Mein Besuch bei Sonny Rollins in Woodstock

Wer Sonny Rollins besuchen will, besuchen darf, den „Saxophon Colossus“, die letzte noch amtierende Original-Gottheit des BeBop aus den Jazzkellern von Harlem: Der muss zunächst einmal New York City hinter sich lassen. Der muss den Weg nehmen, den zuvor schon Bob Dylan genommen hat und die Leute von The Band, unter anderen, der muss also links am Hudson hoch in die Wälder von Woodstock, of all places. Dort wohnt Sonny Rollins, jetzt 83 Jahre alt, nämlich.

Nun ist Woodstock keineswegs ein schlechter Ort zum Wohnen, gerade für Künstler, im Gegenteil, es gilt immerhin als Künstlerkolonie, selbst ein Jazzfestival hat es dort schon mal gegeben, 1981, mit Chick Corea und Pat Metheny. Aber insgesamt und international steht Woodstock trotzdem eher für Folk und für Rock sowie natürlich für Janis Joplin und die Doors, für Schweiß und Regen, Matsch und Liebe, für die Wassergeburt einer ganzen Generation bei jenem Festival, das damals, 1967, zwar 100 Kilometer weiter weg stattfand, aber trotzdem, so schamlos wie heute die Provinzflughäfen von Ryanair, nach dem nächst namhafteren Ort benannt ward. Noch weiter weg von Woodstock – dem tatsächlichen Woodstock, das aber ebenfalls bis heute zu 89,99 Prozent weiß ist (US Census 2010) und zu 100 Prozent langhaarig (habituell jedenfalls) – kann eigentlich nur ein Jazz-Saxophonist der Klasse von Sonny Rollins sein.

Oder etwa nicht?

Das wäre so eine der Fragen, die zu klären wären, wenn man ihn besuchen fährt.

Rollins wohnt wirklich im Wald, abseits der Stadt, rundrum nur Bäume. Das Haus ist eher neu als alt, eher normalamerikanisch als besonders bemerkenswert, und auf der Schrankwand gegenüber vom Kamin liegt ein Alpenhorn aus der Schweiz, von dem Rollins sagen wird, dass man auch so ein Ding erst einmal spielen können muss.

Er hat sich, für den Fotografen, ein prächtiges rotes Gewand angelegt, Haar und Vollbart strahlen in einem majestätischen Weiß. Er wirkt dadurch ein wenig wie Santa Claus, ein wenig wie ein Hohepriester, und für Menschen, die Jazz lieben, ist er ja auch eine Mischung aus beidem. Aus diesem Bart heraus nun wird man das Wort Woodstock nur als Seufzer hören.

Woodstock, sagt Rollins, sei eigentlich eher ein Abtörner gewesen. (Sagt er tatsächlich so: „somewhat of a turnoff“.) „Weil die Leute sich dann Gedanken machen – so wie Sie gerade: Was ich jetzt neuerdings mit Jimi Hendrix zu tun habe. Und ob ich jetzt einen Haufen Pot rauche.“ Die simple Wahrheit hingegen sei diese: Der Ort ist schön, das Haus, in dem er jetzt seit einem Jahr lebt, ist bequemer als sein voriges, und er hatte etwas in der Nähe von dem Ort gesucht, an dem er vierzig Jahre lang mit seiner Frau glücklich gewesen war. Das war auf der anderen Seite des Hudson River, in einem Nest mit dem Namen Germantown. Woodstock ist eine Metropole dagegen.

Ist aber Jazz, ganz besonders sein Jazz, nicht die urbanste Musik von allen und ohne die Straßen New Yorks eigentlich gar nicht vorstellbar? Und hat nicht Jazz, ganz besonders seiner, sogar sehr kräftig mit an dem Bild gemalt, das man von der sagenhaften Urbanität New Yorks heute so hat? Dieses berühmte Foto, auf dem er, Rollins, als junger Mann nachts auf der Williamsburg Bridge sein Saxophon spielt, allein über dem Moloch…

Alles korrekt, alles richtig, sagt Rollins. Deswegen sei es ja so ein Glück gewesen, mitten in Harlem aufzuwachsen, wo alles losging, und wo er schon mit Miles Davis spielen durfte, als er noch gar nicht volljährig war. Aber auch der erhabene Anblick eines nächtlichen Saxophonspielers hoch über dem East River hat halt seine Ursachen in den eher prosaischen Seiten der Urbanität: Mietskasernen, Nachbarn, Enge, Lärm. Und warum sollte ein erfolgreicher, gut verdienender Jazz-Musiker in den Sechzigern auf den Niedergang der Stadt, auf die Gewalt und die Kriminalität, so viel anders reagieren als die weiße Mittelschicht, also mit Stadtflucht?

