Der Converse-Laden auf dem Broadway in New York ist a: ein Tag für Tag bumsvolles Schuhgeschäft, b: ein Museum, oder c: der Schauplatz einer Revolution?
Die Antwort ist, natürlich, d: alles gleichzeitig.
Der Laden ist ein Museum, in dem man Abgüsse einer Skulptur kaufen kann, die 1917 geschaffen und 1934 zuletzt ein wenig überarbeitet wurde, nach amerikanischen Begriffen also nahezu antikes Kulturgut. Basketballschuhe der Baureihe „Converse Chuck Taylor All Star“, genannt „Chucks“, wurden von Elvis Presley und James Dean, von Andy Warhol und Patti Smith, von Sid Vicious und Kurt Cobain sowie so vielen weiteren Künstlern und deren jeweiligen Anhängern bei der Produktion und Konsumtion von Popkultur getragen, dass man mit dem so erzeugten Fußschweiß Manhattan fluten könnte. Als es Ende Juli nun hieß, dass es nach über achtzig Jahren mal Zeit sei für ein paar sparsame Verjüngungen, war die Aufregung in manchen Kreisen so grundlegend wie es sie in Deutschland nicht mal dann wäre, wenn der Kölner Dom sich moderne Verbundfenster zulegen würde, damit es nicht immer so duster und kühl ist da drinnen. Gilt auch für Turnschuhe der Denkmalschutz?
Tatsächlich muss es der Wunsch offenbar doch recht vieler Kunden nach mehr Komfort gewesen sein, der jetzt dazu geführt hat, dass der „Converse Chuck Taylor All Star II“ eine etwas federndere Sohle hat und auch ein bisschen mehr Polsterung um die Knöchel. Das hat jedenfalls Geoff Cotrill, Vize-Präsident und Geschäftsführer von Converse, der New York Times erzählt. Weil Cotrill zuvor allerdings auch mal bei Coca Cola angestellt war, wusste er immerhin aus erster Hand, was passieren kann, wenn man den Leuten mit solchen Modernisierungsideen kommt bei Dingen, die durch Verbreitung und Gewohnheit den Rang von kollektiven Kulturgütern bekommen haben: Im April 1985 sollte die Coca Cola mal einen neuen, mehr in Richtung Pepsi gehenden Geschmack bekommen; das Ergebnis war die einzige wirklich durchschlagende Protestbewegung der gesamten Reagan-Jahre und ein hektisches Zurückrudern zum alten Rezept. Die Firma Converse, die seit 12 Jahre zum Nike-Konzern gehört, verkauft nach Zahlen der New York Times, die Cotrill nicht dementiert, 270000 Paar der klassischen Chucks pro Tag, an sieben Tagen in der Woche: fast 100 Millionen im Jahr. Es sei deshalb recht häufig über das Fiasko von Coca Cola geredet worden auf den Sitzungen von Converse, und am Ende sah die weise Entscheidung so aus, dass das alte Modell neben dem neuen einfach weiterleben darf. Das ist schon deswegen schön, weil damit weiterhin nacherlebbar bleibt, woher diese Art von Schuh mal kam, den man wegen seiner Gummisohlen von Anfang an Sneaker genannt hat, Schleicher.
Die Chucks seien ja über die Jahre nicht etwa unbequemer geworden, unsere Begriffe von Komfort seien nur mit den Polsterungen all der anderen Schuhe gewachsen, „die Architektur des Converse All Star ist Prinzip noch die von 1917.“ So lautete der Kommentar von Elizabeth Semmelhack zu der Angelegenheit, und die ist Senior Curator am Bata Shoe Museum in Toronto, also die wichtigste hauptamtliche Turnschuh-Kunsthistorikerin Nordamerikas.
Auf die Architekturmetaphorik wird zurückzukommen sein.
Von Semmelhack stammt nämlich auch die Wanderausstellung „Out of the box: the rise of the sneaker culture“, die zufällig zur Zeit im Brooklyn Museum gastiert und vielleicht erklären könnte, warum ein Modellwechsel wie bei Converse überhaupt so eine Relevanz hat. Und womöglich auch, warum sich manchmal beim Eingang von Neuware vor dem Hiphop-Ausstatter „Supreme“ auf der Lafayette Street Schlangen beobachten lassen wie man sie sonst nur aus dem Ostblock kennt, wenn es mal Südfrüchte gab, oder aus dem Museum of Modern Art, wenn dort Scherenschnitte von Matisse gezeigt werden. Denn diese Schuhschlangen sind ja offenbar die Kombination von beidem, eine Ballung von Konsumehrgeiz und Kulturbewusstsein.
