Richter im Reichstag

Seit Montag hängt in der Haupteingangshalle des Reichstags in Berlin gegenüber von Gerhard Richters Werk „Schwarz Rot Gold“ eine weitere Arbeit von Richter, Titel „Birkenau“, denn den vier Bildern liegen Fotos zugrunde, die 1944 heimlich im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aufgenommen worden waren, und Zugrundeliegen heißt in diesem Fall: Man sieht sie nicht mehr, sie sind unter den Bildern begraben. Dazu gleich mehr.

Zuerst noch kurz zu dem, was vorher dort hing: Leuchtkästen von Sigmar Polke zu eher heiter aufgefassten Themen des deutschen Parlamentarismus wie „Hammelsprung“ oder „Konrad Adenauer ermahnt die Fotoreporter“. Wie zwei bundesrepublikanische Kultur-Karyatiden flankierten Polke und Richter da jahrelang den Eingang zum Parlament. Es hatte auch etwas von Demokrit und Heraklit, dem lachenden und dem weinenden Philosophen, dem Gegensatz von Komödie und Tragödie oder jedenfalls von Ironie und Pathos, und es kann schon sein, dass Richters nationalfarbige, zwischen Flagge und Spiegel changierende Glaspaneele auf der extrem schmalen, extrem hohen Wand zumindest deutlich staatstragender wirkten als Polkes fragile Basteleien. Jedenfalls mussten die jetzt mal in die Restaurierwerkstatt, und eine 30 Meter hohe Wand war neu zu füllen.

Es gehört zu den Privilegien des Hausherrn, sich auch für solche Aufgaben zuständig fühlen zu dürfen. Und so kam es, dass Norbert Lammert an seinem vorletzten Arbeitstag als Parlamentspräsident (siehe auch das Profil auf Seite 4) zusammen mit Gerhard Richter vor einen Haufen wie in altbyzantinischer Proskynese auf dem Boden liegende Fotoreporter und Kameramänner trat, diese aber anders als Polkes Adenauer nicht ermahnte, sondern „zu einer kleinen öffentlichen Präsentation eines bedeutenden Kunstwerks“ begrüßte.

Es war ein bemerkenswerter Termin, weil er zwar von Kunst handelte, dies aber auf dem Feld und in den Formen und Formeln der Politik tat. Offene Sakkos, die den Blick auf eher lang gebundene Schlipse freigeben, gehören ja durchaus auch diesseits von Donald Trump zum Habitus der eher informellen politischen Ansprache, und diese hier fand nun sogar ganz buchstäblich zwischen Tür und Angel statt. Lammert schien dabei weniger zu den Menschen vor ihm zu sprechen, wozu auch, die hatten mit ihren Kameras zu tun, die Adressaten waren in einem medialen Dahinter. Auch Claudia Roth von den Grünen sah zu, dass sie mit im Bild war, der Reichstag ist nun einmal kein Museum, sondern eine Arena. Und natürlich sprach Lammert sehr, sehr gut. Er sprach so gut, dass er Richter, als er ihn am Ende fragte, ob er nicht auch noch ein paar Worte sagen wolle, die perfekte Ausrede zur Verfügung gestellt hatte: „Sie können das besser.“

So stand Richter, der mit seinen Äußerungen gerne spröde umgeht, einfach nur da und ließ Bilder von sich machen, während Lammert davon sprach, wie Richter seinerseits Bilder macht oder eben auch daran scheitert. Er sprach davon, wie Richter sich seit den Sechzigerjahren immer wieder mit der Nazizeit auseinandergesetzt habe und von seinem Ringen mit der Schwierigkeit, Bilder vom Holocaust zu machen.

Die vier Fotos, die von einer polnischen Widerstandgruppe 1944 aus dem Vernichtungslager geschmuggelt worden waren, hatte Richter erst als das zu malen versucht, was sie waren, also als Fotos, und Gemälde von Fotos sind vermutlich der Teil von Richters Werk, der bis heute zu seinem populärsten oder scheinbar zugänglichsten gehört. Wie Gerhard Richter später verlauten ließ, funktionierten die Ergebnisse aber nicht „als Bild“ in seinem Sinne. Nach schichtenweiser Übermalung und Behandlung mit dem Rakel sind dann Arbeiten daraus geworden, die sich eher in seine zweite große Werkgruppe einreihen, die der abstrakten Bilder. Sie sind farblich düsterer, aber eben nicht im Geringsten narrativ, auch wenn sich das viele Schwarz und Weiß und Grau und die roten und die grünen Akzente symbolisch deuten lassen, wenn man einmal den Titel und die Genese kennt.

Als Richter später doch noch ein paar Fragen des Fernsehens beantwortet, wiederholt er noch einmal, was er vor zwei Jahren schon bei der ersten Präsentation der Serie in Dresden und Baden-Baden gesagt hatte: Dass ein Werk der Musik oft auch erst durch den Titel seinen Sinn erhalte. Damals war es zu Debatten gekommen darüber, inwieweit abstrakte und bei aller Düsternis der Tonalität attraktive Bilder zu Mahnmalen des Holocaust taugen – oder ob sie dieser Anspruch überfordert.

Wovon an diesem Tag merkwürdigerweise wenig die Rede ist, ist die Tatsache, dass jetzt mitnichten Richters Gemälde im Reichstag hängen, sondern fotografische Reproduktionen davon, die auf Plexiglastafeln gezogen – dritte wichtige Werkgruppe bei Richter – und dann jeweils in vier Paneele zerteilt wurden, wodurch eine Kreuzform entsteht. Einmal abgesehen von der Problematik, dass sich damit nun das Thema Holocaust und christliche Symbolik kreuzen, verleiht das den Arbeiten zusätzlich zu Titel und Farbstimmung eine Oratorienhaftigkeit. Richter sagt, dass ihm dieser Dämpfer ganz gut gefalle so direkt gegenüber von seinem strahlenden „Schwarz Rot Gold“. Lammert sprach davon, dass zwischen diesen beiden Polen der deutschen Geschichte künftig hindurch müsse, wer ins Parlament will, und dass er hoffe, die moralische Wirkung auf die Politiker könnte jener gleichkommen, die die Kopie von Picassos „Guernica“ im Gebäude der Vereinten Nationen hat.

Es bleibt die Frage, was eigentlich mit den Originalen passiert, die Gerhard Richter genauso wie die beiden Sets von Fotoreproduktionen nicht dem Markt ausliefern wollte, wo sie vermutlich Preise erzielen würden, deren Obszönität die Bilder nur diskreditieren könnte. Und die Frage, wo die Arbeiten von Polke hinkommen, wenn sie vom Restaurator zurück sind. Zumindest auf letztere Frage hatte Lammert eine Antwort. Er könnte seinem Nachfolger mindestens drei Plätze im Reichstagsgebäude nennen, an denen sie wunderbar hängen würden.

 

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 5.9.2017 im Feuilletoin der Süddeutschen Zeitung