Die Gelbe Gefahr

 

 

Sian Green aus England, 23 Jahre alt, hatte sich dermaßen auf ihre erste Reise nach New York gefreut, dass sie auf ihrer Instagram-Seite einen Countdown runterzählen ließ. Die Bilder, die das untermalten, waren die üblichen Sehnsuchtsbilder von New York: Wolkenkratzer, Straßenschluchten, Yellow Cabs. Und dann kam das alles tatsächlich ein bisschen schnell und anders als geplant auf sie zu. Gleich an ihrem ersten Tag, auf dem Gehweg vor dem Rockefeller Center, wird Green von einem Taxi über den Haufen gefahren, dem Teilzeit-Model wird ein Bein abgetrennt. Der Fahrer, ein junger Mann aus Bangladesch, war die Sixth Avenue hochgerast, hatte einen Fahrradboten bedrängt, dieser hatte nach New Yorker Art dem Taxi mal kurz zur Besinnung mit der Faust auf den Kotflügel geklopft, das wiederum brachte den Fahrer in Rage, „Road Rage“ heißt das in Amerika, es gibt in den Fahrschulen extra Lehrfilme dagegen, er gibt jedenfalls Gas, schneidet den Fahrradkurier, verliert die Kontrolle, fliegt über eine Betonabsperrung und fährt Sian Green die Beine weg.

Das ganze wäre nicht mehr als eine tragische Lokalnachricht – wenn es nicht in jeder Hinsicht so absolut und deprimierend typisch wäre. Eines der weltweit bekanntesten Wahrzeichen New Yorks, das gelbe Taxi, ist in einer ernsthaften Krise, diese Krise hat eine ästhetische Ebene, eine wirtschaftliche, eine soziale, eine ökologische und eine, die mit dem Wunsch nach Unversehrtheit von Leib und Leben zu tun hat. Und diese Krise erzählt auch etwas über die frappierende Umwertung aller Werte in einer Stadt, der ihre Werte eigentlich heilig sind.

Es hat hier zum Beispiel einmal Zeiten gegeben, als man sich ein Taxi rief, weil einem das Laufen zu unsicher war. Heute ist das Laufen unsicher wegen der Taxis. So hoch die Häuser, so gelb die Straßen – die Yellow Cabs haben sich in die Ikonografie der Stadt eingebrannt, seit ihnen in den Sechzigern, der guten Sichtbarkeit wegen, ihre Farbe verpasst wurde. Überforderte und übermüdete Fahrer ohne Ortskenntnisse gehörten zwar auch schon zum Gesamtbild, seit in den Siebzigern vor allem Immigranten, den als gefährlich geltenden Job übernahmen. Heute kann man schon froh sein, wenn man nur eine ständig nach hinten guckende Plaudertasche erwischt, wie sie Armin Müller-Stahl in Jarmuschs „Night on Earth“ spielte, oder eine zwar tickende, aber dem Geschehen wenigstens aufmerksam folgende Moralbombe wie Robert de Niro in „Taxi Driver“. Und nicht jemanden, der, mit den Gedanken noch ganz in Dhaka zu Hause, während der Fahrt in seinem winzigen Navigationssystem herumhämmert, um den Weg von der 10. zur 20. Straße zu finden, und auf Höhe der 15. dann die Nerven verliert.

Robert de Niro saß aber auch noch in einem Checker Car, Armin Müller-Stahl in einem Chevrolet. War es ein Caprice? Ein bisschen betagt war das Modell, aber: geräumig. Die bedauernswerten Bangladeschis hingegen sitzen eingepfercht in absurd engen und auch absurd unansehnlichen Vehikeln, wo es überhaupt kein Wunder ist, dass sie die Nerven verlieren. Chauffeure von Stretch-Limos, die nun wirklich einen schwierigen Job haben, hat man noch nie die Nerven verlieren sehen.

Kleinwagen machen rammdösig, und schlechtes Design macht schlechte Laune. Fahrern wie Passagieren. Das sind psychologische Binsen. Trotzdem werden jetzt zum großen Ärger vieler New Yorker die Ford Crown Victorias allmählich ausgemustert, die letzten Yellow Cabs, die noch die Form von Limousinen hatten. Und viele empfanden die bei ihrer Einführung schon als Freiheitsberaubung. (Was auch damit zu tun haben kann, dass die Polizei damit herumfuhr.) Manche von denen erzählen einem heute noch, wie sie Jahre lang die Fords durchfahren ließen und zusahen, dass sie eins der letzten Checker Taxis kriegten, das klassische New Yorker Yellow Cab. Das war ein Auto, das von der Checker Motors Corporation in Michigan mit den zwei wesentlichen Maßgaben „lange Laufleistung“ und „maximaler Passagierkomfort“ gebaut wurde. Als es irgendwann den Achtzigern zum Opfer fiel, war in Manhattan das Wehklagen gewaltig. Schlafen, Drogen einnehmen, Sex: Nichts, wozu ein Taxirücksitz traditionell gut war, sei jetzt noch möglich. Immerhin konnte man aber noch sitzen. Das hat sich dann in den Bloomberg-Jahren auch noch geändert. Wer heute nach einem Achtstundenflug auf dem

JFK International Airport landet, kann froh und dankbar sein, bei den ein bis zwei Stunden Passkontrollen die Beine ein bisschen ausschütteln zu dürfen. Bis man in Manhattan ist, sitzt man nämlich noch einmal ein bis zwei Stunden auf einem Platz, der es schafft NOCH enger zu sein, als in der Economy Class, die Knie schmerzhaft an einen Bildschirm gepresst, aus dem in Endlosschleife Jimmy Kimmel seine öden Witze brüllt. Es unter solchen Umständen natürlich absolut kein Wunder, wenn der arme Mann aus Bangladesch vor einem zielsicher in die absehbarsten Staus hineinsteuert und dort einnickt. Er hat zu dem Zeitpunkt schon 13 Stunden Schicht hinter sich, die Lizenzen kosten inzwischen schon mehr als eine Million Dollar, und irgendwie muss das Geld ja wieder reinkommen.

Diese Autos heißen Ford Escape und werden nach den beiden Maßgaben „Hybridantrieb“ und „maximale Unbequemlichkeit für die Passagiere“ hergestellt; in Deutschland kennt man sie dementsprechend eher als Mikrotransporter von kleinen Blumenhändlern. New Yorker sind Enge zwar aus ihren Wohnungen gewohnt, aber gleichzeitig dürfen sie beobachten, wie um sie herum alle Autos kontinuierlich zulegen. Nur die Taxis werden, bei steigendem Fahrpreis, immer klaustrophobischer. Wenn aber ein Mini Cooper inzwischen schon geräumiger ist als ein New Yorker Taxi, dann darf sich irgendwer verschaukelt fühlen. Die Ford Escapes haben offensichtlich die Aufgabe gehabt, die ästhetischen Hemmschwellen noch weiter zu senken: Noch in diesem Jahr beginnt ihr Austausch gegen den NV200, das „Taxi of Tomorrow“, das von Nissan unter der Maßgabe hergestellt wird, Fahrgäste sich vollständig wie herumgekarrte Blumentöpfe vorkommen zu lassen. Dieses groteske Fahrzeug hatte sich in einer öffentlichen Abstimmung gegen ein noch groteskeres aus der Türkei durchgesetzt. Dass die Taxis in New York in Zukunft nicht mehr an herkömmliche PKWs erinnern sollen, war gewissermaßen aber auch die Wettbewerbsvorgabe.

Das Ergebnis kann man sich nur so erklären, dass die New Yorker aus Fatalismus abgestimmt haben oder auch aus Boshaftigkeit gegenüber Touristen. Sie selber haben sich, wo sie können, von Yellow Cabs längst abgewandt und rufen sich, zum Beispiel noch aus der Passkontrolle am JFK, lieber ein schwarzes. Black Cabs sind keineswegs illegal, sie sind nur eben in der Regel schwarz lackiert, sehen also gleich mal gefälliger aus. Man nennt sie auch Livery Cabs, livrierte Taxis, und das trifft es auch. Sie verhalten sich zu einem Yellow Cab wie ein britischer Butler zu einem tja: Tagelöhner aus Bangladesch. Es fängt damit an, dass man, meistens, ein Lincoln Town Car bekommt, für amerikanische Verhältnisse praktisch ein Rolls-Royce. Der Fahrer ist in der Regel entsprechend entspannt und „laid back“, spricht fließend die beiden Landessprachen Spanisch und Englisch, kann tatsächlich Auto fahren und kennt sich in der Stadt auch aus. Aber das Beste ist: Es ist viel, viel, viel billiger als jede Kamikazetour in einem Yellow Cab.

Das ist eines der lebenspraktischen Paradoxe, die sich in den letzten Jahren durch den Bedeutungsverlust Manhattans gegenüber den anderen Boroughs ergeben haben. Die Livery Cabs stammen noch aus einer Zeit, als „New York“ für New Yorker, die was auf sich hielten, und für Touristen sowieso ausschließlich Manhattan (bis maximal Ende Central Park) hieß und alles andere als Schlaf- und Raufplatz der Minderbemittelten galt, wo Yellow Cabs überhaupt nicht erst hinfuhren. Die Livery Cabs, die man telefonisch bestellt, waren pure Notwehr.

Jetzt haben sich die Verhältnisse aber gedreht. Inzwischen ist Brooklyn schick, teuer, hat die bevorzugten Wohn- und Ausgehviertel, und Teile von Harlem oder Queens, sogar der Bronx ziehen kräftig nach.

Das bringt nun die Situation mit sich, dass sich hier etwas etabliert hat, das weniger kostet, aber wesentlich wertiger ist als in Manhattan. Die Freude darüber, dass man jetzt immer häufiger auch mal einen gelben Blumentransporter mit Taxi-Schild obendrauf vollkommen verloren durch eine Hafengegend wie Red Hook irren sieht, hält sich deswegen in überschaubaren Grenzen. Es ist aber zur Zeit eine der heißesten Diskussionen in der Stadt: Sollen Livery Cabs in den Bezirken jenseits von Manhattan in ein Apfelgrün umlackiert werden und Fahrgäste vom Straßenrand aufsammeln dürfen, was bisher das Privileg der Yellow Cabs ist?

Das Geschäft ist in die Fläche gewachsen, und muss nun neu verteilt werden.

Im Kern stehen sich gegenüber: Ein überwiegend hispanischer Chauffeurs-Adel aus der Peripherie, der Winkende nicht mitnehmen darf, einerseits. Und auf der anderen Seite die Besitzer der rollenden Sweatshops voller ostasiatischer Arbeitssklaven, die wie Motten die Lichter von Midtown umkurven.

In den Bars von Brooklyn kann man dazu gelegentlich auch schon den nicht ganz untriftigen Vorschlag hören, dass stattdessen mal lieber Manhattan die Yellow Cabs durch Anruf-Limousinen ersetzen sollte. Jeder hat heute ein Handy. Taxi-Apps sind eh im Kommen. Der Verkehr wäre automatisch flüssiger, wenn die Taxis nicht mehr auf der ständigen Ausschau nach Kunden zwischen den Spuren herumeiern würden. Die New Yorker müssten nicht mehr mit flatternden Hitlergrüßen die Avenuen säumen. Und auf dem Rücksitz eines Lincoln Town Car ist immer noch Platz für jede Sauerei.

Für die armen Fahrer aus Bangladesch (oder woher auch immer) müsste und würde die Gemeinschaft irgendwie aufkommen.

Der Unglücksfahrer, der mit seinem Toyota die Beine von Sian Green zermalmte, hat jedenfalls danach erklärt, dass Autofahren wirklich nichts für ihn sei. Er wolle sich jetzt einen anderen Job suchen. Es gibt also Hoffnung.

 

Peter Richter

 

Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien zuerst am 7./8. September 2013 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung

, ,