Dass vor dem zweiten Fernsehduell zwischen Donald Trump und Joe Biden vor allem der Kommunikationsstil Trumps ein Thema ist, wird sein auf Dominanz gebürstetes Team vermutlich schon als Punkt für ihn werten, genauso wie die vielen Parodien auf sein heiseres Gepöbel.
Vor acht Jahren, als von Trump als Präsident noch keine Rede war, aber Biden bereits zum zweiten Mal als Vizepräsident zur Wahl stand, war das anders. Im Oktober 2012 brachte die generell treu den Demokraten zugeneigte Zeitschrift The New Yorker eine Satire, in der Joe „Lemme tell you a story“ Biden als Kellner auftritt und sich zur Begrüßung erst mal selber einen Stuhl ranzieht: „Folks, als ich sechs Jahre alt war, kam mein Dad eines Nachts zu mir. Mein Dad war ein car guy. Harter Arbeiter, anständiger Kerl. Hat kein einfaches Leben gehabt. Eines nachts kam er die Treppe hoch zu meinem Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und sagte zu mir, er sagte: ,Champ, deine Mom hat sich viel Mühe gemacht mit dem Dinner heute. Hat hart daran gearbeitet. Hat buchstäblich Stunden dran gearbeitet. Und als du und deine Brüder gesagt haben, dass es euch nicht schmeckt, weißt du was, Joey? Das hat ihr weh getan. Es tat weh.‘ Und ich fühlte mich (senkt die Stimme) beschämt. Weil … Ich will euch mal was sagen: Er hatte recht. Mein Dad hatte recht. Meine Mom hat sich viel Mühe mit dem Dinner gegeben, und es war köstlich. Fast so köstlich wie unsere Chicken Fontina Quesadilla mit Knoblauch-Guacamole. Das ist unser Special Appetizer heute. Es ist das Special. Es ist das Special. (Stimme wird lauter) Und der Koch hat sich viel Mühe gemacht, genau wie meine Mom.“
Wir unterbrechen das hier mal, weil es eigentlich in diesem Text um das Unterbrechen gehen soll.
Am Donnerstag wird der etwas langatmige Biden wie gesagt sein zweites Fernsehduell mit Trump ausfechten, und das erste war schon nicht weniger als ein Massaker: Kaum ein Satz, der nicht bereits zerfetzt worden wäre, bevor er seinen Punkt ansteuern konnte. Die Welt sah eine rüde Keilerei mit abgebrochenen Argumenten und Gebrüll, an der Trump als der Schulhof-Bully, der er auch im Corona-Hochrisikoalter noch ist, sichtbar mehr Freude hatte als der väterliche Biden, der immerhin entschlossen war gegenzuhalten (harter Arbeiter, anständiger Kerl, auch er).
Für dieses Mal hat die Regie nun beschlossen, den beiden Männern das Mikrofon abzudrehen, während der jeweils andere redet. Was das wohl bringt? Vielleicht wird es die Veranstaltung wie eine Videokonferenz wirken lassen, also immerhin zeitgenössisch. Allerdings werden Videokonferenzen mit ihren meist noch endloseren Beiträgen (der Sprecher sieht nur partiell, in welchem Ausmaß sich seine Zuhörer langweilen) von vielen als noch anstrengender empfunden als echte. Ein gewisses Maß an Rückmeldung während des Sprechens, auch Backchanneling genannt, gibt immerhin das Gefühl, nicht mit Toten zu reden. Vielleicht, wer weiß, wird Trump auch auf Pantomime oder Gebärdensprache ausweichen, um sich Luft zu machen, während Biden ganz in Ruhe Geschichten erzählt. Es wäre nachvollziehbar.
Denn zu den vielen Dingen, die man ihm vorwerfen muss, gehört nun auch noch die Tatsache, dass er die Reputation des Unterbrechens nahezu komplett ruiniert hat, nachdem es als „Einrede“ oder „Zwischenruf“ früher mal in hohem Rang stand. Vorbei. Spätestens seit Trump bei den Fernsehduellen zur letzten Präsidentschaftswahl Hillary Clinton dauernd über den Mund fuhr, ging der Begriff des „Manterrupting“ um die Welt. Es ist populär geworden, das Unterbrechen als Problem eines strukturellen Sexismus zu betrachten, auch wenn das empirisch windig sein mag. Neben der feministischen Klage über schwadronierende Konferenzpaviane im Arbeitsalltag stehen immer auch die vielen, vielen Ehepaare, bei denen das Sagen und das Nicht-zu-Wort-Kommen andersherum verteilt sind. Die Linguistin Katherine Hilton hat an der Stanford University statistisch ermittelt, dass amerikanische Männer unterbrechende Frauen noch unhöflicher finden als umgekehrt. Was sie auch herausgefunden hat: Die Amerikaner sind zusätzlich gespalten zwischen „high intensity speakers“ und „low intensity speakers“. Die einen finden simultanes Sprechen sozial anregend und stummes Zuhören unhöflich, die anderen empfinden es umgekehrt. Dass aber auch das Unterbrechen ein Akt der Höflichkeit sein kann, Schweigen, weitschweifige Tiefsinnigkeitsdemonstrationen hingegen eine Aggression: Das ist eine Sache, die man sich weder von den Trumps noch von den Trump-Gegnern dieser Welt zerreden lassen sollte. Denn wer reflexhaft das Gegenteil von Trumps ungehobeltem Machtgebaren zum moralischen Imperativ erklärt, schickt seine Zuhörer auch nur vom Regen in die Traufe. Eine Welt, in der alle ausführlich ausreden dürften, wäre das nicht das Paradies? Vielleicht – allerdings nur im strikten Wortsinn, nämlich nach dem Jüngsten Gericht. Solange Zeitlichkeit noch eine Rolle spielt und manche Leute reden wie Joe Biden, wäre es hienieden hingegen die Hölle, jedenfalls für alle, die eine Uhr im Blick haben müssen. Moderatoren zum Beispiel.
Die deutsche Rundfunklegende Klaus Pokatzky hat sich über Jahrzehnte am Mikrofon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenn die Welt hektischer wurde, sprach er eher noch gedehnter. Nebenbei lehrt er als Medientrainer der Bundeswehr, wie man zügig zum Punkt kommt, bevor das Gegenüber ungeduldig wird. Er erzählt nun, dass er deutsche Fernsehtalkshows heute für den Inbegriff dessen halte, was seine strenge Mutter einst „Ungezogenheit“ genannt habe. Er habe neulich für einen Radiobeitrag irgendeinen Politikersatz aus einer Talkshow schneiden wollen, bei dem wirklich nur eine Stimme zu hören ist, nicht darüber, darunter, daneben noch andere. Er fand „vier oder fünf“ – in 45 Minuten Sendezeit. „Und das, junger Freund, war früher mal anders.“
Aber heute haben halt alle ihre Medientrainer, die ihnen beibringen, keine Zögerlichkeit zu zeigen, sich das Wort nicht entreißen zu lassen („bin gleich fertig“, „ganz kurz dies noch“), aber auch nicht demütig zu warten, bis es ihnen erteilt wird („Einspruch!“). Alle haben die Uhr vor Augen oder im Kopf, alle wollen ihre Punkte machen, alle müssen Selbstbewusstsein zeigen. Die armen Moderatoren und die armen Moderatorinnen, die das Chaos bändigen und pünktlich zum Ende bringen müssen, sind im Grunde darauf angewiesen, dass ihnen die Technik das Mikro mit der größten Frequenz zugeteilt hat, sodass sie subtil und freundlich bleiben können beim Übertönen der anderen. Es gibt tatsächlich subtile, freundlich klingende Techniken des Unterbrechens. Die bekommt man bei den Öffentlich-Rechtlichen manchmal in Moderationsschulungen gelehrt. Den Stichworttrick zum Beispiel: Einfach ein beliebiges Wort aus dem Sermon eines Vielredners aufgreifen und euphorisch wiederholen, dann mit etwas völlig anderem weitermachen.
Für Biden ist das kein Rezept. Unwahrscheinlich, dass er bei Trump auch nur ein Füllwort mit Euphorie aufgreifen würde. Unwahrscheinlich auch, dass Trump ihn ließe. Schön wäre es, wenn Biden das einzige Mittel anwenden würde, dass sich wirklich bewährt hat: stures Wiederholen und Weitermachen. Zur Not auch den Kellnertext aus dem New Yorker. Inhalt fast egal, der Ton macht die Musik. High Intensity Jazz: Trump das rasende, rülpsende Saxofon, Biden der stoische, am Ende obsiegende Bass. Dazu müssten aber bitte beide Mikrofone offen bleiben.
PETER RICHTER
Eine Version dieses Textes erschien unter dem Titel „Faules Ausreden“ zuerst am 21.10.2020 in der Süddeutschen Zeitung