Lächeln und Zähnefletschen

Mike und Stephanie schauten aus ihrem Selfie wie zwei Zeugen Jehovas auf Marihuana, gesehen durch einen Türspion. Auch ihre Beschreibung des Hauses grinste und giggelte mit jeder Zeile. „Charmante Künstlerbleibe in den Hügeln von Los Angeles…“ In den Kommentarspalten kicherten frühere Gäste und reckten die Daumen. Wer das Land des Lächelns immer noch in China vermutet, kennt entweder China oder Air B’n’B nicht. Wer wiederum Air B’n’B nur als Vermittler von Ferienwohnungen begreift, übersieht, dass die Seite, jedenfalls in ihrem Heimatland, auch eine einzige Wiederaufbereitungsanlage für die alte amerikanische Kulturtechnik der Süßholzraspelei ist. Kein Profilbild ohne an die Ohrläppchen geleimte Mundwinkel. Und kaum eine Bewertung ohne das euphorischste Lobwort, das Amerikaner heute kennen: awesome. Ursprünglich bedeutete das zwar mal „grauenerregend“, aber das war sozusagen nur der unkandierte Rohzustand.

Zucker, im Sinne von Diabetes und ihren Vorstufen, ist etwas, woran einer Studie des Journal of the American Medical Association zufolge die Hälfte aller Amerikaner leiden. Es gibt in Amerika aber auch einen erhöhten Zuckeranteil in der Kommunikation; Schönfärberei heißt nicht ohne Grund „sugarcoating“. Keine Studien gibt es darüber, wie groß das Leiden daran ist. Aber es ist ein paar Indizien. Die Beliebtheit von harten Kraftausdrücken in Umgangssprache und Popkultur zum Beispiel. Oder die Popularität von Donald Trumps Twitter-Tiraden.

Es geht hier nun ein Jahr zu Ende, in dem über weniges so viel gesprochen wie darüber, in welchem Ton über welche Dinge gesprochen wird. Der Niedergang der „Civility“, also der Verlust von Zivilität im Umgang miteinander wird zwar in den USA schon so lange moniert wie man auch überall sonst den Niedergang der guten Sitten beklagt. „Wie oft werden wir zur Schamesröte getrieben, wenn die Rohheit eines bäuerischen Typen zu Tage tritt, der mit seiner Vulgarität nicht an sich halten kann?“, heißt es in dem Standardwerk „American Etiquette and Rules of Politeness“ von 1882, und die Autoren fügten seufzend Matthäus 12,34 hinzu: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ Aber 2016 war das Jahr, in dem die New York Times ein Schulkind mit den Worten zitierte, dass es zum Direktor zitiert und rausgeworfen würde, wenn es sich Ausdrucksweisen erlaubte wie der republikanische Präsidentschaftskandidat. Es war ein Jahr, in dem eine wahlentscheidende Anzahl von Amerikanern eine denkbar kurze Leitung zwischen Herz und Zunge toleriert, wo nicht gar goutiert hat. Der ungefilterte Ausbruch des Sentiments galt genügend Leuten als erfrischende Alternative nicht nur zu dem, was die politischen und kulturellen Eliten in den Metropolen sagen, sondern auch wie. Denn die politische Konfrontation war nicht zuletzt die zwischen einer progressivistischen Sprachpraxis, die sich das vermeintlich ohnehin Fällige fortwährend als gesellschaftspolitisches Tofuwürstchen selbst vor die Nase hängt, und einem konservativen Genöle mit ungewohnter Offenheit fürs Hemmungslose. Die Bauchweisheit des Bäuerischen, neu aufgelegt im Proletarier aus dem ländlichen Amerika, gelangte zu neuen politischen Ehren; der in den liberalen Küstenmetropolen belächelte Redneck figuriert in Amerika seit 2016 auf einmal als das, was Ernst Moritz Arndt den „ewigen Adam des Geschlechts“ genannt hat, als er seinerseits Kraft und Schönheit derben Deutschs gegen das Französisch der Obrigkeiten in Stellung brachte. Da in Deutschland heute so gut wie jede politische, kulturelle und akademische Tendenz aus Amerika übernommen und adaptiert wird, kann man sich dort schon mal darauf gefasst machen, dass Wechselgesänge wie „Merkel, du F….!“ (das Wir-sind-das-Volk-Volk) und „Pack“ (der SPD-Chef) in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme sein werden.

Die Amerikaner selbst wissen natürlich, dass sie sowohl in den säuselnden wie in den unflätigen Tonlagen maßstabssetzend sind. Es wird auch hier in Zeitungsartikeln immer mal wieder registriert, dass die weltberühmte amerikanische Freundlichkeit von Nichtamerikanern oft entweder als „falsch“ missverstanden oder, noch fataler, beim Nennwert genommen wird. Expatriierte Briten wie die BBC-Kolumnistin Toni Hargis können am besten darüber Auskunft geben, wie ausgesucht fies diese Nettigkeiten mitunter sind. Auch Freundlichkeit kann eine Gemeinheit und ein Gewaltakt sein, und zwar selbst dann wenn es nicht mal bös gemeint ist. Hargis’ Landsmann Christopher Hitchens hat einmal eine sehr von Herzen kommende Suada wider die Brutalität verfasst, mit der Amerikas überfürsorgliche Kellner jedes Tischgespräch zerstören mit ihren dauernden Erkundigungen, ob alles „ok“ sei. Restaurantbesuche könnten so gesehen fast schon die Lektüre von Judith Butlers Ausführungen über die performative Kraft von Sprache ersetzten. Andererseits muss man da schon deswegen trotzdem durch, weil auf der sogenannten Queer Theory Butler’scher Bauart auch ein guter Teil dessen fußt, was heute als „Political Correctness“ (zuletzt noch verfeinert um den Schutz vor „Mikro-Aggressionen“ und „kultureller Appropriation“), immer abwechselnd als Antwort auf und als eigentlicher Grund für die tiefe Sehnsucht so vieler nach dem derben Tump’schen „Tell it like it is“ durch die Debatten geistert.

