Am Morgen im Soho House war noch alles in Ordnung. Das Soho House ist ein Jugendclub mit Hotelzimmern, oder umgekehrt, jedenfalls muß man Mitglied sein und darf keine Krawatte tragen, dann kann man von der Dachterrasse aus auf eine mehrere Quadratkilometer große Kreuzung voller Baustellen schauen. Die Gäste und das Personal sehen alle aus wie der frühe Morrissey, sogar die Frauen; und eingerichtet ist es so, wie sich Erwachsene vorstellen, daß sich Kinder vorstellen, daß Erwachsene . . . – also: absurd große Ohrenlehnsofas, in denen tagein und tagaus aus Jil-Sander-Anzeigen entstiegene Medienmodels herumlungern wie in der Spiel- und Bastelecke vom Karstadt.
Es ist, vermutlich, logisch, daß die Popsängerin Madonna in Berlin ausschließlich hier Quartier nehmen konnte. Es stimmt aber nicht, was die Berliner Boulevardzeitungen behaupten: Daß sie alle Fitneßgeräte aus dem Gymnastikraum in ihr Zimmer verschleppt habe und wegen ihr das Restaurant geschlossen sei. Im Gegenteil, man kann fast ein bißchen enttäuschend problemlos von der Bar aus zusehen, wie der Sängerin Satrapen zum Frühstück (Obstsalat) schreiten. Und was würde man sagen, wenn Madonna plötzlich selbst hereingeschneit käme?
Vielleicht: Guten Morgen, liebe Frau Madonna, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie, da blieb einem ja auch nicht viel anderes übrig in den vergangenen 30 Jahren, und heute Abend haben wir beide das Vergnügen miteinander; Sie singen, ich höre zu, und viel mehr werden wir wahrscheinlich gar nicht werden, wenn man mal so ins Internet schaut, wegen, tja: Fußball, das Halbfinale . . . Nicht traurig sein, bitte!
Auf Ebay waren die Karten zuletzt schon ab einem Euro zu haben. Karten, die rund 200 Euro gekostet hatten. Manche schoben zur Begründung plötzliche Erkrankungen vor, einige machten gar keinen Hehl daraus,daß sie lieber das Spiel sehen wollten. An das Halbfinale hatte irgendwie keiner gedacht beim Kartenkaufen. Madonna ja auch nicht.
Oder etwa: doch?
Das am Donnerstagabend war nämlich kein Spiel Deutschland gegen Italien. Es war ein Spiel Deutschland gegen Italien gegen Madonna. Und man muß schon nur noch Bier und Bratwurst im Hirn gehabt haben, um nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wie das ausgehen würde. Ausgehen mußte. Es sollte eine Doppelstunde werden zu den Themen Schönheit und Effizienz, Leistung und Ertrag, Hybris und Historie. Es sollte ein Abend werden, an dem Deutschland gehörig was lernen konnte über Wahn und wahre Werte. Aber noch am Nachmittag ahnte niemand was davon und wollte auch nichts in der Hinsicht ahnen. Man wurde ja behandelt wie ein Defätist vorm Standgericht, wenn man nur „Italien“ sagte und dazu ein bißchen sorgenvoll die Luft durch die Zähne zog. Aus den Autoradios schnarrte der Bundestrainer. „Mir – können, knister, jede Mannschaft der Welt, knister, schlagen!“ Wenn sie noch die Liszt-Fanfare davor gesetzt hätten, hätte es geklungen wie ein Wehrmachtsbericht vom Kursker Bogen. Entsprechend leider das Bild vor der Halle: überall Fahnen, DFB-Trikots, schwarzrotgoldene Umhängepuschel. So wollt ihr euch hoffentlich nicht vor Madonna blicken lassen, in diesen Kindergartenfarben? Wollten sie ja auch nicht.
Dramatische Szenen spielen sich da ab. Die Leute versuchen ihre Madonna-Tickets mit einer Hysterie und Verzweiflung irgendwie wieder abzustoßen, die allenfalls mit der Hysterie und Verzweiflung vergleichbar ist, mit der sie im Februar versucht hatten, Madonna-Tickets zu ergattern. Fast 200 Euro, wie gesagt. Und die Preise sinken, je näher der Anpfiff rückt. Allen ist zum Weinen.
Dazu gehört an dieser Stelle allerdings auch nicht viel. Ein Blick auf die Halle tut es auch schon. Früher waren hier auf einem alten Industriegelände eine ganze Reihe jener Clubs, die den Ruf des Berliner Nachtlebens bis in Madonnas Ohren getragen haben dürften, aber dann fiel dieses Mehrzweckscheusal vom Himmel und hat die ganze Gegend in eine beleidigend trostlose Stadtrandwüste zurückgebombt.
Die Bierbänke vorm „Eastside Paradies Spätverkauf“ an der Warschauer Straße sind ein vergleichsweise idyllisches Plätzchen dagegen. Dort kann man immerhin ja noch die erste Halbzeit schauen; Anstoß ist 20:45 Uhr, Madonnas Auftritt ist für Punkt 21:30 Uhr angekündigt, und es verspricht eine dieser lauen Nächte zu werden, für die Jugendliche bis aus Amerika und Neuseeland nach Friedrichshain-Kreuzberg kommen, um auf der Straße mal schön ein paar Sternburg Pils wegzutrinken.
Aber dann macht Balotelli dieses Kopfballtor, und ein paar Gesichter werden deutlich länger, auch die der Neuseeländer und Amerikaner, die den Eindruck haben müssen, jemand hätte auf die Fernsehübertragung des Films „300“ umgeschaltet: Ein antikischer Held steht da auf dem Platz, er hat soeben eine feindliche Streitmacht gemetzelt, sein Oberkörper ist frei, und Herkules ist ein Hemd dagegen…
Umschalten ist bei solchen Spielständen natürlich immer eine Option. Die Nägel vor Entsetzen bis aufs Bett abkauen eine andere. Die beste ist aber: eine Karte für Madonna in der Tasche haben.
Als dann, schon auf dem Weg zur Halle, das Schmerzgeschrei über Balotellis Zwei-Null aufbrandet, ist klar, dass die, die vorhin ihre Zweihunderteurokarten förmlich weggeworfen haben, jetzt vierhundert Euro hinlegen würden, um doch noch unter die Rockschöße von Mutti Madonna zu dürfen. Geht aber nicht mehr. 13 100 Leute, zum Teil mit zum Totlachen günstig ergatterten Karten, trinken und tanzen sich schon mal warm und freuen sich große Löcher in die Bäuche: In Istanbul hat Madonna ihre Brustwarze gezeigt. In Rom ihren Hintern. Mal schauen, welcher Körperteil in Berlin dran ist!
Was man von Madonna dann tatsächlich zu sehen bekommt, ist zunächst einmal allerdings: nichts. Nicht halb zehn, auch um zehn noch nicht. Irgendwann durchfährt einen ein schauderhafter Verdacht: Die schaut in ihrer Garderobe erst noch das Spiel zu Ende! Während es sonst in der Halle auf ihr Geheiß nirgendwo zu sehen sein darf, auf keinem einzigen der vielen, vielen Monitore, die überall herumhängen. Fies? Böse? Madonna. Es ist dann exakt 22:17 Uhr, als die Glocken erklingen und dreizehntausendeinhundert Fotohandys den Introitus filmen.
Lob des Mobilfunks an sich: Man kann bei der Gelegenheit gleich noch mal schauen, ob sich was am Spiel getan hat. Elfmeter Özil, 2:1 Endstand. Oh, mein Gott!
Das sagt in exakt dem Moment allerdings auch Madonna. Sie sagt: „Oh, my God“, und: „I am heartily sorry for having offended Thee and detest all my sins.“ Es ist zum Kreischen. Sie sieht aus wie Uta von Naumburg und schwebt durch gotisches Pfeilerwerk. Dazu Weihrauch aus dem ganz großen Kessel. Wo ist bitte Martin Mosebach, wenn man ihn mal zum Ganz-fest-in-den-Arm-kneifen braucht? Das Spiel ist maximal weit weg jetzt. Denkt man. Aber dann kommt plötzlich Balotelli auf die Bühne, und dann gleich nochmal und nochmal, und Pirlo und all die anderen; Madonnas Tanzbrigade ist die italienische Nationalmannschaft mit freien Oberkörpern. Ein grausames Schauspiel. Aber es sublimiert den Schmerz. Weiß sie das? Weiß sie, dass man die Sache schon deswegen nicht aus dem Kopf kriegen kann, weil man ins Pissoir gemalte Tore treffen soll, wenn man in dieser Halle mal für kleine Jungs gehen muß, wie man gerade hier und heute mal so sagen dürfen muß. Angeblich weiß Madonna doch alles über kleine Jungs und vor allem kleine Mädchen. All diese kleinen bösen Jungen und Mädchen um die vierzig, die immer brav alle Platten von Madonna gekauft haben und sie trotzdem so wahnsinnig hassen. Hassen, hassen, hassen, hassen und trotzdem zum Konzert müssen. Um mit Feldstechern nach Spuren von Alterung zu gieren.
Was soll eigentlich dieser Falten-Faschismus? Seit wann soll Jugend denn eine Frage des Alters sein? Und wozu überhaupt? Was die Herren Walser, Roth und Vargas Llosa dürfen, wird man ausgerechnet Frau Madonna ja wohl nicht verbieten wollen. Soll sie doch bitte sehr gerne und immer wieder von „girls“ auf dem „dancefloor“ flöten, die Raves der Zukunft werden ohnehin Seniorentanztees sein, und wem das zu unauthentisch ist, der kann ja stattdessen Kerzen auf Chiantiflaschen pfropfen oder zu Tracy Chapman gehen, falls die noch lebt.
Eine andere Unsitte ist es, von Madonna zu verlangen, dass sie auch noch selber singt, während sie die Bewegungsfolgen aller Jane-Fonda-Aerobic-Kassetten in jedem Lied aufs Neue nachtanzt. Nett genug, dass sie trotzdem so tut. Es sähe auch so alles ganz hinreißend aus. Madonna als Funkenmariechen. Madonna als Killerin. Madonna in Unterwäsche. Oder im Glitzerkittel wie auf dem Weg zur Star Wars Convention. Und immer wieder bei der rhythmischen Bodengymnastik. Madonna kann, offensichtlich, alles.
Kann sie nicht auch machen, dass die scheußliche Halle einfach wieder wegfliegt? Und dass Deutschland vielleicht doch gewonnen hat? Es gibt Momente in dieser Revue, in denen glaubt man, mit entsprechendem Bauchmuskeltraining ist nichts mehr unmöglich.
Wenn nur die Musik nicht wäre. Beziehungsweise wenn da Musik wäre. Eigentlich will man die ganze Zeit nur wissen, was SIE da eigentlich auf ihrem Ohrstöpsel hört, das sie so zum Ausrasten und Rumrasen bringt. Der billig daherscheppernde Dorfdiscoquark, den WIR währenddessen hören, kann das ja unmöglich sein. Grob gesagt, klingt das ganze Konzert mehr oder weniger wie die Kreuzung vor dem Soho House. Surrende Kleinwagen. Dieselmotoren bei Sommerhitze. So in etwa. Erst ganz zum Schluss, bei „Celebration“, dem Rausschmeißer, kommt eine Art Beat dazu, den man ernst nehmen kann. Jetzt geht es, wie man so sagt, ab. Jetzt hat sie, bis auf ein paar spätadornitische Nörgelnerds auf der Strafbank der Journalisten vielleicht, alle. Jetzt marschiert sie durch. Jetzt herrscht endlich das sogenannte Utz, Utz, Utz.
Es klingt, natürlich, beim genauen Hinhören bald wie Eilts, Eilts, Eilts.
Dieter Eilts, liebe Frau Madonna, hat bei unserem EM-Sieg 1996 . . . Hach. Ja. Aber das muß Sie ja nicht kümmern.
(Eine Version dieses Textes erschien nach dem deutschen Halbfinaldesaster 2012 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Siehste!“)