Rollins und seine Frau suchten nach etwas Ruhigen auf dem Land und blieben schließlich ganz. Der These, dass er die Williamsburg Bridge schlicht durch die Waldeinsamkeit ersetzt hat, stimmt er entschieden zu: Es ging um das Alleinsein mit sich und seinem Instrument. Dies ist die Bedingung für das Üben („Früher jeden Tag, heute nur noch jeden zweiten“), und das Üben ist wiederum die Bedingung für die Fähigkeit zum Improvisieren („Viel üben und am Ende immer noch ein bißchen Platz lassen für das reine Spielen!“). Aber die eigentliche Musik, die wird dann trotzdem noch in der Stadt gemacht, zusammen mit den anderen, mit Leuten wie Steve Jordan, Victor Lewis, Bobby Broom oder Pete Bernstein. Für diese Sessions fuhr Rollins, wie ein Berufspendler, immer noch mal in die City. Mit ihnen hat er nun noch einmal eine neue Platte aufgenommen, die heißt „Road Show Vol. 3“ und ist der Grund, warum die Audienz überhaupt gewährt wird. Dafür waren jetzt allerdings nicht mehr besonders viele Fahrten vonnöten, es ist ein Livealbum, es beginnt mit einem frenetischen Applaus und versammelt Konzertmitschnitte aus den letzten dreizehn Jahren.

Abgesehen von einer etwas populistischen Stelle, an der bekannte Kinderliedmelodien beackert werden, kann man nicht sagen, dass man dem Werk die ländliche Umgebung seines Autors anhören würde. Es ist erwachsener, intellektueller Jazz, der eher nach aufgedrehten Hydranten in einer heißen Straße klingt als nach Pferdekoppel und Baumharz. Man hört, soweit man so etwas hören kann, dass Rollins Abgeschiedenheit schätzt, auch in künstlerischer Hinsicht: Wer schon mit dem Folkrock von Woodstock nicht viel zu tun haben will, wird in Germantown erst recht nicht zum Squaredance gegangen sein: „Die Leute da oben waren nicht von der Sorte, die besonders viel mit Jazz-Musikern aus New York anfangen können. Und exakt das war für mich sehr in Ordnung.“

Es sind Äußerungen wie diese, die den Weg mit dem Auto hier hoch nach Woodstock zum Aufstieg auf einen dieser Gipfel machen, auf denen die weisen alten Mann hocken und einem sagen, was das Richtige ist.

Es ist nämlich so, dass es im Moment wieder ziemlich viele Leute aus New York in die kleinen Käffer links und rechts vom Hudson zieht, jung, oft mit Vollbart, meistens ist ihnen die Stadt zu viel und zu teuer geworden, und fast immer nennt man sie Hipster, obwohl kaum einer noch sagen kann, was das eigentlich heißt und heute noch bedeutet.

Wenn hier nun einer wirklich einer helfen kann, dann müßte das, tja: Sonny Rollins sein, denn der war schon ein Hipster, als der Begriff erfunden wurde, in den Vierzigern und Fünfzigern, weil jemand, der damals strengen HardBop spielte statt Gute-Laune-Swing, eben automatisch hip war, auf dem Laufenden und in Kenntnis über den Ernst der Lage, die Künste, den Stil, das Leben betreffend.

Meister Rollins also spricht: „Kennen Sie Lawrence Welk? Nein? Naja, der war wirklich populär damals, ein Bandleader, das war das sozusagen safe Musik, das war das, was das ganze Land gehört hat. Und dann kam Elvis Presley – wer Elvis Presley ist, wissen Sie aber schon?“ Kurze Pause, erhobene Brauen, böser Sonny Rollins, dann: „Just checkin’.“ Niedergeschlagenen Auges nimmt man die Lektion entgegen: Den Mainstream von damals kennt kein Mensch mehr, das radikale Zeug wird Allgemeingut.

Mit Frau und Instrument aufs Dorf ziehen und dort von den Leuten in erster Linie in Ruhe gelassen werden wollen: Das kann man natürlich ein bisschen stieselig finden oder arrogant oder sozial unterkühlt. Der Begriff, den Männer wie Rollins damals aufbrachten, war positiver, er lautete: cool. „Lester Young! Der hat den erfunden; jetzt sagt jeder dauernd: cool.“ Das Wort geistert heute als einziges vielleicht noch inflationärer, verwaschener, unschärfer durch die Gegenwartskultur als „hip.“

Auch hier darf man dankbar sein, in Rollins eine Originalquelle zur Verfügung zu haben, einen der letzten Veteranen, für die diese Haltung noch ein Akt des bürgerrechtlichen Widerstands war: höfliche Distanziertheit.

Was das heute praktisch heißt, zeigt sich am ehesten, wenn man mit Sonny Rollins auf die Art von Musik zu sprechen kommt, die eher für das Gegenteil steht, für alles, was sich mit Woodstock verbindet, die Musik, die schließlich populärer wurde als der Jazz, der fiebrige, verschwitzte, der ostantativ uncoole Rock.

Rollins sagt, er möge und begrüßte im Prinzip alle Musik. Aber er lässt auch keinen Zweifel daran, wo er im Vergleich den Jazz sieht: ganz oben. „Jazz ist das Dach, unter dem all das andere seinen Platz hat, auch Rock.“

Nun ist es so, dass er es war, der mit den Rolling Stones einst eine Platte eingespielt hat, und er würde schon auch sagen, dass er sich bei der Sache eher den Stones angepasst hat als umgedreht. Aber das bestätigt ja vielleicht auch nur seine Wahrnehmung des Hierarchiegefüges. (Denn wenn die Berliner Philharmoniker sich mit den Scorpions zusammentun, wird aus einer Rockballade ja auch keine Sinfonie, sondern nur „Wind of Change“ mit noch mehr Wind; die rustikalere Musik hat sozusagen immer das bestimmende Aroma.) Rollins erzählt hierzu nun eine Geschichte. Sein Zahnarzt hier im Ort: die Wände voll mit Beatles-Bildern. „Das sind seine Helden. Während ein Mann seines Alters und seiner Sensibilität aus Harlem eher Fotos von Charlie Parker und Dizzie Gillespie an den Wänden hätte. Man weiß nun, dass die Beatles ihrerseits Jazz mochte. Die Frage ist nur: Mochte Jazz auch die Beatles?“ Er, Rollins, könne das nicht beantworten. Er, wie gesagt, liebe oder respektiere ja alle Arten von Musik und finde privat auch „Michele – ma belle“ ein feines Lied. Er singt es zum Beweis. Aber die Botschaft, kann man so sagen, ist angekommen.

Wir müssen dann auch über Drogen sprechen, denn das war ja nun nicht nur ein Problem der Woodstock-Generation. Jazzmusiker, das war einmal ein Synonym für Kiffer. („Die Gesellschaft hatte uns ohnehin zurückgewiesen. Wir daher: Ok, kein Problem, das hier ist UNSER Leben, habt IHR Euers, raucht nicht, tut dies nicht und jenes, wir hingegen tun das alles, jeder macht seins, alles ist fein.“) Und Sonny Rollins war auch einmal auf dem Zeug, an dem Janis Joplin und Jim Morrison eingegangen sind: Heroin. Er selbst hat sich davon schließlich befreit, selbst vom Rauchen, „weil ich kein Sklave sein will“, auch nicht von Zigaretten oder Drogen.

So wird am Ende eines Gespräches, das mit Jazz in den Wäldern von Woodstock begann, auch noch Philip Seymour Hofmann ein Thema, der Schauspieler, der vielleicht auch noch an diesen Punkt gekommen wäre, wenn er nicht an einer Überdosis gestorben wäre. „Dreckiges Heroin? Der Punkt ist, der war noch nicht so weit, mit den Drogen aufzuhören. Was soll man sagen. So ist das nun mal. Künstler nehmen Drogen, weil sie der Eintönigkeit des Alltag entkommen wollen, weil sie glauben, daß so ihre kreativen Säfte fließen. Es ist schwer, ihn dafür zu kritisieren.“ Abgeklärtheit auch in solchen Dingen ist offenbar die lebenspraktische Anwendung von Cool.

Sonny Rollins, 83 Jahre alt, Saxophon-Koloss, in seinem Lieblingssessel schaut gelassen: Sonst noch Fragen?

Ja, eine: Was ist mit der Droge des 21. Jahrhunderts? Was ist mit denen, die sich mit adventistischem Furor ins Internet stürzen? Was mit denen, die alles Digitale boykottieren? Beides keine Haltungen, die als cool bezeichnet werden können, oder?

Oder, anders herum: Wie überaus cool wiederum ist denn bitte eine Ratio von 15000 Followern auf Twitter – und nur einem, dem Sonny Rollins seinerseits folgt?

„Ich habe keine Ahnung, was das sein soll: ein Follower.“

„Sie folgen einem gewissen Jazzvideoguy.“

„Oh yeah, der Jazz video guy! Das ist der Dokumentarfilmer Bret Primack, der macht meine Webseite. Gemeinsam mit meinem PR-Menschen arbeitet der an meinem public image auf Facebook und Twitter und so weiter.“

Kleine rhythmische Pause. Schließlich, wie die Kadenz am Ende eines Titels: „Ich versuche mich von alldem so fern zu halten, wie ich kann.“

 

„Road Show Vol. 3 erscheint am 6. Mai bei Okeh (Sony).

 

Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 2.Mai 2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.

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