Die gute Nachricht: Die Suicidal Tendencies haben nach Ewigkeiten mal wieder eine Platte gemacht, und die reicht sogar an ihre besten Zeiten heran.
Dann eine vielleicht etwas verblüffende Neuigkeit: Mike Muir, der Schöpfer von Hymnen wie „Possessed to Skate“, der Mann, für den der Begriff Skatepunk eigentlich erst erfunden worden ist, sagt, er sei selbst nie Skateboard gefahren.
Und hier die Vorgeschichte: In Venice Beach, Kalifornien, gibt es in den Siebzigern rund um den Surfshop „Zephyr“ ein paar Typen, die das Surfen aus dem Wasser ans Land verlagern und eben Skateboards dafür nehmen. Sie werden später als „Z-Boys“ weltberühmt sein und als Ahnherren aller Skater, die Pirouetten in der Luft drehen. Es gibt einen Film mit Sean Penn über sie. Ihre Namen werden noch heute verehrt. Darunter auch der von Red Dog, Klarname: Jim Muir.
Er hatte natürlich absolut keine Lust, dauernd mit seinem großen berühmten Bruder verglichen zu werden, erzählt nun der kleinere Bruder heute, rund vierzig Jahre später. Mike Muir also: kein Skateboard, stattdessen aber die Musik dazu.
Mike Muir besorgte sozusagen die synästhetische Drittableitung des Surfens: Wellenreiten auf Gitarrenriffs. Seine Suicidal Tendencies waren zeitweise so etwas wie die Beach Boys des Heavy Metal; Muir schlitterte in seinem Falsettsingsang von Takt zu Takt bis ans Ufer seiner Lieder, Rocky George pulverte mit der Gitarre schöne Schaumkronen obendrauf, und Robert Trujillo spielte dazu allerdings einen Bass, der mitunter wie unverdauter Funk oder gar Jazz im Magen eines Headbangers herumrumorte. Anfang der Neunziger, als Crossover noch kein Schimpfwort war, konnte man damit Festivals krönen.
Trujillo wanderte mitsamt seinem Bass zu Metallica ab; seitdem geht es der zerrütteten Band Metallica wieder gut.
Wie aber geht es Mike Muir?
Mike Muir, der seine Platten inzwischen wieder im Selbstverlag herausbringt und Presseanfragen in Ermangelung eines dafür zuständigen Abwimmeltrosses auch gleich eigenhändig beantwortet, steht auf einem Parkplatz in Philadelphia, bittet auf ein Wasser in den Tourbus, behandelt einen sofort, als würde man sich seit zwanzig, dreißig Jahren schon kennen (ist ja, irgendwie, auch so), und macht insgesamt den Eindruck, als gehe es ihm absolut blendend.
Die Rücken-Operationen nach einem Bühnensturz vor zehn Jahren („Konnte nicht mal mehr meine Kinder hochheben!“) sind jedenfalls auskuriert. Muir könnte mit Fitnessratgebern für Punks mit Bandscheibenproblemen reich werden. „Manche kommen ins Konzert und brüllen: Muir, du Sack, hör auf, dich zu bewegen, ich fühl mich alt, wenn ich das sehe. Andere gehen am nächsten Tag halt selber mal wieder ins Gym.“ Dementsprechend gelassene Reaktion auch auf die Glückwünsche zum fünfzigsten Geburtstag vor ein paar Wochen. Dabei galt, als die Suicidal Tendencies anfingen, der Grundsatz: „Es gibt nichts schlimmeres als alte Männer, die schlechten Punk spielen.“ Und alt hieß damals: dreißig.
So gesehen ist Muir jetzt ein sehr alter Mann, aber immerhin spielt seine Band guten Punk – wenn man einmal als gegeben voraussetzt, dass Punk am Ende vor allem ein musikalisches Genre mit bestimmten Simplizitäts-Konventionen ist und inhaltlich das Gegenteil einer sozialdemokratischen Parteitagsrede, nämlich Do-it –yourself-Ideologeme in der radikalen Form von „Wenn es Dir scheiße geht, bist möglicherweise Du selbst scheiße.“
Die durchweg neuen Musiker bei Muirs Suicidal Tendencies spielen also Punk sehr gut, so wie sie auch sehr gut Prog-Rock, Speedmetal oder Funk spielen könnten, was sie streckenweise ja auch tun: Es ballert zwar, aber es blubbert auch, und es suppt und schwappt und schmatzt, während es sozusagen gleichzeitig derb sägt und nagelt. Es wäre ja auch sagenhaft langweilig, wenn Muir sich mit Leuten umgeben müsste, die ihr ganzes Leben nur stumpf Punk oder Metal machen. „Steve Brunner, der Mann am Bass, spielt jetzt zum Beispiel auch mit Prince“.
Und Dean Pleasants, der mit seiner Gitarre jetzt für die Schaumkronen zuständig ist, war auch schon mal in der Band von R&B-Heulsuse Jessica Simpson.
Die Suicidal Tendencies hatten zu Hause in Los Angeles fast ein Jahrzehnt lang Auftrittsverbot weil sie der Latino-Gang „Venice 13“ zugerechnet wurden, was vielleicht der Grund ist, weshalb Muir bis heute keine Autogramme mit rotem Stift, der Farbe der „Bloods“, geben mag(„Rot – gefällt mir nicht“). Heute ist diese Band mit zwei Schwarzen als Rhythmusgruppe und mit teilweise zumindest deutlich anhispanisierten Weißen an Mikrofon und Gitarren fast schon bilderbuchhaft repräsentativ für die demografische Gegenwart Kaliforniens, wenn nicht bald ganz Amerikas; es fehlen eigentlich nur noch zwei Asiaten. Die Frage ist bloß, ob dieses unbekümmert multikulturelle Konzept auch ökonomisch so glücklich ist, wenn man in einem eher durchweg weißen und soziopolitisch nicht immer unbedingt superprogressiven Teil der Musikwelt sein Brot verdient.
Mike Muir sagt, dass die Leute ihm schon vom ersten Tag an erzählten wollten, er müsse zum Musizieren zwingend Eyeliner tragen und nietenbesetzte Lederjacken. „Wenn wir mehr wie eine reguläre Punkband ausgesehen hätten oder später wie eine reguläre Metalband – dann wären wir vielleicht tatsächlich ,bigger‘ geworden. Aber wären wir dann glücklicher? Ich glaube nicht.“ Man solle sich bitte einmal Eric Moore, den schweren, schwarzen Jazztrommler der Suicidal Tendencies, in einer nietenbesetzten Lederjacke vorstellen. „Das wäre, nunja: erheiternd.“
Weil es das in der Tat ist, lacht Muir an dieser Stelle, dass ihm fast das Bandana vom Schädel rutscht. Das Bandana aber ist Muirs Zweitfrisur. Eigentlich ist es, da bis auf ein Hare-Krishna-Büschel am Hinterkopf eigene Haare fehlen, inzwischen sogar seine Erstfrisur. Dieser blaue Stoff-Fetzen ist so etwas wie Punk gegen die engen Garderoben-Vorschriften von Punk, gegen die zerrupfte Jeanshosigkeit und die habituellen Hängeschultern von New York und London. Das Bandana, dessen Unterkante der klassische Mike Muir oft wie eine Blindenbinde bis Augenwinkelhöhe runtergezogen trug, erzwang zum Beispiel eine strikte Kopf-hoch-Haltung. Muir sagt, es ging auch um „Sehen, ohne sehen zu können.“ Das ist praktisch die Umkehrung des ursprünglichen Sinns; die Skater von Venice trugen Bandanas ja vor allem deshalb, weil sie wegen ihrer langen Haare sonst keinen Durchblick hatten. Und der ganze Rest? Die Vans, die Kniestrümpfe, die Surfer-Shorts: „Alles Venice Beach Skater Style“. Die Dickies? „Waren ursprünglich mal die Arbeitshemden der Chicanos in Kalifornien.“
Und weil diejenigen, die meinen, auf Leute, die Dickies tragen und körperlich arbeiten müssen, herabschauen zu dürfen, ihre Hemden in Kalifornien gern dolce-vita-mäßig bis zur Brust aufknöpfen: das eigene Dickie eben extra zugeknöpft tragen, bis zum allerobersten Knopf. Manchmal sogar NUR den; dann hängt das Hemd am Hals wie ein stilisierter Poncho.
Und das Basecap mit dem Schriftzug „Suicidal“ auf der UNTERSEITE des Schirms? Weil das Hochklappen, das Flippen, einem Wortspiel gleichkommt: „To flip somebody off“ – auf deutsch würde man sagen: jemandem den Stinkefinger zeigen.
Man kann also nicht sagen, dass es hier an Stilwille, Verfeinerungsgeist und Manierismen fehlen würde. Allerdings sind die strikt für den Selbstgenuss. Die Hoffnung, anderen zu gefallen, Frauen gar, war damit vernünftigerweise nie verbunden. Die Suicidal Tendencies waren sozusagen von schon sehr bewusst und in jeder Hinsicht nicht Bon Jovi. Aus dieser rührenden Hauptsache-uns-machts-Spaß-Haltung lebten und verkümmerten am Ende auch die „Infectious Grooves“, Mike Muirs und Robert Trujillos kleines, bekifftes Nebenprojekt: noch mehr Funk, sehr alberne Cover und zwischen den Stücken Gequassel mit verstellten Stimmen. Selbst treueste Suicidal Tendencies Fans haben Infectious Grooves damals eher gehasst. „Aber jetzt kommen sie alle an und sagen, sie hätten die Platten doch noch mal gehört; das sei ja vielleicht die noch interessantere Musik. Hat bei manchen zwanzig Jahre gedauert.“
Mit Robert Trujillo ist Muir, Metallica hin, Metallica her, aber immer noch allerdickstens; stundenlange Telefonate wie unter Schulfreundinnen. Dabei ward folgender Plan ausgeheckt: Es wird dieses Jahr auch noch eine neue „Infectious Grooves“-Platte geben. „Mit Steven Perkins von Jane’s Addiction an den Drums und mit Jim Martin, ehemals Faith No More, an der Gitarre!“
Dies kurz vor Schluss noch als zweite gute Nachricht.
Zu beklagen gibt es allerdings auch etwas. In der „Electric Factory“ von Philadelphia wurde in penetranten Aushängen an diesem Abend darauf hingewiesen, dass „Stagediving“ und „Crowdsurfing“ gefährliche Tätigkeiten und daher streng verboten seien.
Die vierte Ableitung des Wellenreitens, der Sprung in die Massen und das Surfen auf der Menge, die finale Rückübersetzung einer aus Tätlichkeiten sublimierten Musik in neue, wiederum choreografisch hoch ausdifferenzierte Tätlichkeiten – wird es, wenn Muir erst einmal sechzig ist, womöglich wirklich nicht mehr geben. Ausgestorben an Verboten, Rückenschmerzen, Alter und dem allgemein proklamierten Ende jungmännerhafter Rumschubs-Kulturen.
„The Age of Aquarius“ heißt diese Entwicklung auf Esoterisch, Zeitalter des Wassermannes. Ausgerechnet.
PETER RICHTER
Eine Variante dieses Textes erschien zuerst unter dem Titel „Schlittern, Schmatzen, Nageln“ im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 1.6.2013