Diese Sprachregime werden heute oft als zeitgemäßer Ersatz für verloren gegangene Konventionen der Höflichkeit angesehen, während das Internet gleichzeitig der Verrohung Vorschub leiste. In der Tat ist Derbes, das im Englischen meist eine germanische Wurzel hat und kurz ist, für Twitter naturgemäß besser geeignet als lateinbasierte Gewähltheiten. Aber Amerika hat eben durchaus auch Dinge wie Air B’n’B hervorgebracht, die einer geradezu tanzstundenhaften Lächel-Etikette neuen Auftrieb geben, was daran liegen mag, dass es tatsächlich ein soziales Netzwerk ist, das soziale Anpassung provoziert. Die Diskriminierung von afroamerikanischen Mietinteressenten, die Air B’n’B in diesem Jahr zugeben musste, geschieht hier sozusagen mit allergrößter Liebenswürdigkeit. Auch Nutzer des Taxivermittlers Uber wissen, dass sie jedem Fahrer, gut oder nicht, hinterher fünf von fünf möglichen Punkten geben sollten, denn auch der Fahrer bewertet den Kunden, und ein Score von weniger als vier Punkten kann ein Problem werden, wenn man mal dringend einen Wagen braucht an einem betriebsamen Abend oder bei Regen. Mexican Standoff nennen sie es in Hollywood, wenn sich in einem Film drei Personen gegenseitig mit der Knarre in Schach halten. Californian Standoff kann man nennen, was diese Firmen aus dem Silicon Valley organisieren. Manche, die eine Ferienwohnung auf Air B’n’B als super bewerten, meinen ja gar nicht super, sondern suuper, also die Art von super, die der Kollege durch die Zähne presst, der kurz darauf mit gezogener Waffe durch die Flure marodiert. Wenn man hingegen in unverstellten Worten deutlich machen will, dass Mikes und Stephanies „Künstler-Bleibe“ in Wahrheit „vieles ist kaputt“ meint – und „charmant“, dass man vor Dreck an den Möbeln kleben bleibt -, dann muss man sich an eine Schiedsstelle von Air B’n’B wenden, wo eine, natürlich, sehr freundliche Person fragt, ob man die Sache wirklich so eskalieren lassen wolle, und in der Folge ziehen allerdings auch Mike und Stephanie die Handschuhe aus und verwandeln sich in Gangsta Rapper auf Crystal Meth. Denn die Ausdrucksweisen des „Passive aggressive“ sind, als wäre das eine grammatische Form, immer nur einen Schritt entfernt vom „Active aggressive“. Hauptsache ist: „aggressive“. Es ist ein positives Eigenschaftswort; einen Rechtsanwalt, auf den es nicht zutrifft, würde man nicht engagieren. Und kulturgeschichtlich beruht nicht nur das offensive Lächeln der Amerikaner auf der hohen Mobilität eines Volkes im Landnahme-Modus, sondern auch der rüde Ton. Für Diskussionen sorgt in dieser Gesellschaft heute der Fakt, dass Frauen statistisch weniger zu Kraftausdrücken in der Öffentlichkeit tendieren als Männer – ein Fakt, den Sheryl Sandberg, Facebook, und Adam Grant, University of Pennsylvania, neulich in einem gemeinsamen Pamphlet anprangerten: So hätten Frauen nicht die gleiche verbale Durchsetzungsfähigkeit.

Der feine Begriff für unfeines Reden ist „Profanity“. Profanität aber hält zumindest Augenkontakt mit dem Hohen und Heiligen, das hat der Philosoph Giorgio Agamben der Welt nun wirklich hinter die Ohren geschrieben, als er daran erinnerte, dass das Profane wörtlich das aus einem Heiligtum durch menschlichen Gebrauch wieder Herausgenomme ist. Amerikanische Schimpfwörter müssten Agamben insofern glücklich machen, als mit „Swearwords“ dasselbe passiert ist. („To swear“ hieß ja nur ganz ursprünglich mal exklusiv „schwören.“ Weil so viele der hohen Versprechen der Menschen nicht einlösbar sind, hatte irgendwann im 17. Jahrhundert ein Bedeutungswandel eingesetzt, und heute heißt „to swear“ in erster Linie „fluchen.“) Vielleicht steckt in dieser Nähe vom ganz Hohen und ganz Niedrigen, vom Zuckerigen und vom Skatalogischen ja auch ein Trost. Irgendwo, zur Hölle, muss schließlich einer stecken.

Und all die feinen Zwischenlagen, die Lebenspraktiken des „American Cool“ zum Beispiel, oder die Technik des „Shading“, also die Kunst, mit kleinen Gesten und Worten zu beleidigen, die so ambivalent sind, dass zur Not alle das Gesicht wahren können? Das sind sehr afroamerikanische Kulturtechniken, und die hatten ihre Zeit im Weißen Haus. Demnächst zieht aber ein New Yorker Poltergeist dort ein. Und New Yorker sind Amerika-Meister im Poltern.

Einmal fand ein Fremder auf dem Broadway, dass es schön wäre, bei all dem Gehetze mal wieder stehen zu bleiben und nach oben zu schauen: wie schön, wie prachtvoll, wie herrlich das ja dann auch wiederum alles ist. „Moooove, ASShole!“, fauchte eine alte Vettel, den Blick auf den Bordstein genagelt. Lächeln hätte eine Antwort sein können. Befreiender war in dem Moment aber des Lächelns muskulöser Bruder: Lachen.

(c) PETER RICHTER

Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 31.12.2016 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung