Die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses ist noch nicht eingeweiht, da fordert schon eine Initiative den Wiederabriss: „Schlosssprengung 2025“ will ein Plebiszit anstrengen, um die Replik der Hohenzollern-Residenz zum 75. Jahrestag der ersten Sprengung in der DDR erneut in die Luft zu jagen, nur diesmal demokratisch legitimiert. Die Initiatoren sprechen von Protest gegen ein „Monument des preußischen Militärstaats“. Die Trümmer würden sie Wilhelm von Boddien vors Gartentor schütten.
Boddien war der Hamburger Kaufmann, der 1993 ein Gerüst mit einer Tapete der Schlossfassaden da aufstellen ließ, wo der Bau bis 1950 gestanden hatte, und damit so viele Herzen für das Vorhaben gewann, dass dort heute tatsächlich wieder ein Schlossbau steht – und Vernichtungswünsche hervorruft, zumal dafür der Palast der Republik geschleift wurde, der seinerseits die Antwort der SED auf das Schloss gewesen war. Es kann niemand behaupten, dass der Bau keine Leidenschaften mehr auslösen würde. Nur von Begeisterung ist wenig zu spüren. Es ist nicht mal sicher, ob Wilhelm von Boddien besonders bestürzt wäre. Die Freunde der historischen Rekonstruktion, denen er vorsitzt, haben oft beklagt, dass ihnen die Rekonstruktion bei Weitem nicht historisch genug ist.
So ist drei Jahrzehnte und 600 Millionen Euro später im Prinzip alles wieder wie am Anfang: In Berlins Mitte steht etwas, das immer noch mehr nach dem Modell eines möglichen Schlossbaus aussieht als nach dem Schloss. Und es ruft immer noch genau die Abwehrreflexe hervor, derentwegen das grandiose Projekt eines Humboldt-Forums erdacht wurde, das Preußens aufklärerisches Erbe gegen seinen militaristischen Ruf in Stellung bringen sollte. An der Aufgabe, die Schlossfassaden zu entkontaminieren, deren Rekonstruktion vom Bundestag zuvor schon beschlossen worden war, ist das Humboldt-Forum bisher gescheitert. Für das, was hier nun noch passieren könnte, ist das am Ende vielleicht trotzdem eine vergleichsweise frohe Botschaft. Das liegt an dem Projekt selber, das schwindelerregend ist, weil es in dialektischen Wendungen nahezu badet.
Das fängt damit an, dass hier nicht ein Inhalt eine Form brauchte, sondern umgekehrt. Dass es die Form des preußischen Königsschlosses sein sollte und keine modernere, ist wiederum nicht das konservative Komplott, als das es gern hingestellt wird. Die Pläne mögen von konservativen Publizisten ventiliert worden sein. Durchgesetzt haben sie aber Sozialdemokraten. An der Spitze des Fördervereins saß neben Boddien der ostdeutsche SPD-Politiker Richard Schröder. Beschlossen wurde der Bau unter einem SPD-Kanzler, einer SPD-Kulturministerin, einem SPD-Bundestagspräsidenten. Vielleicht hätte eine CDU-geführte Regierung dieses Schloss so wenig auf den Weg bringen können wie den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr. (Eine konservative Regierung brauchte es dafür, um den Paragrafen 175 abzuschaffen.)
Ein Rekonstruktionsgegner wie Peter Strieder, damals Stadtentwicklungssenator in Berlin, war insofern fast ein Exot in seiner Partei, aber ausgerechnet er musste eine überzeugende Nutzung dafür finden. Peter-Klaus Schuster, seinerzeit Generaldirektor der Staatlichen Museen, hat in einem Gedächtnisprotokoll festgehalten, wie er am 4. April 2000 zu Strieder bestellt wurde. An diesem Tag sei die Idee geboren worden, die außereuropäischen Sammlungen, die draußen in Dahlem unter Besucherschwund litten, in die Mitte der Stadt zu holen.
Die Überzeugungskraft der Idee war groß, zumal schnell auch die wissenschaftsgeschichtlichen Sammlungen der Humboldt-Universität ins Spiel kamen: All das war letztlich aus der kurfürstlichen Kunst- und Wunderkammer des Schlosses herausgewachsen und stand ihm dann in den öffentlichen Einrichtungen von Universität und Museumsinsel gegenüber, sollte nun also zurückfluten. Auch um Schinkels Altes Museum als architektonischen wie inhaltlichen Antipoden (Tempelsäulen! Griechenland! Demokratie!) überhaupt erst erkennbar zu machen, so wurde argumentiert, brauche es wieder das alte Gegenüber (Barock! Italien! Dynastie!) – also den Feudalbau als Zentrifuge bürgerlicher Aufklärung und Selbstvervollkommnung durch Bildung. Die Steigerung von Bau und Gegenbau erschien als kultiviertere und kulturstiftendere Alternative zu der späteren Abfolge von Abriss und Gegenabriss.
Die Inschrift „Studio Antiquitatis Omnigeniae“ auf dem Museum sollte schließlich auch auf das Schloss rückwirken: Das Studium der Altertümer jeglicher Herkunft sollte die Gleichwertigkeit der Kulturen der Welt betonen, das Haus mit institutionalisierter Weltoffenheit gegen den Verdacht des Nationalismus impfen. Dass ausgerechnet dieser Einfall die erbittertsten Kolonialismus-Vorwürfe der deutschen Museumsgeschichte auslösen sollte, ist da nur eine zeitgenössische Volte mehr. Immerhin zeigte damit der Ort, der als symbolische Mitte der Bundesrepublik beschworen wurde, wie sehr die Mitte unter Druck geraten ist, wenn gerade der linksliberale Universalismus von zwei Seiten gleichzeitig attackiert wird – wobei die eine tendenziell am liebsten alle Artefakte in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurückführen würde und die andere halt die Menschen. Keinesfalls vergleichbar? Das Humboldt-Forum könnte ein ganz passender Ort sein, um auch einmal über die Dialektik identitärer Purifizierungsgelüste zu debattieren.
Eine Woche vor Eröffnung macht der Bau also niemanden richtig glücklich und das, was darin geplant ist, die meisten ratlos. Nach Berliner Erfahrungen sind das geradezu ideale Bedingungen für Zukünftiges. Gerade kontaminierte und inhaltlich gescheiterte Bauten werden in Berlin als kulturelle Kondensationskerne geschätzt. Wo schon in NS-Hochbunkern und stalinistischen Heizkraftwerken getanzt, geliebt und Kunst gezeigt wurde, muss einem auch um die Potenziale eines neu errichteten Preußenschlosses nicht bange sein: Die Zeit der Nachnutzungen ist in Berlin regelmäßig die kreativste. Dass selbst ein drohender Abriss dabei noch beflügelnd wirken kann, hat an dieser Stelle der Palast der Republik schon gezeigt.
Peter Richter
Eine Version dieses Artikels erschien zuerst am 12.12.2020 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung