On Kawara im Guggenheim

Erstaunlich, wie interessant die Retrospektive für On Kawara im New Yorker Guggenheim Museum ist. Das war nicht unbedingt zu erwarten, wenn einer sein Leben lang nichts als das aktuelle Datum auf Leinwände malt oder Telegramme mit der Mitteilung versendet, dass er am Leben sei, oder eine Million Jahre in Bücher einträgt. Zu erwarten gewesen wäre ein ehrfurchtgebietendes Monument, die eisige Erhabenheit eines Werkes, das dem Dasein in der Welt, dem Vergehen der Zeit und damit in letzter Konsequenz natürlich dem Warten auf den Tod gewidmet war. On Kawara hat seine Tage gezählt wie andere Leute Schäfchen vor dem Einschlafen. Am 29. Juni vergangenen Jahres ist der Japaner in New York gestorben, wo er die meiste Zeit seines Lebens auch gewohnt hat. So weiß man nun nicht, wie er sich dazu verhalten hätte, dass seine erste umfassende Retrospektive – er hat sie selbst noch mitkonzipiert – interessant genannt werden muss. Man weiß nur, dass Konzeptkünstler seiner Generation eigentlich nicht unbedingt für die Freuden des Anekdotischen stehen. Viele schätzen sie schließlich besonders dafür so sehr. Teile des Publikums hatten vor solcher Art von Kunst aber auch immer schon mit dem Gähnen zu kämpfen. Das ist die Tücke des Erhabenen: Es eignet ihm oft auch eine gewisse Eintönigkeit. Der Respekt vor dem konzeptuellen Werk kann oft nicht verhindern, das die einzelnen Arbeiten in der Praxis einer Ausstellung eher als One-Liner abgehakt werden. Wo immer eines der Datumsbilder von On Kawara an einer Museumswand hing, konnte man Fans freudig nicken und Verächter schulterzuckend weitergehen sehen – aber niemanden, der sich besonders lange dahinein vertieft hätte. Und das ist jetzt im Guggenheim eben fundamental anders.

Wer gedacht hatte, dass er auch eine großen Anzahl von diesen Datumsbildern relativ zügig abschreiten könnte, fand sich auf einmal stundenlang darüber gebeugt. Das erste ist: Die Masse macht es. Wenn sie nicht vereinzelt, sondern in einer Reihe hängen, verlieren sie das Stellvertreterhafte und gewinnen an Kraft und Präsenz. Die andere Sache aber ist die: Es sind nicht nur offensichtlich immer viel zu wenige davon in einer Reihe ausgestellt worden, sondern die dann auch noch unvollständig. Nur ganz selten waren bisher die Schachteln zu sehen, die zu den Gemälden gehören. Die Leinwand, auf der jeden Tag in weiß auf schwarz das Datum gemalt wurde, immer in der selben Type und immer in den Schreibkonventionen des Landes, in dem On Kawara sich gerade aufhielt, kommt, wenn sie nicht hängt, in eine Box, die wiederum mit einer Zeitungsseite desselben Tages ausgepolstert ist. Welche das ist, hing davon ab, wo sich der Künstler gerade aufhielt. Daher ist es meistens die New York Times. Das Guggenheim zeigt nun Datumsbilder aus ganz verschiedenen Jahren, darunter aber auch durchgängig alle von „Jan. 1, 1970“ bis „March. 31, 1970“. Und siehe: Man schrieb noch von „Negroes“ damals. „Negroes“ verließen die Innenstadt, wenn sie könnten, genauso fluchtartig wie der weiße Mittelstand in Richtung Suburbia. Es war die Zeit, als New York City deswegen dem Bankrott entgegentrudelte. Nixon war Präsident. In den Südstaaten gab es Rassen-, in Paris Studentenunruhen. Und unter Fotomodellen wie Pat Evans kam vorübergehend die Glatze in Mode.

Nichts ist interessanter als die Zeitung von gestern – außer eine Zeitung von vor 45 Jahren: Man springt dann mit beiden Beinen in die Dramatik eines fernen Alltags, von der das kleine schwarzweiße Bild, das sein Datum angibt, stoisch und vornehm schweigt. Es ist ja oft vorgekommen, dass sich die Kunst mit ihrem überzeitlichen Geltungsanspruch bei der Presse Aktualität und Gegenwärtigkeit besorgt. Aber selten sind diese beiden Dinge so komplementär auf einander bezogen worden.

Was man anfangen will mit diesen Informationen ist nicht die entscheidende Frage. Mit einer Menge von Informationen kann man erst einmal nicht unbedingt viel anfangen, aber interessant genug, um sie begierig aufzusammeln, sind sie offensichtlich doch.

Auch vor den Postkarten, auf denen On Kawara seinen Bekannten mitteilte, wann er an dem betreffenden Tag das Bett verlassen hat, steht man einerseits wie Caspar David Friedrichs Mönch vorm grauen Meer und ist wie erschlagen von Uferlosigkeit und Lakonie. Aber sie sind eben auch interessant in dem Sinne wie Blicke durch Schlüssellöcher interessant sind: Mal ist der Künstler um 8:45 Uhr aufgestanden, mal erst um halb zwei am Nachmittag. Hinter der autistisch wirkenden Gleichförmigkeit wird auf einmal so etwas wie unstetes Leben spürbar. Und dass Sol LeWitt damals in der Hester Street gewohnt hat – auch nicht direkt uninteressant. Und Kasper König gar nicht weit von LeWitt auf dem East Broadway, direkt neben der Manhattan Bridge. Man müsste den nachmaligen Kölner Museumschef bei der nächsten Gelegenheit mal fragen, warum und wie das dort war damals. Und wieviel er für die frühen Zeichnungen von Kawara eigentlich bezahlt hat; König ist tatsächlich einer der Hauptleihgeber. Und und und. Vielleicht haben Informationen dieser Art nur auf den ersten Blick etwas Akzidentielles, vielleicht sind sie sogar der Kern der Sache.

In Michel Houellebeqcs Roman „Unterwerfung“ gibt es zwei Probleme, die den Helden wirklich elementar umtreiben und so etwas wie die Condition humaine in der Spätmoderne markieren: neben dem Sex ist das der traurige Zwang, einer Bürokratie ständig Mitteilung über das eigene Leben zu geben. On Kawara hat das vorweggenommen, als er seinen Bekannten in und aus aller Welt Telegramme mit der Nachricht „I am still alive“ schickte. Den Satz hätte er im Prinzip gar nicht draufschreiben müssen, das Medium war hier, wie man so sagt, die Message. Inzwischen stimmt es nun für beide nicht mehr. On Kawara ist tot, und das Telegramm auch. Aber das, wozu sie einluden, ist das Hauptthema der Gegenwart und, so wie es aussieht, unserer Zukunft: Das rasende Auslesen von Informationen, die scheinbar nur am Rande oder auf der Unterseite des Eigentlichen mitlaufen. Wem hat er es geschrieben, wann und von wo? Er hat die Namen der Leute, denen er jeden Tag so begegnet ist, aufgeschrieben und als Kunst ausgestellt. Er hat, lange bevor Smartphones und Satelliten so etwas aufzeichneten, die Wege notiert, die er durch die Stadt genommen hat. Er hat festgehalten, was in Mexiko, wo er am 1. Mai 1968 war, in den Nachrichten kam. Und er hat zu einem Zeitpunkt, als die Leute, die einem heute zur Datenverschlüsselung raten, noch nicht einmal geboren waren, schon damit angefangen und codierte Texte in die Welt gesetzt. On Kawara, das wird jetzt immer deutlicher, hat schon vor Jahrzehnten aus seinem Leben das gemacht, was Google, Facebook und die NSA heute aus dem Leben aller machen wollen. Er hat sozusagen aus sich selbst in Handarbeit einen Prototypen für den Menschen im Digitalzeitalter geformt. Diese in jeder Hinsicht erstaunliche Retrospektive in New York nimmt der grauen Gleichförmigkeit der Kunst On Kawaras endgültig den Schrecken – und verlagert ihn ganz woanders hin.

On Kawara: On Silence. Bis 3. Mai. Katalog 65 Dollar

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 11.2.2015