New York hat seit letztem Freitag ein neues Tempolimit. 25 miles per hour. 40 Kilometer in der Stunde. Davor galt fünfzig Jahre lang 30 Mph. 48 Kmh.
Und?
Naja: Tempo war bisher eigentlich der stolze Mittelname von New York. Schon irgendwie erheiternd, wenn diese Stadt sich jetzt das Schleichen verordnet – theoretisch.
Aus der Praxis lässt nach der ersten Woche soviel sagen: Am spürbarsten ist hier bisher der Wind, den das befriedigte Kopfnicken derer macht, die immer schon dafür waren, sogenannte Raser streng an die Kandare zu nehmen. (Woher kommt eigentlich das Gefühl, dass in bestimmten deutschen Milieus gerade am allerbeifälligsten genickt wird?) In der Praxis war es eher so, dass man auch in dieser Woche froh sein konnte, wenn man überhaupt mit 25 Mph durch New York kam. Oft sind es tagsüber bestenfalls 10. Häufig eher 0.
Da wiederum, wo es mal lief, lief es ebenfalls wie immer, und nach ein paar Metern steht ohnehin die nächste Ampel oder ein Stoppschild. Der Verkehr in New York regelt sich im Prinzip weitgehend selbst. Wer auf diesen Abschnitten nun auf einmal stur 25 fuhr, musste angstfrei mit böse hupenden Trucks im Rückspiegel zu leben wissen. Amerikanische Trucks und ihre oft aufwändig tätowierten Fahrer können recht eindrucksvoll sein; mit so etwas sehr nah im Rückspiegel fühlen sich viele beim Fahren tatsächlich weniger sicher als wenn sie jetzt, sagen wir, 5 Mph zu schnell wären. Man kam sich, Gesetz hin, Polizei her, in solchen Momenten offen gesagt auch ein wenig asozial vor, jemanden auszubremsen, der gerade mal kurz dem dauernden Stillstand entronnen war. Allein der Anblick von ein paar Metern freier Bahn wirkt im Stadtverkehr New Yorks im Allgemeinen wie ein Pornoheft im Knast.
Einen Tag bevor die neue Höchstgeschwindigkeit in Kraft trat, wurde der 31 Jahre alte Adam Tang vor dem Supreme Court in Abwesenheit wegen fahrlässiger Gefährdung verurteilt. Dafür droht ihm bis zu ein Jahr Gefängnis. Weil er außerdem des rücksichtslosen Fahrens für schuldig befunden wurde, kommen noch mal 30 Tage drauf.
Tang stammt aus Kanada, er verdient sein Geld als Day Trader. Am 26. August 2013 hatte sich Tang in seinen BMW Z4 gesetzt, eine Kamera aufs Armaturenbrett geklemmt und war auf den Schnellstraßen an den Flussufern einmal um Manhattan herumgefahren, den Franklin Delano Roosevelt Drive runter, die West Side wieder hoch, in 24 Minuten bei 6 Ampelstopps; es war tiefe Nacht, spärlicher Verkehr, da ist so etwas möglich. Später stellte er den Film, auf vierfache Geschwindigkeit hochgejazzt, ins Internet. Tang nennt sich auf Youtube, warum auch immer, „AfroDuck“, sein Video heißt „Fastest Lap Around Manhattan 2013“. Es hat bisher fast eine Million Zuschauer gefunden. Nicht wenigen davon wird der Deppen-Techno auf die Nerven gegangen sein, mit dem der Clip unterlegt ist. Cineasten werden vielleicht die Anklänge an Claude Lelouchs „C’etait un rendez-vous“ von 1976 goutiert haben, diesen Kurzfilm, in dem eine Kamera an der Front eines Mercedes 450 SEL neun Minuten lang im Morgengrauen durch Paris jagt, von der Porte Dauphine bis zur Sacré Coeur, dem Kuss einer Frau entgegerten: die Stadt, die Nacht, das romantische Reich der Transgressionen… Wobei Lelouch seine Fahrt in Originalgeschwindigkeit zeigte, was Tangs Video vielleicht auch besser bekommen wäre. Die Beamten der New Yorker Polizei, die sich das Video ansahen, hatten allerdings weniger Interesse an ästhetischen Fragen, die Polizisten interessierten sich eher dafür, um wie viel genau Tang die Höchstgeschwindigkeit von 40 Mph (64 Kmh) auf dem FDR Drive überschritten hatte. Sie suchten ihn auf und baten um den Originalfilm. Tang half ihnen gerne. Er habe gedacht, sagte er jetzt der New York Times, er bekäme jetzt vielleicht ein kleines Strafzettelchen dafür. Aber Knast?
Da war er bereits zurück nach Kanada geflüchtet: „Das amerikanische Justizsystem hat mich enttäuscht, ich muss in meiner Heimat Zuflucht davor suchen.“
Ein halbes Jahr bevor Tang verurteilt und das neue Tempolimit eingeführt wurde, ist in New York ein Gesetz erlassen worden, das den Namen Cooper’s Law trägt. Es besagt, dass die Taxi and Limousine Commission ihren Fahrern, wenn sie in schwere Verkehrsunfälle verwickelt waren, die Lizenz entziehen kann, solange das Verfahren noch läuft. Bis dahin war es offenbar selbstverständlich, dass Taxifahrer, die einen Menschen auf dem Gewissen haben, einfach weitermachen. Benannt ist dieses Gesetz nach Cooper Stock, der neun Jahre alt war, als ein Taxi ihn in diesem Januar von der Hand seines Vaters riss. Sie waren auf dem Fußgängerüberweg, das Taxi war beim Linksabbiegen. Die Mutter des kleinen Cooper fragte ein halbes Jahr später in einem Gastbeitrag für die Times: „Warum kommen Fahrer mit Mord davon?“
Der Taxifahrer, der, wie Kameras und Zeugenaussagen zeigten, um die Ecke schnitt, ohne im Geringsten auf Fußgänger zu achten, und das Kind erst mit dem linken Vorderrad überrollte und dann noch einmal mit dem linken Hinterrad – dieser Taxifahrer zum Beispiel hatte lediglich ein Ticket für das Missachten des Vorrangs von Fußgängern auf der Ampelkreuzung bekommen. So etwas kostet in New York 130 Dollar. Außerdem gab es ein paar Punkte im Strafregister. Die Mutter des toten Jungen musste lernen, was „Rule of Two“ heißt: In New York muss einem Berufskraftfahrer so etwas mindestens zweimal passieren, bevor er ernsthafte Konsequenzen befürchten muss. Im Oktober wurden dann doch noch einmal Ermittlungen gegen den Fahrer aufgenommen. Jetzt drohen ihm, vielleicht, 15 Tage Haft und 750 Dollar Strafe.
Adam Tang, der nachts mit 120 Kmh über eine Autobahn fuhr, auf der nur 64 erlaubt waren, wobei Gott sei Dank niemand zu Schaden kam, bekommt mehr als ein Jahr. Und schwarze Jugendliche, die mit ein bisschen Marihuana erwischt werden, füllen in New York die Gefängnisse. Mit erschütternder Regelmäßigkeit liest man hier in der Zeitung, dass Passanten über den Haufen gefahren, verstümmelt, getötet werden, meistens beim Abbiegen, meistens von Taxis. Und dann wieder liest man (und glaubt, man wird auf den Arm genommen), dass die New Yorker Polizei mal wieder Portemonnaies im Park ausgelegt hat, wie so Schuljungen beim Streichespielen, und wer danach griff, bekam ein Verfahren an den Hals.
Es ist nicht immer alles unmittelbar einleuchtend in New York.
Unmittelbar einleuchtend war aber offenbar dies hier gemeint: Nach dem Tod von Cooper Stock verkündete New Yorks neuer Bürgermeister Bill de Blasio, so gehe es nicht weiter – das Tempolimit müsse runter. Das klang resolut, das klang nach einer Faust, die auf den Tisch haut. Das klang wie eine gute Antwort auf ein echtes Problem – wenn man nur entschlossen genug außer Acht ließ, dass Cooper Stock gar keinem Raser zum Opfer gefallen war. Sondern einem achtlosen Linksabbieger. Aber Tempolimit senken ist halt einfacher als die Anforderungen für das Führen von Kraftfahrzeugen zu erhöhen. New Yorks Straßen wären dann sehr, sehr frei. Vor allem von Yellow Cabs.
2013 sind in New York 173 Fußgänger totgefahren worden, insgesamt starben 286 Menschen bei Verkehrsunfällen. Das sind fast so viele wie in jenem Jahr ermordet wurden. Mit Blick auf die Mordrate gilt das als erfreuliche Nachricht, es war die niedrigste seit fünfzig Jahren. Die Polizei schreibt das, natürlich, ihrem rigiden Durchgreifen zu, jener Leitlinie, die „Zero Tolerance“ heißt und dafür sorgt, dass Jugendliche wegen ein bisschen Marihuana die Gefängnisse füllen. Denn Verknacken ist einfacher als Sozialarbeit.
Dafür hatte die Zahl der Verkehrstoten zuletzt eine steigende Tendenz. Früher schauten sich Fußgänger hier aus schon Angst vor Überfällen dauernd um, heute schauen sie selbst beim Queren des Broadway alle ins Telefon.
Bürgermeister de Blasio verkündete nun, dass New Yorks Polizei sich jetzt eben auf dieses Problem umorientieren werde.
Es gibt, logisch, bereits Stimmen, die darin den Verlust des allerletzten Bereichs sehen, in dem noch das alte, riskante New Yorker Laissez-Faire der Zeit vor „Zero Tolerance“ galt. „Zero Tolerance“ heißt, auf den Verkehr angewandt, „Vision Zero“. Vision Zero soll heißen: Das Ziel sind null Tote. Erste Maßnahme: Tempo 25, New York in Slow Motion.
Es war niemand anderes als der Vizepräsident Joe Biden, der unmittelbar das einzig Naheliegende aussprach: Er beglückwünschte New York zum Projekt „Zero Vision“, Null Durchblick. Das war ein Versprecher. Aber Biden trifft halt selbst, wenn er sich verspricht, den Nagel noch auf den Kopf. (Er tut das auch, wenn er sich nicht verspricht und zum Beispiel den Chaos-Flughafen La Guardia mit einem aus der Dritten Welt vergleicht. In New York können sie mit dem Übelnehmen im Prinzip loslegen, sobald Biden nur Luft holt.)
Die Frage, die an dieser Stelle im Raum steht: Muss sich einer, der in New York lediglich zu Gast ist, um über die Stadt zu berichten, derart über Lokalpolitisches erregen?
Theoretisch sicher nicht. Aber in der Praxis muss er dafür halt auch recht oft Straßen überqueren und will nicht ausgerechnet bei so was sterben.
In der Theorie wäre es natürlich auch sympathischer, wenn Wall Street Schnösel, die zur Gaudi Rennen um Manhattan fahren, die größte Gefahr und das lästigste Ärgernis wären – und nicht die armen Bauern aus Bangladesch, die sich hier ohne Orts- und Fahrkenntnisse als Taxifahrer durchschlagen, denn New Yorker Taxis sind nur der Form nach Taxis, in Wahrheit sind sie aber eine Falle für frische Immigranten, die da drin übermüdet ihre Schulden abstottern, Sweatshops auf Rädern, eine Tortur für Passagiere und für Fußgänger lebensgefährlich. In der Praxis sprechen rechte New Yorker, weil die Unglücksfahrer in letzter Zeit oft aus islamischen Ländern stammten, inzwischen von „Taxi Jihad“, und in der Praxis bestellen New Yorker, die sich weltoffener geben, vorsichtshalber – Solidarität mit Lateinamerika! – einen „Spanish speaking driver“.
Theoretisch ist auch die Raserei auf den bösen deutschen Autobahnen ein großer Wahnsinn, und das gedrosselte Gezuckel in den USA ein Segen für die Nerven. Praktisch kann man aber nirgendwo so viele so schlimme Unfälle sehen wie auf den Highways rund um New York, wo keiner schneller als 65 Mph sein darf, 104 Kmh. Und praktisch sagt auch der Straßensicherheitsbericht der WHO, dass die Unfallrate hier doppelt so hoch ist wie in Deutschland. (Nämlich ähnlich wie in Bangladesch.)
Theoretisch kommt man auch bestens mit der Subway und zu Fuß durch New York. Tatsächlich ist auf den überfüllten Bürgersteigen und U-Bahn-Plattformen aber die Gefahr, unter die Räder zu kommen, am größten. Und tatsächlich muss, wer etwas über die Geografie der Stadt erfahren will, eher das Fahrrad nehmen – New York ist die perfekte Stadt zum Radfahren – und manchmal eben auch das Auto. Schon um zu verstehen, dass New Yorks prägender Stadtplaner Robert Moses nicht nur ein amerikanischer Autobahn-Faschist war, der die kleinen Häuschen im Greenwich Village aus purer Boshaftigkeit unter Beton begraben wollte. Man wird seinem Parkway-System nicht gerecht, wenn man nicht auch die dramatische Inszenierung von New York als Landschaft darin erkennt und würdigt. Das geht aber nur selbstfahrend. Die mit Abstand beglückendsten Straßen der Stadt sind heute noch Moses’ Belt Parkway rund um Brooklyn und sein FDR Drive am East River: Das und die Fahrt über New Yorks Brücken ist, keine Übertreibung, aufregender und grandioser als alle Küstenstraßen Kaliforniens zusammen.
Wer länger als ein paar Monate da ist, braucht dafür allerdings einen amerikanischen Führerschein. That’s the law. Und das heißt: noch mal Fahrprüfung – in Theorie wie in Praxis. Eventuell bereits vorhandene Führerscheine aus dem Ausland sind irrelevant.
Die Theoretische wird im Department of Motor Vehicles erledigt. Multiple Choice. Für die Praktische muss man allen Ernstes noch mal in die Fahrschule. Eine sogenannte „Five Hour Class“ ist obligatorisch.
In den fünf Stunden zeigt dir dann Fahrlehrer Ray ein Video nach dem anderen. Ray ist ein schwerer, freundlicher Mann, der nach jedem Satz „M-kay“ sagte. Wie Mr. Garrison aus der Serie „South Park“. Die Lehrfilme stammen aus den Achtzigern. Die Männer tragen Schulterpolster, die Frauen sehen aus wie die Sängerin Sandra. Ein Film dreht sich um „Road Rage“, diese böse, kalte Wut im Fuß, die den Amerikaner recht häufig zu packen scheint, wenn er in seinem großen Land unterwegs ist und nicht schneller sein darf als ein Trabant in der kleinen DDR. Es gibt Leute, die sagen, dass deswegen am Ende sogar eher noch mehr Kinder sterben werden durch Tempo 25. Nach dem Fahrschulfilm ist das sogar plausibel. In einem anderen Film war einer betrunken in eine Gruppe Jugendlicher gefahren. Ray sagt 0,8 Promille, also nicht mehr als zwei Bierchen, m-kay? Dann ist da ein sehr langer Film, in dem ein Detektiv in einem Büro sitzt, Neonlicht siebt durch die Jalousien, eine Blondine hat einen Auftrag… Es geht dann nach langem Hin und Her darum, einen Bremsweg, haha: zu ermitteln. Man sollte besser ein automatisches Brems-System haben, sagt Raymond. Jemand fragt, welches Auto denn heute keines mehr habe. Ray sagt: M-kay, die Filme seien halt schon was älter. Aktuellere seien ihm zu teuer. Schließlich gibt es die Bescheinigungen.
Zur Prüfung fährst du dann mit Fahrlehrerin Diana. Ihr müsst raus nach Jamaica in Queens; die Prüfungen finden für alle Fahrschulen immer gebündelt in möglichst verkehrsarmen Vororten statt, um niemanden zu gefährden, was sicher hilfreich ist für manche Prüflinge und vermutlich eher nicht so hilfreich für Kinder wie Cooper Stock. Die Fahrt zieht sich. Diana erzählt, dass ihr Verlobter auch gerade überfahren worden sei. Als er aus einer Bank kam. Der Hinterreifen sei über den Kopf drüber. Habe den Kopf aufgeknackt wie eine Nuss. „Sein Auge ist nach hinten in den Kopf reingefallen“. Da vorne solle man rechts abbiegen. „Make a right“, sagt Diane, und dann wieder: „I hope he’s gonna make it. I mean, he’s on life support…“ Das schlimmste sei: sie müsse deswegen jetzt jeden Tag ins Krankenhaus, sie habe selber mal in einem gearbeitet, jetzt zieh rum, worauf wartest du denn?
