen Straßenkreuzer, die Tankstellenlandschaften, die Kulinarik der Diners – ein Land im Wohlstandsvollrausch. Aber dann ist da eben auch so eine nächtliche Strandszene aus Texas in den frühen Siebzigern: Nackte Jugendliche kommen aufgekratzt bibbernd aus dem Wasser ins Blitzlicht gerannt, während vorne am Strand ein Paar angezogen auf einander herumliegt und knutscht. Jugend, Aufregung, Verbotenes, sexuelles Erwachen und stille Innigkeit – alles in einem schnellen Bild zusammengespannt. Oder diese „Cocktail Party“ irgendwo in Massachusetts: So gut wie alle Gäste leicht unscharf bis gehardrichterhaft verwischt, nur die madonnenhaft schöne, traurige, möglicherweise aber auch schwer verknallte Frau nicht, die aus der Mitte des Bildes den Fotografen anschaut. Und auch nicht die eine Frau, die von der Seite her ein bisschen eifersüchtig diesen Blick bemerkt und beobachtet. Als hätte sich für dieses Bild ein englischer Präraffaelit mit einem französischen Problemfilmregisseur zusammengetan.

Es ließe sich gegen den ehemaligen Werbegrafiker möglicherweise die Tatsache vorbringen, dass seine Bilder oft immer noch sehr werbegrafische Qualitäten haben. Es ließe sich allerdings genauso gut auch zu seinen Gunsten vorbringen. Es ist jedenfalls nachvollziehbar, warum die Pat Metheny Group ihr Album „American Garage“ in ein Foto von Meyerowitz gepackt haben, auf dem ein ganzer Haufen Airstream-Wohnwagen auf einer Wiese am Straßenrand grast als wär es eine Herde silberner Kühe. Oder warum Ben Folds und Nick Hornby für ihre Platte „Lonely Avenue“ zu dem Bild eines Flughafenbusses mit gestiefeltem Minirockmodel am Lenkrad griffen, das Meyerowitz an einem hypnotischen Tag in den Siebzigern in Los Angeles gemacht hat. Oder die Band Taking Back Sunday für „Louder Now“ zu dem Bild dieser Kinokartenverkäuferin, der das Sprachloch in ihrem Fensterchen vor dem Gesicht hängt wie ein von John Heartfield ins Bild collagierter Brüllapparat. Letzteres übrigens noch in Schwarzweiß und so vermutlich auch wirkungsvoller als es in Farbe gewesen wäre. Es gibt in dieser Ausstellung auch eine ganze Reihe von Motiven, die Meyerowitz einmal in Schwarzweiß und einmal in Farbe fotografiert hat, in der Regel ist farbige Variante intensiver, manchmal, aber eben auch nicht, und da wäre dann die Frage, ob das nicht einfach die kontrastreicher aufgebauten Bilder sind.

Ab ungefähr der zweiten Hälfte der Siebziger ist dann nur noch Farbe, und schließlich fangen die Aufnahmen an, immer entschiedener an nach nahem Meer zu riechen, nach Ostküste, nach Sommer. Das Strandleben auf Cape Cod wird zu seiner Welt, Räume voller Sonne, Gardinen, die wie Fischernetze über den Dingen hängen, schließlich Himmel und Meer. Meyerowitz steht irgendwann wie Caspar David Friedrichs Mönch am Meer und sinnt über den Horizont und den Raum darüber nach, nur falls er dabei das Kleist’sche Gefühl gehabt haben sollte, die Augenlider seien ihm weggeschnitten, dann hatte er immerhin die Augenlider seiner Kamera, die mit ihrem Verschluss die Bilder ausschneidet und nach innen abheftet. Schließlich macht er vor dem Hintergrund der Horizontlinie Porträts, die dann da am Strand stehen wie die Venus von Boticelli. Als er entdeckt, dass er ganz schön häufig Rothaarige porträtiert hat, macht er die Rothaarigen kurzerhand zu einer Extra-Serie.

Man sieht den Mann in dieser Retrospektive fast schon konzeptkunstartig alle Möglichkeiten der Fotografie einmal als Serie durchprobieren. Mal schaut er hin, mal schießt er offensichtlich blind in die Gegend, dann wieder wird das fahrende Auto zur Kamera, mal versucht er, sich mit seinem Apparat unsichtbar zu machen, dann wieder operiert er mit riesigen Kästen, die von sich aus die Blicke auf sich ziehen müssen. So gesehen hat es dann auch sicherlich völlig seine Berechtigung, wenn er neuerdings die Gemälde von Giorgio Morandi mit den alten Flaschen und Krügen aus dessen Atelier nachstellt, denn warum auch nicht, wer soviel gemacht hat, kann im Alter schließlich machen, was er will. Aber man möchte dann doch lieber noch einmal zurückgehen, vorbei an den Trümmerbildern vom World Trade Center nach 9/11, denen der offenbar notorische Optimist selbst im Moment der Trauer noch etwas Starkes und Lebensbejahendes abgewinnt, vorbei an den Wolkenbildern und Schwimmbadbildern über Wasser und an denen unter Wasser, zurück bis in dieses mythische New York der Siebziger, das, wie man weiß nahezu pleite war und von Kriminalität zerrüttet. Aber bei Meyerowitz steht da eine junge Frau in interessanten Stulpen irgendwo an der Ecke einer East-Side-Avenue vor einem Diner. Die Morgensonne lässt das Empire State Building erglühen. Man fragt sich nochmal, warum zum Teufel die Frau so unscharf sein muss. Dann auf einmal sieht man, dass scharf nur ist, worauf schon das Licht der Sonne leckt, der Rest ist noch im grisseligen Dunst. Und wenn das Bild überall perfekt scharf wäre, dann wäre es halt nicht so scharf und so perfekt.

 

Joel Meyerowitz: Why Color? C/O-Berlin. Bis 11.3.2018. Kein Katalog. Aber es gibt in der Ausstellung das noch umfänglichere Meyerowitz-Buch „Where I find myself – A lifetime retrospective“ für 60 Euro.

 

Eine Version dieses Textes erschien zuerst im Dezember 2017 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung