Gleich zweimal hat es in den vergangenen Wochen Aufregung um Statuen gegeben, deren Aufstellung in der Öffentlichkeit erst als feministisch apostrophiert wurde, um unmittelbar darauf als sexistisch verdammt zu werden. Beide Male war Nacktheit das Problem. Von darüber hinausgehenden künstlerischen Werten war zunächst in beiden Fällen wenig zu hören, was in Anbetracht der Klasse der Arbeiten vielleicht auch nicht verwundert. Aber gerade die Heftigkeit der Reaktionen macht die Sachen am Ende auch noch kunsttheoretisch hochinteressant.
Was war passiert?
In London wurde ein Denkmal der Bildhauerin Maggi Hambling zu Ehren der Schriftstellerin und Philosophin Mary Wollstonecraft aufgestellt, die bereits 1792 mit „A Vindication of the Rights of Woman“ ein Manifest der Frauenrechte vorgelegt hatte. Was Spott und Empörung auslöste, war die Tatsache, dass dabei aus einem wolkigen Strudel von Formen die Statuette einer nackten Frau emporschießt wie eine Rakete aus dem Rauch. Kurz zuvor war bereits eine Statue zum Ärgernis geworden, die vor dem New Yorker Gerichtsgebäude aufgestellt wurde, in dem die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein verhandelt wurden. Der Bildhauer heißt Luciano Garbati, sein Werk „Medusa mit dem Haupt des Perseus“, und es zeigt im Prinzip das Gleiche, was einst Benvenuto Cellini bei seinem „Perseus mit dem Haupt der Medusa“ auf der Piazza della Signoria in Florenz gezeigt hatte, nur umgekehrt: Statt nacktem Jüngling mit Schwert und Medusenhaupt sieht man nun eine nackte Frau mit Schwert und abgehauenem Männerkopf. Nun ist 2020 nicht 1554, und Garbati ist fast noch eindeutiger kein Cellini. So wurde aus einem der berühmtesten Werke der Renaissance durch einen emanzipativ gemeinten Akt der Umkrempelung (Garbati wollte die arme, zu Unrecht zum Monsterdasein verurteilte Medusa rehabilitieren) ein gigantischer Nackedei, der wie ein Racheengel aus einem Sexploitation-Film in New York herumsteht.
Ihrer etwas simplen Drastik wegen hatte es die schon ein paar Jahre alte Arbeit im Zuge der „Me Too“-Kampagne zu einiger Online-Popularität gebracht. Dass Garbati die Frau der Kampagne nun aber so plump vor die Tür gestellt hat, kann man trotzdem als ungeschickt bezeichnen. Dass es ausgerechnet eine junge nackte Frau sein musste, ausgerechnet von einem Mann, all das rief in zahlreichen Kommentaren keine Begeisterung hervor.
In jeder Beziehung ungeschickt könnte man auch die steife Aktfigur auf dem Denkmal für Wollstonecraft nennen. Angesichts der Kritik, die deswegen jetzt auf sie einprasselt, wäre die Bildhauerin Maggi Hambling jedenfalls besser beraten gewesen, sich an das zu halten, was der Kunsthistoriker Ernst Gombrich einmal als die Londoner „Mantel-und-Hosen-Schule für öffentliche Denkmäler“ bezeichnet hat. Denn genau das wird jetzt meist für Hamblings Statue gefordert: Etwas Anständiges zum Anziehen! Eine Gruppe, die sich generell gegen die „Zurschaustellung“ weiblicher Körper starkmacht, hat ihr zuletzt ein schwarzes T-Shirt übergestülpt. Das ist eine bemerkenswerte historische Volte, und zwar nicht nur mit Blick etwa auf die Schamtuch-Maler, die im Zuge der Gegenreformation der Freikörperkultur der Renaissance zu Leibe rückten.
In dem Text von Gombrich ging es nämlich darum, dass gerade aus Kunstwerken, die in neuplatonischer Tradition Ideen verbildlichen sollen, nicht immer zwangsläufig das herausgelesen wird, was der Künstler ursprünglich hatte zum Ausdruck bringen wollen. Sein Beispiel war der Brunnen auf dem Piccadilly Circus, der den Londoner als „Eros-Brunnen“ bekannt sei, schließlich tanze da oben ein nackter Bronze-Knabe mit Pfeil und Bogen. Außerdem galt der Platz seit jeher als Pforte zu einem berühmten Vergnügungsviertel. In Wahrheit feiert der Brunnen allerdings den Philanthropen Lord Shaftesbury. Weil aber der Bildhauer Alfred Gilbert ein Gegner der zugeknöpften „Mantel-und-Hosen-Schule“ war, wollte er das mildtätige Wesen Shaftesburys lieber in sinnlicher Symbolik darstellen – durch eine Personifikation der Liebe, allerdings einer anderen Art von Liebe, als Londons Nachtschwärmer später meinten. Nur ist auch diese Personifikation, war auch dieser Gott der Liebe, wie so viele Personifikationen und antike Funktionsgötter, traditionell nackt. Selbst wenn die Götter dabei Schamtüchlein, Rüstungsteile oder Flügelschuhe tragen, ist das letztlich nur identifikatorische Lingerie auf betont realitätsfern geformten Traumkörpern. Von der Antike über die Renaissance bis in alle Neoklassizismen hinein dienten derart idealisierte Akte in der Kunst als Ausdrucksträger eher literarischer Gedanken und Werte.
Maggi Hambling nun sieht sich ganz klar in dieser Linie. Sie gehört nur leider nicht in diese Liga.
Die Liga, der Hambling angehört, ist dafür eine eigene und hat im Grunde nur Platz für sie selbst: Die 75 Jahre alte Dame gilt als selbst für englische Verhältnisse eigenwillig. Sie bezeichnet sich selbst als „lesbionisch“, malte lange bevorzugt Tote, was ihr den Spottnamen „Maggi coffin Hambling“ eintrug, was einerseits Sarg-Hambling heißt, andererseits auch wie „hustende Hambling“ klingt: Politisch hat sie sich den Briten als leidenschaftliche Aktivistin gegen Nichtraucher-Gesetze in Erinnerung gebracht, unter anderem in einem Fernsehinterview, bei dem sie sich weigerte, den Mund zu öffnen, sofern sie nicht rauchen dürfe. Ein Denkmal für Oscar Wilde vor dem Londoner Bahnhof Charing Cross erregte die Gemüter nicht nur wegen seiner bizarren Form: Ein eher karikaturenhaftes Bronzeporträt des Dichters schnellt da tatsächlich seitlich aus einem Sarg, der gleichzeitig Passanten als Sitzbank dienen soll. Für Ärger sorgte auch die Zigarette, die er dabei in der Hand hält beziehungsweise hielt; sie wurde mehrmals abgesägt und irgendwann nicht mehr ersetzt. Nach einem Denkmal für Benjamin Britten in Form einer vier Meter hohen Metallmuschel an einem zuvor als recht idyllisch geltenden Strand in Suffolk ist dasjenige für Mary Wollstonecraft nun die dritte öffentliche Arbeit, die vom Fleck weg Proteststürme auf sich zieht. Hambling ficht das alles nicht an, wie sie vergangenes Wochenende dem Guardiannoch mal versicherte. Sie habe schließlich keine Statue vonWollstonecraft geschaffen, sondern eine fürsie, nicht diese spezielle Frau sei hier nackt abgebildet, die Nackte sei eine Feier der Frau an sich. Aber das hilft nichts, wenn schon in dem gleichen Blatt gleich mehrere Kolumnistinnen erbost das üppige Schamhaar der kleinen Statuette ins Visier nehmen. Rachel Cooke spricht von „Blumenkohl“, Kollegin Rhiannon Lucy Cosslett schimpft über den „Busch“.
Hamblings Kollege Garbati in New York traf interessanterweise eine genau entgegengesetzte Kritik: Hier wurde deutlich das Fehlen von Schamhaar als problematische Zurichtung von Körpervorbildern moniert. Es brachte Garbati nichts, auf eine nun schon einige Jahrtausende alte Tradition hinzuweisen, nach der bei idealisierender Nacktheit eine Darstellung der Genitalien eben aus Rücksicht aufs Große und Ganze eher ausgespart wird oder stark verkleinert erfolgt. Es brachte ihm schon deshalb nichts, weil er unter der Latte, die er sich selbst mit Bezügen auf die abstrahierende Klassik recht hoch gelegt hat, genauso kläglich unten durch gerannt ist wie in London Maggi Hambling: Seine Medusa steht so plump naturalistisch in der Welt, als hätte er seine Lieblingstrainerin aus dem Fitnessstudio überredet, ihm zu posieren. Hamblings hochtönend konzipierte Ode an die Weiblichkeit wiederum macht den Eindruck, als hätte ihr irgendeine Nachbarin Modell gestanden, der das schon währenddessen peinlich war.
Wer aber auf ideale Nacktheit aus ist, darf nun mal keine konkreten Menschen nötigen, sich auszuziehen: Diese Lektion ist eigentlich wirklich bekannt. Selbst Rubens, heute Synonym für scheinbar lebensnäheste Fleischlichkeit, hatte immer empfohlen, lieber antike Statuen abzuzeichnen. Exakt dafür sind die schließlich über Generationen hinweg zu derart übernatürlich schönen, derart unnatürlich perfekt proportionierten Traumfiguren ausgeformt worden, dass sich am Ende selbst die Schneider daran orientierten, damit wir Irdischen wenigstens angezogen dem Ideal irgendwie mal nahekommen.
Wenn aber die klassische Tradition heute nicht einmal mehr denen geläufig ist, die sich auf sie berufen, wenn sie öffentliche Denkmäler zusammenpfuschen, dann muss einen erst recht nicht wundern, wenn die zu Recht enttäuschten Kritikerinnen – zum Beispiel eben im Guardian– auf die Idee kommen, namhaften Männern wäre die zweifelhafte Ehre so einer Nacktdarstellung gewiss nicht zuteil geworden. Hier könnte höchstens eingewendet werden, dass Männer bereits früher damit durch waren. Dass Andrea Doria, der Seefahrer, einst sogar selber darauf bestanden hat. Dass sowohl Karl V. als auch Luther sich durch herkulische Aktdarstellungen zumindest geschmeichelt fühlen durften. Dass Napoleon sich zwar zierte, aber von Canova überredet werden konnte. Und dass der deutsche Kaiser Friedrich früh genug tot war, um sich für sein nacktes Reiterdenkmal in Bremen nicht mehr schämen zu müssen. Aber in Deutschland, wo die Opposition der Bildhauer gegen die „Mantel-und-Hosen-Schule“ immer schon stark war, sieht man oft genug auch Schiller wie einen verirrten Sauna-Gast im Schneeregen stehen.
Der Klassizismus mit seinem hohen Ton war bei der Konfrontation mit schnödem Alltag immer schon für Pointen gut. Die, die sich hier jetzt abzeichnen, laufen zum einen darauf hinaus, dass der heilige Ernst einer idealistischen Gesinnung offensichtlich nicht mehr mit idealistischer Ästhetik kompatibel ist, weil die naturgemäß quer zu aktuellen Stichworten wie „Body Positivity“ stehen. Zum anderen ist offensichtlich das Aufstellen von neuen Denkmälern schwieriger und unbefriedigender als das derzeit beliebte Stürzen von alten. Und was das Letztere wiederum betrifft, dürfte der neue Ruf nach Mänteln und Hosen konsequenterweise eigentlich auch vor Männern, die nackt im Stadtraum herumstehen, irgendwann nicht mehr haltmachen. Von Minderjährigen, die nackt auf Brunnen herumturnen, ganz zu schweigen.
Das klingt also neben all dem Ärger immer auch recht heiter so weit. Aber in Gombrichs Text über den Eros vom Piccadilly Circus steht irgendwo auch der schöne Satz: „Bekanntlich haben Leute schon über Tragödien gelacht, wenn sie sie für Parodien gehalten haben.“
PETER RICHTER
Eine Version dieses Artikels erschien zuerst am 20.11.2020 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung