Bei Bill de Blasio brennt noch Licht. Das bedeutet, der Bürgermeister von New York wohnt nach wie vor in der Nachbarschaft. Diese Nachbarschaft heißt Park Slope, Brooklyn. Und darüber, was das wiederum bedeutet, gibt es in der Stadt eine Menge Klischees (am bündigsten zusammengefasst auf Youtube unter dem Stichwort „Shit Park Slope Parents Say…“). Diese sind, wie die meisten Klischees, nur zu ungefähr 98 Prozent vollkommen zutreffend.
Ja, der Prospect Park ist so etwas wie die Alpen von Brooklyn, aber es ist eine Übertreibung, dass man die engagierten Mütter von Park Slope dort jeden Tag ihre Kinderwagen über Berg und Tal pflügen sieht. Wochentags sieht man eher deren Nannys. Es stimmt auch nicht, dass in den prachtvollen, baumgesäumten Straßen beim Park immerzu neue Folgen der Mafia-Serie „Boardwalk Empire“ gedreht würden. Deren Hauptdarsteller Steve Buscemi läuft manchmal sozusagen auch nur ganz privat da herum, er wohnt halt selber da. Die Pracht der Häuser nimmt übrigens deutlich ab, je weiter es den Hang vom Park aus gesehen hinuntergeht zum Gowanus Kanal – einem müffelnden Industriegewässer, von dem Leute, die sich auskennen, sagen, dass da drin vermutlich die von der echten Mafia über die Jahrzehnte dort mit Betonschuhen Versenkten herumstehen wie die Chinesische Tonfigurenarmee. Es ist aber nicht so, dass es heute hier gar keine Verbrechen mehr gäbe. Der spektakulärste Eintrag in der Kriminalstatistik von Park Slope waren im vergangenen Jahr die beiden Männer, die sich bei Barnes & Noble Bücher im Gesamtwert von mehr als 1000 Dollar in die Taschen schieben wollten.
Unrichtig ist weiterhin die Behauptung, dass ein Liter Biomilch hier im Angebot 6,99 Dollar kostet. Er kostet 4,99 Dollar. 6,99 Dollar kostet das Tütchen Grünkohl-Chips zum gesunden Knabbern. Und nicht alle Eltern würden für eine Wohnung im Einzugsbereich der begehrten Public School Nr. 321 zur Not töten. Einige würden das auch für einen Platz in der benachbarten Public School Nr. 107 tun.
Das klingt wie der Prenzlauer Berg von New York? Der entscheidende Unterschied ist dieser: Hier kosten Krippe und Kindergarten im Schnitt 20 000 Dollar pro Jahr.
Man muss schon ganz schön rackern, um in dieser Nachbarschaft leben zu können, die allerdings auch regelmäßig als eine der beliebtesten in Amerika gewählt wird: Ein Paradies für Menschen, die gern in Altbauten wohnen, Bäume schätzen, Kinder haben und überwiegend kein Problem darin sehen, wenn ein anderes Kind mal keinen Vater hat, sondern stattdessen zwei Mütter. Oft sind das dann Menschen, die aus Prinzip keinen Republikaner wählen würden, und einen Demokraten auch nur dann, wenn der ein eher linker ist. Es ist, mit anderen Worten, eines der Epizentren jenes Liberalismus, der auf deutsch nicht mit liberal übersetzbar ist, sondern eher mit rotgrün. Park Slope in Brooklyn, das ist ein San Francisco ohne Nebel. Ein Portland mit U-Bahnanschluss nach Manhattan.
Und was wiederum das betrifft: Ebenfalls unwahr ist, dass, wer einmal hier wohnt, gar nicht mehr rüber in die City fährt. Manche müssen einfach, beruflich. Zum Beispiel Bürgermeister.
Bill de Blasio ist so dermaßen Park Slope, dass man manchmal das Gefühl hat, Park Slope ist Bill de Blasio. Sein Name steht hier auf den Papierkörben; „gesponsert durch Stadtratsmitglied Bill de Blasio.“ Er wohnt hier schon ewig. Hat im Park geheiratet. Die Kandidatur für das Bürgermeisteramt hat er in seinem Vorgarten verkündet, seitdem weiß die Stadt, wie Haus Nr. 442 in der 11. Straße, zwischen 6. und 7. Avenue, aussieht: Kein Brownstone mit hoher Treppe zum Blumenkübelabstellen. Auch nichts hübsches Hölzernes im Queen-Anne-Style mit kleiner Veranda oder so. De Blasios Haus ist das schlichteste im Block, es hat eine Tür, ein paar Fenster und eine Verkleidung aus Plastik, die an Holzlatten erinnern soll; es sieht aus, als stünde es lieber paar Straßen weiter südlich, in Greenwood, wo noch überwiegend Hispanics wohnen.
Während seiner Kandidatur wurde ihm der Vorwurf gemacht, dass er seine Familie mit populistischem Kalkül für Wahlkampfzwecke einsetze, weil er weiß ist, seine Frau hingegen schwarz, und weil „Race“ immer ein Thema ist, politisch, in New York. Aber nach allem, was man weiß, kann de Blasio eher froh sein, dass seine Frau ihn mitmachen lassen hat; denn was man weiß, ist dies: Chirlane McCray, in den Siebzigern feministische Aktivistin und das, was man damals Bewegungslesbe nannte, später Poetin, noch später Redenschreiberin, schließlich Hauptberaterin ihres Ehemannes, ist diejenige, bei der künftige Mitarbeiter ihre Vorstellungsgespräche überstehen müssen. Sie hat auch das mit der Kandidatur im Vorgarten entschieden. Aber, dass sie einen Bill wählen und dann vor allem die Ehefrau bekommen, kennen die Demokraten ja schon von den Clintons. Außerdem hat die Linke seitdem ein Äquivalent zu „Duck Dynasty“, dieser Reality Show über rechte Hillbillies in Louisiana. Die Familie de Blasios wird von den New Yorker Medien gecovert wie in England nur die Windsors. Den Eskapaden von Prinz Harry entspricht die vorsorgliche Drogenbeichte von Chiara de Blasio, 19. Und die Haupthaar-Berichterstattung über Prinz William war nichts gegen die Analysen der kugelrunden Afro-Frisur von Dante de Blasio, 16, der zur zur Amtseinführung sehr wohl eine Krawatte mithatte, sie nur im letzten Moment wieder abgebunden hatte, daher das bis oben hin geschlossene Hemd, und Mutter wie Tochter trugen zur Amtseinführung Nanette Lepore, eine New Yorker Midprice-Designerin und so weiter und so fort.
Aber der Einsatz des Wohnorts deckte sich im Grunde noch viel subtiler mit dem politischen Programm als der der eigenen Lebenspraxis.
Hier ist die Unterscheidung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil von Park Slope von Bedeutung. North Slope gilt als wohlhabend und durchgentrifiziert, dort leben Berühmtheiten wie Paul Auster, Nicole Krauss oder eben Steve Buscemi. In South Slope wohnen Leute wie Bill und ich. Hier sind die Häuser ein bisschen kleiner, und die Vielfalt ist ein bisschen größer. Mit manchen Nachbarn kann man sich einfacher auf Spanisch unterhalten. Man sieht häufiger Asiaten. Die jüdischen South Sloper gehören häufiger als die im Norden zu denen, die ihre Kippa auch im Alltag tragen. Es gibt hier sogar Schwarze, und nicht alle sind Familienangehörige von Bill de Blasio.
Selbst ein paar letzte irisch- und italienischstämmige Ureinwohner kann man noch in freier Wildbahn betrachten, nachmittags wenn sie sich bei Farrell’s drüben an der Grenze zu Windsor Terrace ausschließlich brüllend unterhalten und dazu Bier aus Styropor-Bechern in sich reingießen. Zu feministischen Aktivistinnen haben die hier noch mal eine etwas eigene Meinung. Aber immerhin sagen die noch lang und breit „Coaaffee“ zum Coffee, und meinen nichts mit Milchschaum drauf damit, auf dass der Dialekt und die Filterkannen des alten Brooklyn niemals aussterben mögen.
Hier ist Bill de Blasio ausnahmsweise kein Stammgast. Er kann es nicht sein, seitdem er zugeben hat, kraft seines Aufwachsens in Massachussetts die Boston Red Sox zu mögen. Beim konservativen New Yorker Proletariat ist das so unverzeihlich wie eine Pizza mit Messer und Gabel zu essen. (Und das hat de Blasio diese Woche auch fertig gekriegt; Riesenthema in der Stadt, ungelogen.) Man sieht ihn auch nie im Lucky 13 Saloon gleich bei ihm um die Ecke, wo Gogo-Tänzerinnen zu der Musik von Napalm Death ihre tätowierten Hintern wiegen und Motorrad-Rocker auf dem Fernseher über der Bar Splatterfilme schauen. (Siehe: Solche Leute haben hier also auch irgendwo ihren Platz.)
Ansonsten ließ sich de Blasio gerade während seiner Wahlkampagne in den paar Straßen rund um sein Haus aber dermaßen zuverlässig blicken, dass man sich fragen musste, ob der künftige Bürgermeister von New York vielleicht lieber in einem Dorf leben würde. Sein Radius umfasst vielleicht einen Kilometer: Arbeitsfrühstück im Little Purity Diner, Straße hoch, einmal rechts. Mittags und abends fanden die Besprechungen noch näher statt: Bar Toto, exakt 81,99 Meter von Tür zu Tür. De Blasio nimmt den Grilled Chicken Salad. (Habe ich nicht selbst gesehen, hat er aber der New York Times erzählt. Einer Anregung seiner Frau verdanken wir demnach den Grilled Shrimp Salad auf der Karte.) Bevor er William Bratton als künftigen Polizeichef von New York präsentierte, besprachen sie die Sache in der Convivium Osteria, 5. Avenue: Das waren immerhin mal 20 Minuten Fußmarsch.
De Blasio beschreibt seine Präferenzen und damit sich selbst als bodenständig. Und die Frage ist, ob der Boden, auf dem er da steht, die kleine, schöne, halbwegs heile Welt von South Slope nur sein politischer Ausgangspunkt ist – oder auch sein Ziel.
Denn de Blasios Wahlkampfschlager war seine „Legende von den zwei Städten“, die heillos auseinanderdriften. In South Slope befinden sie sich noch halbwegs im Gleichgewicht, das New York der Millionäre und das Brooklyn der kleinen Leute.
Aber der Druck wächst, und Brooklyns kleine Leute könnten selbst Millionäre werden – um den Preis ihrer Heimat. Die Sache ist die: Laut Immobilien-Datenbank Zillow wurde de Blasios kleines Haus 1989 zuletzt verkauft – für 189000 Dollar.
Schätzwert heute: 1 485 166 Dollar.
Letzten November kam Riu, die Halbjapanerin, die mit ihrer Familie vier Straßen südlich von di Blasio wohnte und eröffnete der Nachbarschaft, sie würden nach Manhattan ziehen, bräuchten mehr Platz, fänden hier nichts Bezahlbares, daher: Upper East Side.
Es war kein Witz, obwohl das so klang. Denn bisher zogen die Leute aus solchen Gründen von dort nach Brooklyn. Und Upper East Side heißt nicht überall, dass da chirurgisch jung gehaltene Wall Street Gattinnen durch Lanvin-Boutiquen bummeln. Schon östlich der Lexington Avenue hat man zum Teil Gegenden von einer Trübseligkeit, da möchte man lieber tot im Gowanus Kanal stehen als dort zu wohnen. Und selbst am Gowanus Kanal haben jetzt Restaurants mit Tasting Menus für 120 Dollar aufgemacht, wo de Blasio garantiert kein Stammgast ist und wird. Denn unser Nachbar Bill geht auch den Weg von Nachbarin Riu. Er will in die Upper East Side ziehen, in die Gracie Mansion, das Bürgermeisterschloss mit eigenem Park und Blick auf den East River. Sicherheitsgründe.
Wer versprochen hat, die einschüchternde Präsenz der Polizei auf den Straßen New Yorks zurückzufahren, muss vor der eigenen Haustür damit anfangen.
Aber noch stehen die Polizisten vor seinem Haus und frieren, und als der Blizzard über die Stadt kam, konnte man einen 16jährigen mit Afro den Schnee schippen sehen.
Die lückenlose Berichterstattung wird uns über den Umzug auf dem Laufenden halten. Wir wissen, dass de Blasio trotzdem weiter ein „Brooklynite“ sein will, das hat er versprochen. Egal, was die Brooklynites bei Farrell’s da sagen.
Und wir wissen, von Charlene McCray, dass Dante weiterhin in Brooklyn zur Schule gehen wird. „Entweder er nimmt die U-Bahn, was ihm gut tun wird. Oder Bill fährt ihn rum, wie jetzt auch schon.“
Sie selber wird mit der Politik alle Hände voll zu tun haben.
(Eine Version dieses Textes erschien am 16.1.2014 in der Süddeutschen Zeitung)