Vom Kater nach dem „Wolf of Wall Street“

Drei Stunden! Am anderen Morgen weiß man gar nicht mehr, was man in der Zeit alles erlebt hat. Rüsselte da nicht Leonardo diCaprio gleich zu Beginn eine Jahresernte Kokain vom Popo eines Call Girls runter? Dann setzte er bedröhnt seinen Privathubschrauber in die Hecken? Richtig. Und danach steigerte sich allmählich das Tempo. Kleinwüchsige wurden auf Zielscheiben geworfen, Lamborghinis zerschrotet, Yachten versenkt, und während des Yachtenversenkens wurden Pillen eingeworfen, denn man will ja nicht nüchtern sterben. Gequasselt wurde wahnsinnig viel und sehr viel gelacht. Und zwar wurde in Telefonhörer hineingeseuselt – Aktien, die Leute sollten kaufen, kaufen, kaufen –, und anschließend über die armen Trottel am anderen Ende der Leitung gewiehert, manchmal aber auch schon währenddessen.

Gemessen daran, müssen es eigentlich mehr als nur drei Stunden gewesen sein. Vorgekommen ist es einem wie anderthalb. Am anderen Morgen, wenn die Bilder zurückkommen, ist da nämlich auch jenes von dem Kinosaal voller Journalisten, die ihren Vorderleuten in die Schultern beißen vor Vergnügen. Denn gegen das hier ist alles, was sich diCaprio eben noch in Baz Luhrmans „Gatsby“ an Ausschweifungen gegönnt hat, ein Kindergeburtstag mit Topfschlagen. Gegen den Typen, den diCaprio hier gibt, ist aber selbst Gordon Gekko ein biederer Sparkassenwicht.

Der andere Unterschied: Während Gekko eine Filmfigur war, die in „Wall Street“ die Exzesse im Börsenrausch der Achtziger verkörpern sollte, hat diCaprios Figur genau zu dieser Zeit wirklich dort gelernt. Es ist die Geschichte vom Aufstieg jenes realexistierenden Anlagebetrügers Jordan Belfort, der es Mitte der Neunziger ziemlich, wie man so sagt, krachen lassen hat. Und speziell an dieser Tatsache darf der Zuschauer großzügig teilhaben.

Aber wie das so ist bei Rausch und Kater: Am anderen Morgen pochen im schwerem Kopf plötzlich Fragen nach der Moral umher. Als an diesem Morgen danach nun der Regisseur Martin Scorsese mit seinem Hauptdarsteller in ein Hotelzimmer kommt, um Fragen zu beantworten (sie hatten ein paar Etagen hoch oben im Mandarin Oriental am Columbus Circle in New York angemietet dafür – die Presse sollte offensichtlich einen filmadäquat bombastischen Blick auf den Central Park haben), da wird er gleich mal scharf zur Rede gestellt: Warum ist sein neuer Film „The Wolf of Wall Street“ eigentlich so irr-sin-nig komisch? Es geht immerhin um Finanzkriminalität, mal ganz abgesehen von Drogenmißbrauch, allgemeinmenschlichen Rücksichtslosigkeiten und sogar häuslicher Gewalt. Und Scorsese, der jetzt 71 ist und gerade angekündigt hat, dass er in absehbarer Zeit in Rente gehen will, findet selber auch, dass ihm da noch einmal ein Silvesterfeuerwerk von einem Film gelungen ist: Ja, lustig, nicht? So sei nun mal das Leben, schlimme, abscheuliche Dinge geschehen, sich da noch amüsieren zu können, das sei, wie im Krieg, Überlebensstrategie.

Er wird nach Zynismus gefragt und kommt nach ein paar Schleifen lauten Nachdenkens zu dem Ergebnis: Nö. Weil ja von vornherein gar keine moralische Maßstäbe da sind. Sondern nur Maßlosigkeit in jeder Hinsicht. „The Wolf of Wall Street“ ist tatsächlich so „over the top“, dass das Drama des aus dem Ruder gelaufenen Finanzkapitalismus ganz automatisch den Aggregatszustand der Schenkelklopfkomödie annimmt, und er ist so dermaßen jenseits von gut und böse wie ein auf Kokain ins Amerikanische übersetzter Nietzsche.

Zu dem, was die Welt heute am liebsten unter „Wall Street“ versteht, nämlich die undurchsichtige Glas-und-Stahl-Hölle, in der die Finanzkrise zusammengebraut wurde, unter der die Leute an ganz anderen Stellen der Erde bis heute zu ächzen haben, steht das gleich mehrfach quer. Erstens ist das Projekt älter diese Krise und ließ sich danach, sagt diCaprio, der hier sein eigener Produzent war, noch schwieriger finanzieren als ohnehin schon, denn Hollywood tut sich naturgemäß schwer mit soviel Sex und Drogen bei so wenig Verdammnis und Reue.

Das andere ist der Umstand, dass es hier eben nicht um die Geschäfte von Goldman Sachs et al. geht. Die aus der Staatsräson abgeleitete Amoralität des „To Big to Fail“ wird allenfalls von unten her gespiegelt. Der Jordan Belfort, den Scorsese hier zeigt, hat mehr mit Henry Hill, dem Paten aus „Goodfellas“, zu tun als mit Jamie Dimon, dem CEO von PJ Morgan; er imitiert mit seiner Gang von Drogendealern auf Long Island die echten Wall Street-Größen nur, und nachher will er sie, als typischer Parvenü, im Luxus der Lebensführung möglichst exponentiell überbieten. Das hat, erstens, damit zu tun, dass Terence Winter, der das Buch geschrieben hat, zuvor nicht nur für die Mafia-Serien „The Sopranos“ wie „Boardwalk Empire“ tätig war, sondern auch schon mal für das Finanzhaus Merril Lynch. Der Gossengeruch transportiert, zweitens, aber auch ein paar tiefere Wahrheiten. Mal ganz davon abgesehen, dass „Wall Street“ heute populärmythologisch tatsächlich weitgehend das geworden ist, wofür früher mal der Mob stand, Verbrecher in Nadelstreifen: Scorsese nennt Räuberbarone wie Carnegie, nach dem heute der feinste Konzertsaal New Yorks benannt ist, oder die vielen nachmaligen Stützen der Gesellschaft, deren Reichtum aus dem Alkoholschmuggel während der Prohibition stammt. US-Dollars hören irgendwie schneller auf zu stinken als anderes Geld.

Und dann ist da vor allem Jordan Belfort selber. Belfort war kein Banker. Belfort war ein Vorstadt-Strizzi aus Queens, der wahllos angerufenen Leuten wertlose Aktien aufzuschwatzen verstand und sich an den dadurch von ihm selber hochgejubelten Kursen gütlich tat, bevor die wieder ihr Nirvana zurücksackten. Er wurde sehr reich, kam kurz ins Gefängnis, schrieb ein Buch über die ganze Sache, verdiente damit wieder Millionen und ist heute als – kein Witz! – Motivationstrainer wieder im Geschäft. Er ist ganz offenbar das, was man einen geborenen Verkäufer nennt. Da ist es nur konsequent, dass er der Welt auch seine Version der Geschichte verkauft. Leute, die damals dabei waren, wie Danny Porush, sein Partner in Crime, sagen heute, sie hätten ziemlich vieles ziemlich anders in Erinnerung. Damalige Opfer seiner Geschäfte melden sich verwundert in der Presse zu Wort, als es hieß, Belfort sei eine Art Robin Hood gewesen, der es nur von den Reichen nahm (und dann sich selber gab): Leute, die von ihm um eine Viertelmillion gebracht wurden, verstehen sich in Amerika nicht unbedingt als reich. Und schon gar niemand kann sich erinnern, dass Belfort jemals Wolf der Wall Street genannt worden wäre. Ist ja auch ein selten doofer Name. Aber Scorsese und diCaprio, der selber zu den Produzenten des Films gehört, folgen Belfort durchgängig dankbar aufs Wort.

Dafür werden sie in den USA zum Teil harsch kritisiert. Die Moralfrage. Die Tochter eines damaligen Mittäters von Belfort hat schon öffentlich zum Boykott des Films aufgerufen, er verherrliche in schamloser Weise das, was dieses Land kaputt mache. (Es ist die typische Debatte rund um Drogenfilme, und dies hier ist, zu allererst, ein Drogenfilm.)

In ästhetischer Hinsicht kann man sie dazu aber nur beglückwünschen.

Bestimmt wäre das auch einmal eine reizvolle Aufgabe, Exzess mit den Mitteln der Ökonomie, der Sparsamkeit, der Austerität abzubilden, und sehr gewiss wäre es auch interessant zu verfolgen, auf welchen Wegen das Schlagen der Flügeltüren an seinem 88er Countach ein paar hundert Meilen weiter für Existenzangst und Zwangsversteigerungen sorgt. Aber dieser Film hier schlägt nun einmal ganz entschlossen die entgegengesetzte Richtung ein, und das hat nicht nur ein paar ganz praktische Vorteile – es besorgt die moralische Wahrheitsfindung sozusagen auf dem Weg der Immanenz.

Erstens haben erklärtermaßen weder Scorsese noch diCaprio großes Interesse daran, sich mit den finanziellen Details zu befassen. Zu kompliziert, zu abstrakt, zu fitzelig. Im Film setzt Belfort einmal dazu an, winkt ab und sagt dann lieber die Kurzfassung auf: Wurde ich reich damit? Aber wie! Damit wieder zu den unterhaltsamen Dingen des Lebens. Aber geht es dem Zuschauer, der da dankbar ist, denn soviel anders als dem Sparer beim Banktermin? Und ist das nicht das, was die ganze Sache erst ins Rollen bringt – Lust auf Wohlstand, Desinteresse am Kleingedruckten?

Zweitens ist es nämlich so, dass wiederum der Verzicht auf das Kleingedruckte komplexer Plots mehr Raum für die Dinge lässt, an denen Scorsese und diCaprio, wie sie sagen, selbst am meisten Spaß hatten: Geschichten über die Charaktere erzählen – und die dabei dermaßen hemmungslos improvisieren lassen, dass sie es selber kaum zu fassen scheinen.

DiCaprio tut jedenfalls alles, um dem schönen amerikanischen Ausdruck „to get shitfaced“ plastischen Ausdruck zu verleihen. Es ist, als hätte ihm Jordan Belfort, als Motivationstrainer, kleine Oscar-Bildchen rund um die Kamera geklebt. (Und ihm dann verraten, dass die Coen-Brüder mit „Inside Llewyn Davis“ eine nachdenklich herumschweigende Bob-Dylan-Figur gegen ihn ins Rennen schicken würden.)

Wenn einer aber wirklich mal einen Oscar für schiere Sensationalität verdient hat, dann der sagenhafte Jonah Hill, der Belforts quallenartige Nr. 2 spielt, welche hier aus rechtlichen Gründen aber nicht Danny Porush heißen darf. Margot Robbie lässt als Trophy-Blondine jede Barbie-Puppe als zutiefst menschliches Wesen dastehen. Und Matthew McConaughey wurde gebeten, seine sonderbaren Atemübungen aus dem Off vor die Kamera zu verlegen. Auch dies mit dem Ergebnis heiterster Enthemmtheit.

Muss das alles sein? Sicher nicht.

Sind die Szenen nicht oft viel zu lang? Sicher ja, aber wer will denn aufhören, wenn es gerade am schönsten ist.

Und die Opfer? Spielen praktisch keine Rolle.

Einen Kameraschwenk hat der Film für Leute übrig, die nicht mit dem Sportwagen sondern der U-Bahn durch New York fahren, man sieht in abgearbeitete Immigrantengesichter. Nicht unbedingt die Zielgruppe von Belfort. Die Johns und Bills aus der Provinz, die begeistert ins Geschäft einwilligen, hört man nur über das Telefon.

„The Wolf of Wall Street“ ist ein klassisches Bacchanal, das kein Außen zulässt, mit nackt tobenden Mänaden und allem Drum und Dran, ein dionysischer Triumphzug, der alles zermalmen will, das sich in den Weg stellt, besonders Dinge wie Vernunft, Mäßigung, Rechtschaffenheit. Wenn dann Kyle Chandler, sozusagen als der Apoll vom FBI, am Ende doch noch die Handschellen anlegen kann, dann geschieht das hier, weil Belfort es darauf angelegt hat, und es auch an der Zeit für seine Rettung ist und einen Neuanfang: Das staatliche Gefängnis wird hier praktisch zur Betty Ford-Klinik für Härtefälle.

Es wäre übertrieben zu sagen, dass man für diesen Typen etwas übrig haben könnte. Es wäre aber gelogen, dass es keinen Spaß machen würde, ihm zuzuschauen.

Klar fragt man sich am anderen Morgen nach den Konsequenzen. Danach, wo eigentlich die wirkliche Strafe bleibt. Das große Donnerwetter. Man ist das schließlich so gewöhnt: spätrömische Dekadenz führt zum Untergang, barocke Prachtentfaltung ist die Kehrseite ist von Krieg und Krankheit, und das beschleunigte Highlife von Mafia-Größen spiegelt die Einsicht, dass so ein Leben kurz sein kann; das kulturelle Gedächtnis verlangt bei Exzeß gern die Todesstrafe.

Tja.

Dies hier ist aber nun einmal eine wahre Geschichte von heute, und auch die Realität hält sich nicht immer an Regeln.

Das laue Ende wäre dann die finsterste Pointe in Scorseses Hochgeschwindigkeits-Satire. Und der Punkt, wo „The Wolf of Wall Street“ den Damen und Herren von der echten Wall Street am nächsten kommt.

 

(Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 7.1.2014 in der Süddeutschen Zeitung)