-Äh, auf die Fußgänger da?
-Ah, wow, Warten auf Fußgänger, sowas ist natürlich cool für die Prüfung, aber im normalen Leben warten die. Jedenfalls: Wer nicht jeden Tag im Krankenhaus Besuch bekommt, wird vom Personal vernachlässigt, so sei das nun mal.
Dann steigt die plappernde Diana aus, und eine schweigsame Prüferin steigt ein, losfahren, wenden, einparken, bestanden.
Einparken können sie in New York wirklich alle beeindruckend gut. An den Fähigkeiten, geradeaus zu fahren, kann man eigentlich auch wenig aussetzen. Da verhält es sich mit Amerikas Autofahrern im Prinzip nicht anders als man das amerikanischen Autos immer so nachsagt: Die Probleme beginnen, wo Kurven ins Spiel kommen.
Nur so ein Verdacht: Kann es sein, dass das Tempo gar nicht so sehr aus praktischen Gründen so geächtet wird, sondern aus eher theoretischen, um nicht zu sagen: ideologischen? Aus den gleichen Gründen, aus denen es auch „Slow Food“ gibt und all die vielen Bestseller darüber, weshalb das moderne Leben generell zu schnell und zu hektisch ist? Nach allem, was man von Bürgermeister de Blasio weiß, wäre er in Deutschland vermutlich bei den Grünen. Nach allem, was man von ihm mitbekommt, wäre er vermutlich auch lieber der Bürgermeister von Tübingen als der von New York.
Wer hat in dieser unerschrockenen Stadt eigentlich ernsthaft die Sorge, von einem mit 30 Mph/48 Kmh die Straße entlang, nunja, gerast kommenden Auto überfahren zu werden?
Das große Zittern beginnt aber an der Kreuzung: Vor Autos, die – nach New Yorker Zeitempfinden – stundenlang an roten Ampeln warten müssen und dann bei Grün befreit um die Ecke röhren. Aus „Road Rage“ oder aus Angst, den Truck mit dem ausdrucksvoll tätowierten Fahrer im Rückspiegel zu lange aufzuhalten.
Rücksichtnahme? Auf Schwächere? Querende Väter mit Kind?
Gehört nicht zu den zentralen Werten, die New York vermittelt.
Den kleine Cooper Stock, totgefahren von einem Taxifahrer, der das Abbiegen, wenn überhaupt, bei Lehrern wie Ray oder Diana gelernt hat, sieht man mit bangem Herzen jeden Tag an Tausenden von Kreuzungen stehen: All diese Kinder, die an den Händen ihrer Eltern, in den Verkehr starren.
Wie erklärt man einem Dreijährigen eigentlich, dass er warten muss, wenn Rot ist? Wenn alle Erwachsenen ganz selbstverständlich bei Rot über die Straße gehen. Weil es bei Rot ja auch leider viel sicherer ist. Und dass man bei Weiß, in New York ist das grüne Ampelmännchen weiß, ebenfalls warten muss und die abbiegenden Autos durchlassen. Bis es wieder Rot ist…
Manchmal sieht man beherzte Mütter mit dem Kind an der Hand gegen Autotüren treten. Manchmal, selten, merkt das so ein Fahrer sogar. Manche, eher Männer, werden dann laut. Andere, eher Frauen, werden angesichts des Kindes aber auch kleinlaut und kriechen bis zur nächsten Ampel. Weniger aus Vorsicht, eher aus einem flüchtigen Anflug von schlechtem Gewissen.
Und in ungefähr diesem Zustand, könnte man sagen, bewegt sich New York seit einer Woche als ganzes.
(c) Peter Richter
Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 15. November 2014 auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung.