Der Niederländer Rem Koolhaas, der ursprünglich Journalist war, bevor er als Architekt namhaft wurde, hat in Berlin ein Haus für die Axel Springer AG errichtet, die ein Zeitungsverlag war, bevor auch sie beschlossen hat, lieber noch etwas anderes werden zu wollen.
Was genau, das ist die eine Frage.
Die andere ist die, ob eine Antwort darauf womöglich in dem Neubau steckt, der am Dienstag offiziell und mit der üblichen Bundespräsidenten-Ansprache eingeweiht wurde, nachdem der Bau ja schon längst bezogen und in Betrieb genommen worden war. Fraglos ist nun erst einmal die belebende Wirkung auf das Berliner Stadtbild. Aber das war auch schon so, als Axel Springer sein nach ihm benanntes Hochhaus in den Sechzigern direkt neben die Berliner Mauer setzen ließ, worauf man sich auf der anderen Seite veranlasst sah, mit einer Stafette von ähnlich hohen Hochhausscheiben zu antworten, um das golden schimmernde Ärgernis im Westen möglichst zum Verschwinden zu bringen. Schwindelerregend, von Konkurrenz, ideologischen Antagonismen und Überbietungswettkämpfen geprägt war das Geschehen in dieser Gegend bereits, als das hier noch das Zeitungsviertel der Reichshauptstadt war, seit der Jahrhundertwende waren Verlage und Druckereien aus dem Boden geschossen, sie hatten dabei mitunter auch damals architekturhistorisch bedeutende Formen angenommen: Erich Mendelsohns Mosse-Haus zum Beispiel mit seiner rasanten runden Ecke, die später so elegant von dem Architekten Gerhard Spangenberg bei seinem Neubau für die Tageszeitung die tageszeitung (taz) an der Kochstraße zitiert werden sollte, nur wenige Meter neben Springers Turm ausgerechnet. Nachdem sie als Gruß an den ungeliebten Nachbarn vorher noch die Umbenennung der Straße nach dem Springer-Gegner Rudi Dutschke durchgesetzt hatte, ist die linke taz inzwischen weitergezogen und hat sich um die Ecke ein neues Haus gebaut.
Das legt wiederum die Frage nahe, was Zeitungsverlage so oft dazu treibt, ihre Standorte zu verlassen, um sich jeweils in der Nähe neue zu errichten. Die Antworten, die man darauf üblicherweise erhält, haben meist mit immobilienwirtschaftlichen Erwägungen zu tun, manchmal auch mit arbeitsstrukturellen. Im besten Fall bilden sich solche Strukturfragen dann sogar in den wirtschaftlichen Neubauten ästhetisch ab. Die taz zum Beispiel hatte sich, wie man hört, auch deshalb für einen schönen Entwurf des Zürcher Büros E2A entschieden, weil der viel frei bespielbaren Raum mit einem Gitternetz umgab, in dem alle Teile gleichviel Druck aushalten müssen, um Stabilität zu erreichen. Was bei der linken taz dem zwingend solidarischen, hierarchiefreien Selbstbild schmeichelt, findet sich ähnlich nun allerdings auch im Neubau für Springer, wenn auch aus weniger solidarischen Gründen: Schon bevor sich das Unternehmen vor einem Jahr in die eiskalten Hände der amerikanischen Beteiligungsgesellschaft KKR begeben hat, herrschte bei Springer ein Kostendruck, der Koolhaas’ Büro zwang, die Fassaden über weite Strecken als selbst-tragendes Glasgitter auszuformen. Grund: Materialersparnis. Dort quellen die Gläser nun allerdings hervor wie Diamanten aus einem Block Steinkohle, denn Koolhaas und seine hier zuständige Büropartnerin Katrin Betschinger haben den Rest der Glasfassade schwarz schraffiert, aus klimatischen Gründen und als Referenz an Mies van der Rohes berühmten Entwurf eines Glashochhauses an der Friedrichstraße. Solche Berlin-Bezüge und eine luxurierende Wirkung der einfachen Materialien Aluminium, Glas und Beton prägen am Ende auch die eigentliche Schauseite des Baus, und das ist in diesem Fall eindeutig sein Inneres.
Ein dermaßen spektakuläres Atrium hat es in Europa eigentlich überhaupt noch nie gegeben. Selbst die turmhohen Glashallen, mit denen der Architekt John Portman Jr. viele Siebzigerjahre-Hotels in den USA ausstaffiert hatte, wirken bestenfalls niedlich gegen diese Atrium-Dimensionen. Koolhaas, von dem immerhin schon die einzige Studie der Berliner Mauer als Bauwerk stammte („Die Grenzüberschreitung, um alle Grenzüberschreitungen zu beenden“, nannte er sie), der Berlin-Spezialist Koolhaas also hat auf dem ehemaligen Todesstreifen, genau zwischen dem Springer-Hochhaus und den Gegenhochhäusern der DDR, einen der für die Stadt typischen Verdoppelungseffekte inszeniert: Alles wird gespiegelt und dadurch üppiger. Das gilt im Kleinen, wenn neben jedem Barcelona-Chair von Mies van der Rohe (West) ein Exemplar der federnden Weiterentwicklung dieses Design-Klassikers durch Rudolf Horn (Ost) steht. Das gilt im Großen, wenn die Terrassen der unteren Atrium-Hälfte oben als alpinistisch herausfordernde Felsüberhänge wiederkehren. Der Begriff der Bürolandschaft ist hier wörtlich genommen, und zwar sozusagen in den dramatischen Formen eines Nationalparks. Ob das, Hegel-Jahr hin oder her, schon als dialektische Aufhebung alter ideologischer Widersprüche hinreicht, können am Ende nur die Nachfolger von Rudi Dutschke und den Seinen entscheiden. Da das Erdgeschoss mit seinen Cafés bis kurz vor die Fahrstühle eine öffentlich zugängliche Zone sein soll, haben nun die vielen Menschen, die den Verlag und seine Erzeugnisse auch heute noch ablehnen, im Prinzip nun sogar die Möglichkeit bis ins Innerste vorzudringen, um zu protestieren – wobei dort angekommen heute dann die erwähnte Frage wartet, was von diesem Verlag eigentlich noch übrig ist.
Irgendwo in einer der unteren Etagen steht tatsächlich die Bronzeskulptur eines Zeitungslesers rührend in der Ecke, wie zur Entsorgung rausgestellt und vom Facility Management nur noch nicht abgeholt. In den oberen Etagen quietschen derweil die Turnschuhe der jungen Leute aus den Abteilungen der Internet-Dienstleister herum, mit denen Springer heute wesentlich sein Geld verdient, und sie alle sind wirklich deutlich zu jung, um sich erinnern zu können, dass Wohnungs- oder Autoanzeigen die Wochenendausgaben von Zeitungen mal so dick wie Telefonbücher gemacht haben (andererseits sind sie auch zu jung, um sich an Telefonbücher zu erinnern). Und irgendwo dazwischen – direkt über den Fernsehstudios von Axel Springer, um genau zu sein – verläuft quer durch die Luft ein gläserner Tunnel, in dem sich, wie es heißt, die Newsrooms befinden.
Je höher die räumliche Ebene, desto häufiger findet sich der Besucher an einem der Geländer über der gewaltigen Tagebaulandschaft aus Sitzgruppen und Arbeitsplätzen wieder: als eine Mischung aus Caspardavidfriedrich’schem Gebirgswanderer und dem Monsieur Hulot, den der große Regisseur der Moderne, Jacques Tatis, 1965 in „Playtime“ so schön fassungslos in eins der damals gerade erst aufgekommenen Großraumbüros starren ließ: Faszination, all diesen überwiegend federnd besneakerten jungen Menschen beim Bevölkern der verschiedenen Sitzgruppen und Tische zuzusehen. Großes Rätsel, was genau sie da im Einzelnen tun. Wie das Verfassen von klassischen Artikeln sieht es nicht aus. Aber dafür eignet sich vermutlich auch für die Kollegen bei Springer immer noch am besten das sogenannte Home Office.
Am Ende ist die radikale Flexibilisierung in dieser Situation die eigentliche Leistung dieses Baus von Rem Koolhaas: Hier könnte und hier kann im Prinzip alles passieren. Denn wer heute ernsthaft sagen wollte, womit ein Medienhaus in Zukunft noch so alles versuchen wird, sein Geld zu verdienen, müsste selber ein Medium sein. Die nötigen Glaskugeln gibt es sicher online.