Wie ich mal bei Günther Jauch saß…

Wenn es stimmt, was die Leute auf Twitter erzählen, müssen die Sendungen mit Günther Jauch zuletzt qualvoll gewesen sein. In der mit Sicherheit qualvollsten aller Zeiten aber saß einst ich, ich war der Grund für die Qual. Es war 2011, und wenn man „die Sendung mit Günther Jauch“ sagte, dachten die Leute meistens noch eher an seine Quizshow auf RTL, bei der man Millionär werden kann. Dort hätte ich zwar vermutlich auch keine bessere Figur gemacht, sondern wäre, die späten Fragen zu Geschichte oder Geografie freudig im Blick, schon ganz am Anfang über irgendeine Scherzfrage gestolpert, und Jauch hätte dann ganz verwundert über so viel Dummheit auf seine Jauch’sche Art die Augenbrauen hochgezogen, aus Solidarität selber dumm guckend. Wir haben aber exakt dieses Programm dann einfach in seiner anderen Sendung durchgezogen, der Talkshow am Sonntagabend. So groß ist der Unterschied zwischen den beiden Formaten nämlich gar nicht.

Wie beim Quiz kann man immerhin viel lernen bei so etwas. Zum Beispiel, dass Jauchs Mitarbeiterinnen hinter den Kulissen kostümiert waren wie die Comic-Figur Lara Croft: Junge Frauen, die man mit Werkzeuggurten verschnürt hatte, riefen energisch Befehle in ihre Walkie-Talkies. Auf dem Fernseher in der Garderobe war im „Tatort“ gerade der Moment erreicht, in dem die Kommissare an der Imbissbude feststellen, dass sie auf der falschen Fährte sind, als die für mich zuständige Lara Croft mich abholte, um Jauch die Hand zu schütteln. Jauch wirkte betreten, weil er seinen Unterlingen offenbar gesagt hatte: „Besorgt mir mal den letzten Zeitungsartikel von dem.“ Und dann war mein letzter Artikel zufällig nur eine dürre Meldung gewesen und gab nicht viel her für den Smalltalk. Diese Art von Vorgeplänkel gehört aber nun mal zu den lästigen Pflichten eines Moderators im Umgang mit den Eingeladenen. Eingeladen wiederum wird man ja entweder als Betroffener von etwas oder weil man für eine deftige Meinung steht, oder aber als Experte mit kühlerer Sicht auf das Problem.

Das Problem, um das es gehen sollte, war der Umgang mit Alkohol in Deutschland. Die Betroffenen und die mit starken Meinungen waren die anderen: Ein Politiker, inzwischen verstorben, der über seine Alkoholabhängigkeit berichtete, eine Politikerin, inzwischen wegen irgendeines Skandals zurückgetreten, die in Bayern für die Familien und die „Sozialordnung“, und damit auch für zünftige Bilder vom Oktoberfest zuständig war. Es gab den ehemaligen Leiter einer Suchtklinik, der selber heimlich dreißig Jahre lang pathologisch getrunken hatte, und einen evangelikalen Jugendschützer, der radikale Verbote forderte. Der einzige in dieser Runde, der kein wie auch immer geartetes Alkoholproblem hatte, war im Prinzip ich. Ich hatte nur mal ein Büchlein geschrieben, das sich mit der verwickelten Kulturgeschichte dieses Problems befasste – vom grausamen Lustgott Dionysos bis zu den suchtpolitischen Initiativen aus der europäischen Bürokraten- und allerdings auch Biermetropole Brüssel. Ich glaubte, geschmeichelt, ich wäre als sogenannter Experte geladen; ich sah mich als eine Art Peter Scholl-Latour vom Seitenrand aus Relativierendes in die Debatte der Hitzköpfe werfen.

In groteskerer Verblendung kann man gar nicht in so eine Sendung gehen. Meine Rolle war in Wahrheit natürlich die, die sonst in solchen Runden immer irgendein Wirtschaftsrechtsaußen von der FDP innehat: die des allgemeinen Arschlochs, das allen mit Appellen zur Eigenveranwortung auf den Wecker geht.

Um nun selbst in dieser Rolle noch krachend zu versagen, macht man es, meine Erfahrung, am besten wie in Jauchs Quiz-Show: Man wählt, wenn man was gefragt wird, von allen vier Antwortmöglichkeiten, die einem im Kopf herumirren, grundsätzlich die falscheste und faselt sich so von Anfang an zielsicher ins Abseits. Man nimmt 500000-Euro-Antworten am Horizont in den Blick, um dem einfältigen Extremismus der Verbotsprediger die schillernde Dialektik des Lebens entgegenzuhalten, zieht aber gleich mit dem ersten ungeschickten Satz eine Tirade des süchtigen Suchtarztes auf sich, dem es nach dreißig Jahren Suff nicht zu verdenken ist, wenn er Dinge in den falschen Hals bekommt. Oder man will darauf hinaus, dass die 70er-Jahre-Quoten von so durchformatisierten ARD-Sendungen wie dem „Tatort“ oder eben „Günther Jauch“ vermutlich auch damit zusammenhängen, dass das Publikum nach den Ausschweifungen des Wochenendes bodenständige Verlässlichkeit schätzt, um sich wieder zu erden, so wie Feierwütige nach dem Exzess oft Hausmannskost bevorzugen – macht sich vorher aber dadurch unmöglich, dass man behauptet, man sei selber gerade etwas verkatert von der Buchmesse in Frankfurt zurückgekommen, einem intellektuellen, aber, wie jeder, der mal da war, weiß, auch eminent alkoholischen Ereignis. Besonders clever, wenn das noch nicht mal stimmt, weil man den Barmann vom Frankfurter Hof vielmehr mit der Bestellung von Tee aus der Fassung gebracht hatte. Wein predigen und heimlich Wasser trinken ist aber natürlich noch verwerflicher als umgekehrt. Bis zum Ende der Stunde, die man in diesem selbstangerichten Desaster dann noch absitzen muss, braucht man übrigens nicht auf einen Publikumsjoker zu hoffen.

Die Politiker schwiegen betreten. Der Suchtarzt regte sich auf. Der Evangelikale lächelte. Und Jauch? Was tat eigentlich Jauch die ganze Zeit so? Jauch hob die Augenbrauen. Jauch guckte, aus Solidarität, dumm. Jauch ließ einfach dem monumentalen Zerfall seiner Sendung in Gekeife und Gebrabbel Raum zum Wirken, indem er sich fein zurückhielt. Obwohl es in dem Zusammenhang interessant gewesen wäre, was einer zu sagen hat, der mit Werbung für Bier Geld verdient und ein Weingut betreibt.

Weil Jauch in seiner Quiz-Show die Fragen stellt, glauben die Leute, dass er sie selber auch beantworten könnte; weil Jauch in seiner Talk-Show die Karteikarten hält, glauben die Leute, dass er sie moderiere. Beides ist offensichtlich eine Täuschung. Aus späteren Sendungen weiß man, dass diese Zurückhaltung ein Stilmittel ist, um die inzwischen sogenannten Jauch-Momente zu kreieren – Performances der Pein. Es ist ein Stilmittel, das Jauch bei RTL entwickelt hat, wenn die Kandidaten ins Schwimmen geraten. Ich behaupte hiermit, dass er es mit meiner Hilfe ins Erste übertragen hat.

Es tut mir leid, dass er sicherlich auch deswegen so viel kritisiert wurde. Wenn er künftig nur noch „Wer wird Millionär?“ macht, werde ich mich vielleicht mal bewerben. Und beim Smalltalk zwischen den Fragen dann endlich doch noch all das auf den Tisch bringen, wozu ich in seiner Talkshow nicht gekommen war.