Leider ist die Ausstellung dafür aber ein bisschen zu einfältig. Von den Schuhläden in Soho unterscheidet sie sich eigentlich nur dadurch, dass einen die Wärter hier nicht dauernd was zum Anprobieren raussuchen wollen. Ansonsten wird die Bewunderungswürdigkeit der Objekte als evident vorausgesetzt, und was Wandtexte wie Katalog dazu zu erzählen haben, ist, kurz zusammengefasst: Yeah!
Aber das ist vielleicht auch gar nicht verwunderlich, wenn das eine Institution zusammengestellt hat, die selber von einem Schuhhersteller betrieben wird. Und das Brooklyn Museum wiederum hat gerne mal Shows im Haus, mit denen sich ein Publikum locken lässt, das mit normalen Kunstausstellungen schwerer erreichbar ist. Schuhe haben sich da bewährt: Letzten Herbst erst waren es „Killer Heels“, wo man dankbar sein konnte für jeden 12-Zentimeter-Absatz, der da sicher in einer Vitrine stand statt sich in dem Gedränge davor in den eigenen Fuß zu bohren. Jetzt soll das Erfolgsrezept offenbar mit den Louboutins für die Jungs noch einmal nachgekocht werden, denn Sneaker sind eher ein Thema für junge Männer, und dass am Ende tatsächlich auch der Pumps-Designer Christian Louboutin glaubte, welche entwerfen zu müssen, das ist ein Teil der Geschichte, die da zu erzählen wäre.
Die Basketballstiefel „Converse Chuck Taylor All Star“, genannt Chucks, könnten einem dabei als Senkblei dienen: Der erste Schuh von vielen, der nach einem Sportler benannt wurde, und der erste, der, als er beim Sport allmählich ausrangiert wurde, in die Hände der Jugendkulturen fiel. Der Umschlag von Funktionalität in Stil ist nun aber in der Tat etwas, das auch aus der Architektur aus vertraut ist. Wenn die Kuratorin also schon von der Architektur der Chucks redet, dann wäre das gewissermaßen die modernistische Urhütte unter all den „kicks“, den legeren Latschen, die nichts mehr mit der rahmengenähten Tempelhaftigkeit klassischer Herrenschuhe zu tun haben wollten.
Auf den schnell als nackt empfundenen Purismus folgt wie in der Architekturgeschichte so auch hier bald ein skulpturales Anschwellen der Volumen, die Schaumstoffpolster sind dabei das Äquivalent zum Beton – weitgehend frei formbar und damit eine Einladung zu ausdrucksvollen Gesten. So gesehen ist es vielleicht kein Zufall, dass viele Sneaker an expressionistische Architekturentwürfe erinnern; so gesehen sind beispielsweise High-Tops aus den Achtzigerjahren und Erich Mendelssohns Einsteinturm in Potsdam Verwandte, die nur nichts von einander wissen. Bei Reebok wachsen dann eine Zeitlang Oscar-Niemeyer’sche Piloti aus den Sohlen, die den Schuh luftig nach oben bocken. Und was in den Neunzigern bei den Air Jordans von Nike los war, lässt sich nur mit der Entfesselung der sogenannten Cad-Cam-Architektur vergleichen, als alles irgendwie baubar wurde, was man sich am Computer zusammenmalte. Sneakers begannen den Bauten von mal Frank Gehry und dann wieder Zaha Hadid zu gleichen; sie wurden zu dröhnenden Superzeichen voller Schwellkörper, Materialkontraste und schlingernder Schlieren, die die Funktionalität, die sie mit großem Aufwand zu symbolisieren versuchten, darüber augenscheinlich immer mehr verloren haben.
Bei den „Killer Heels“ war noch nachvollziehbarer, dass das, was da auf dem Sockeln stand, letztlich selber ein Sockel war – ein Sockel für die Frau, die den Schuh trägt. Die Sneakers, gerade die vorgeblich für aktive Basketball-Stars entwickelten, stehen gegen Ende hin immer häufiger als selbstbezogene Monumente da, denen ein Platz im Regal lieber wäre als die Belästigung durch einen menschlichen Fuß. Aber das ist vielleicht auch nur die natürliche Konsequenz aus all den Gesten, mit denen deutlich gemacht wurde, dass man das, wozu die Schuhe da sind, nicht mehr nötig hat: Rennen. Offene Schnürsenkel, gebügelte Schnürsenkel, gar keine Schnürsenkel, und am Ende gleich im eingeschweißten Zustand in die Sammlung: Das ist eigentlich ein noch radikalerer Sublimierungsprozess als ihn selbst der Trenchcoat und all die anderen Militärklamotten auf ihrem Weg in die Mode durchgemacht haben. Leute, die den Kult um die Sneakers nicht als Kultur wahrnehmen mögen, neigen auch dazu, solche Manierismen mit fehlenden Manieren zu assoziieren. Der Ruch von Gangstertum klebt vor allem in der amerikanischen Öffentlichkeit an diesen Schuhen wie etwas, in das man mal reingetreten ist und selbst mit pedantischem Putzen nie mehr ganz wegbekommt. Aufschlussreich ist es nun zu lesen, dass das schon für die ältesten Vorfahren der Chucks so galt. Zeitungsanzeigen bemühten sich Ende des 19. Jahrhunderts klarzustellen, dass Sneaker Schuhe für Tennisspieler seien und nicht für Raubmörder, die sich leise anschleichen wollen. Es waren fast genau die gleichen Worte wie hundert Jahre später bei Run DMC: „I wore my sneakers, but I’m not a sneak“.
Gruppen wie Run DMC hatten nicht nur Einfluss darauf, was getragen wurde, sondern auch wie. Ob aber der Hang zum immer loseren Schuhwerk in der Hiphop-Szene auch eine Reaktion war auf eher die festgezurrten Chucks der weißen Rockkids, das wäre so eine der Fragen, auf die man im Brooklyn Museum aber leider keine Antwort erwarten muss. Dass auch der Heavymetal der Achtziger fest und in möglichst engen Hosen auf der Basis von weißen High-Tops stand (und warum und auf welchen), spielt erst recht keinerlei Rolle. Von schwulen Fetischgruppen, deren spezieller Faible für die Sneaker-Kultur bis ins Olfaktorische hineinreicht, möchte man da gar nicht erst anfangen. Die Schau in Brooklyn beschränkt sich ganz auf ein Lob der New Yorker Hiphop-Kultur, deren Stilbewusstsein die Sneaker zu dem gemacht habe, was sie sind. Das ist, einerseits, ein netter Gruß ans Zielpublikum aus der Nachbarschaft und ansonsten aber genau die Art von Mythologisierung, die vielleicht das eigentliche Thema hätte sein müssen. Denn „gemacht“ wurden und werden diese Sneaker ja eben in der Regel nicht von schwarzen Kids aus Brooklyn, sondern von im schlimmsten Fall noch viel jüngeren Kids in Asien. Und unter denen, die sie für die großen amerikanischen und europäischen Firmen gestalten durften, sind schwarze Sneakerheads wie D’Wayne Edwards bisher auch eine sehr übersichtliche Minderheit. Was hingegen wirklich nachhaltig von den Hardcore-Konsumenten aus Brooklyn und Harlem erledigt wurde, war das Marketing. Nur dass sie dafür bis auf prominente Ausnahmen nie bezahlt wurden, sondern im Gegenteil regelmäßig ihr Taschengeld drauflegten. Oder das von sonstwem.
Die alten Geschichten, wonach vor allem Anfang der Neunziger für begehrte Sneaker sogar geraubt und gemordet wurde, dürfe man nicht aufwärmen, lehrt der Katalog, weil das rassistische Stereotype bediene. Interessant. Noch interessanter wäre aber vielleicht, wer damals ein handfestes Interesse an solchen Legendenbildungen gehabt haben könnte.
„Der einzige Weg, ein Highschool-Kid aus den Vororten der Mittelklasse dazu zu bringen, dein Produkt zu kaufen, besteht darin, es von einem Kid aus den harten Vierteln der Innenstadt tragen zu lassen.“ Das stand Mitte der Achtziger ganz offen in einer Pressemitteilung der New Yorker Firma British Knights.
In diesen Vierteln wohnen inzwischen nun meistens Leute, die sich im Zweifel Sneaker von Prada kaufen und mit einem Business-Anzug kombinieren.
Über all diese Schleifen könnte man mal nachdenken. Über die abgehackten Hände auf den Kautschukplantagen von Belgisch-Kongo und das Aufkommen des Lawn Tennis, über die Entfernung zwischen Herzogenaurach (Adidas und Puma) und New York („My Adidas“ von Run DMC), über Jugendkultur und Sweatshops. Anhand von Sneakers müsste sich eigentlich eine erstklassige Globalisierungsgeschichte der Leiden und der Leidenschaften erzählen lassen.
Muss ja nicht im Brooklyn Museum sein. Geht auch in jedem Schuhladen auf dem Broadway.
(c) PETER RICHTER
Eine kürzere Version dieses Textes erschien zuerst am 24.8.2015 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung