Heute wieder Lebensreform

Man muss nicht zu der Sorte Mensch gehören, die sich in ihrer Freizeit ins Universum einschwingt, um sicher sagen zu können, dass es zur Zeit nirgendwo darin einen Ort geben dürfte, der weniger nach spirituellen Sinnsuchern, Aussteigern und Kommunenleben aussieht als Ascona am Lago Maggiore in der Schweiz. Die Atmosphäre an der Uferpromenade wird vielmehr bis heute völlig dem gleichnamigen Mittelklasse-Opel aus den Siebzigern gerecht, und die Häuser an den Hängen sehen immer noch aus wie auf dem berühmten Plakat von Klaus Staeck („Deutsche Arbeiter, die SPD will Euch Eure Villen im Tessin wegnehmen.“) Oben glänzt der Schnee auf den Alpen wie die Sahne auf der Torte, unten gluckert schwarz der See, und wenn man zwischendrin Angela Merkel beim Urlauben hier träfe, würde es einen nur deshalb wundern, weil es schon deutlich teurer ist als in Südtirol; allerdings: Adenauer war auch schon da.

Der Augenschein spricht jedenfalls nicht dafür, dass Ascona vor hundert Jahren einmal der Woodstock, Ibiza und Goa in einem gewesen sein soll. Aber gleich zwei neue Bücher erzählen gerade noch einmal die Geschichte von der Deutschen Ida Hofmann und dem Belgier Henri Oedenkoven, die im Jahr 1900 genau hier auf einem Hügel, den sie Monte Verità nannten, eine Kommune für Proto-Hippies, Aussteiger und spritiuelle Sinnsucher gründeten. Und von den Brüdern Karl und Gusto Gräser, die damals schon so aussahen, wie man sich solche Leute heute noch typischerweise vorstellt mit ihren langen Bärten, ihren langen Haaren, ihren flatternden Bußgewändern. Die Bücher erzählen davon, wie heftig vor allem aber Gusto den anderen schon bald auf den Wecker gehen sollte mit der Selbstgewissheit seines weltensagenden Gebarens. Von Vegetariern, Ausdruckstänzern, Sonnenanbetern erzählen sie – und vom Sonnenbrand, der natürlich auch ideologisch ein Problem war für die Nudisten aus dem Norden. Von politischen und sexuellen Anarchisten berichten diese Bücher. Von all den Dichtern, die das anzog und gleichzeitig abstieß. Und von den pendelschwingenden Anhängern der Madame Blavatsky, deren sogenannte Theosophie bei Leuten, die sich für feinfühliger hielten als den Rest der Welt, damals ungefähr die Rolle spielte, die sieben Jahrzehnte später der habituelle Gesamtzusammenhang aus Lavalampen, Haschischkrümeln im Flokati und den Weisheiten von Carlos Castaneda einnehmen sollte.

Es ist, wenn man so will, die Geschichte von Achtundsechzigern, die 68 Jahre vor 1968 schon ähnliches wollten, ähnliches nicht wollten, ähnlich redeten und verblüffend ähnlich aussahen. Es ist vor allem ein typologischer Vorschein auf jenen Flügel der Achtundsechziger, der aus dem Politischen ins Psychologische abbog und statt des Marschs duch die Institutionen oder gar in die RAF lieber einen in Landkommunen und Selbsterfahrungssekten und manchmal auch nur auf die Matten von Tantra-Therapeuten antrat. Bodo Morshäuser hat dieser Szene mit dem Roman „In seinen Armen das Kind“ einst ein eher beklemmendes Denkmal gesetzt. (Säuselnde Berliner Heilpraktiker müssen die Kommunen ständig mit ausbeutbarem Nachwuchs versorgen…) In diesen Büchern jetzt geht es um die Enthusiasten, die dem Fabrikantensohn Oedenkoven unentgeltlich das Privatgrundstück auf dem Berg umgruben, und sie lesen sich ebenfalls wie Romane. Das eine ist von dem Journalisten Peter Michalzik und heißt „1900 – Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies“ (Dumont Köln). Das andere, schon zum letzten Winter erschienen, heißt „Monte Verità 1900 – Der Traum vom alternativen Leben beginnt“ (DVA München) und stammt von dem Lektor Stefan Bollmann. Und auf die Frage, welches der beiden Bücher zum gleichen Thema nun vorzuziehen wäre, kann man seriös nur antworten: beide.

Bollmann schürft ein bisschen mehr in der Tiefe der Phänomene, etwa wenn er die Bedeutung, die der Vegetarismus damals gerade für Feministinnen hatte, mit einem Exkurs in die patriachalische Sonntagsbraten-Kultur erklärt, die im Zuge der Industrialisierung erst ihre erstickende Präsenz erhalten habe. Er schaut am Ende auch weiter darüber hinaus und skizziert, wie über Hermann Hesse plus Timothy Leary die Ideologie und über ausgewanderte Eremiten wie den Sachsen Wilhelm Pester wohl sogar auch der Jesus-Look der Hippies als ursprünglich deutschsprachiger Kulturexport nach Kalifornien kamen, bevor sie ab den Sechzigern von dort zurückwirkten. Ansonsten herrscht aber auch bei ihm im Wesentlichen das große historische Präsens, mit dem Michalzik in klarer Anlehnung an die Struktur von Florian Illies’ Bestseller „1913“ eine Art Telenovela vorantreibt, in der jede Menge Stars vorkommen, von Tolstoi bis Käthe Kruse, und noch mehr phänotypisch unterhaltsame Nebenfiguren: pathetische Heilands-Darsteller, die auf ihre Anhänger erhebend wirken und auf andere erheiternd, Frauen, die ihr emanzipatorisches Heil ausgerechnet im Harem autoritärer Egozentriker suchen, Zurück-zur-Naturburschen aus Industriellenfamilien…

Dass das jetzt in so einer Breite im Buchhandel ausgerollt wird, vollzieht vielleicht nur den Weg nach, auf dem es auch die anthroposophisch erzeugten Eier und die Kurkuma-Pasten aus den Reformhäusern in die Regale von Lebensmitteldiscountern geschafft haben. Denn auch bisher hatte es an Literatur zur Lebensreformbewegung mit all ihren Abgründen und Verästelungen beileibe nicht gemangelt. Nur hatte die immer etwas von eifersüchtig gehütetem Geheimwissen. Es war fast, als kaufe da ein okkulter Orden alles Material über sich selbst vorsichtshalber vom Markt; vor allem Ausstellungskataloge waren grundsätzlich vergriffen und antiquarisch oft nur für obszöne Summen zu haben.

Das galt lange auch für den Katalog zu der Wanderausstellung, die der Schweizer Kurator Harald Szeemann ab Anfang der Siebzigerjahre in Ascona erarbeitet hatte: „Monte Verità – Die Brüste der Wahrheit“. Dass diese Schau letztes Jahr in Oedenkovens alter Villa als Dauerausstellung rekonstruiert wurde, ist ein großes Glück und alleine schon die Reise wert. (Siehe SZ vom 17.6.2017) Auch den Katalog gibt es dort nun wieder. Den kann man dann bequem bei einem schönen Wurstfrühstück, einem strammen Drink oder einer Zigarre auf der Terrasse des eleganten Hotels durcharbeiten, das sich ein ehemaliger Bankier des deutschen Kaisers Ende der Zwanzigerjahre vom Modernisten Emil Fahnekamp auf den Berg setzen lassen hatte – und das sich zu dem ursprünglichen Geist dort oben ungefähr so verhält wie der bessere Herr, der in Thomas Manns „Beim Propheten“ erst fasziniert einem dieser glutvollen Asketen lauscht und danach essen geht „wie ein Wolf.“

Die Wahrheit ist, dass dieser ganze Wahrheitsberg heute mit einer Saturiertheit über der Stadt hängt wie Hamburg-Blankenese oder Dresden-Loschwitz über der Elbe. Vielleicht ist das einfach das Schicksal alter Bohème- und Künstlernester. Selbst auf dem Hügel von Haight Ashbury in San Francisco kann man zwar manchmal noch Leute herumlaufen sehen, die zumindest vor sich selber offen halten, ob sie noch den Summer of Love nachspielen oder schon ganz normal obdachlos sind; aber wenn wirklich was nach Janis Joplin ca. 1967 aussieht, dann ist es im Zweifel auch dort heute von Gucci.

Bemerkenswert ist daran nicht nur die Regelmäßigkeit, mit der das einst Antibürgerliche ins geradezu Turbobürgerliche umschlägt. Bemerkenswert ist auch die Regelmäßigkeit, mit der diese Ursprünge dann aus sicherer Entfernung memoriert und gefeiert werden. Die ewigen Wiederkünfte der Flower-Power-Mode sind das eine, und der Designer Alessandro Michele, der dieses alte Kräuterteebeutelchen jetzt wie gesagt für die Luxusfirma Gucci noch einmal mit verblüffendem Erfolg ins Wasser hängt, wird sicher nicht der letzte sein – ein junger Mensch übrigens, der selbst ausschaut und daherredet, als würde er gern um 1900 auf dem Monte Verità nackt nach Mohrrüben graben und meditieren. Die Frage ist aber, wie das mit der genauso ewigen Wiederkehr des Interesses an den Lebensreformern von Ascona korreliert – und mit der sonderbaren Ballung von thematisch Vergleichbarem zur Zeit: Der große, jedenfalls in Amerika viel diskutierte Serienhit auf Netflix ist in diesem Jahr „Wild Wild Country“, wo sich der Zuschauer entscheiden muss, ob er zu den moralisch herausgeforderten Bauern im ländlichen Oregon hält oder zu den orangefarbig Erleuchteten, die sich in der Kommune nebenan einer Grinsekatze namens Baghwan in den Schoß werfen – etliche übrigens sehr buchstäblich, etwa Ma Anand Sheela, die als Margot Honecker des Baghwanismus aus dem Exil in der Schweiz ­bis heute auf die Reinheit der Lehre und die Lehre der Reinheit pocht. Seit einem Jahr und noch bis diesen August tourt eine Ausstellung mit dem Titel „Neue schwarze Romantik“ durch Europa (letzte Station ist Prag), die ein eher ironisches Interesse der Gegenwartskunst am Okkultismus behandelt, während anderseits gerade auch eine sich selbst durchaus ernstnehmende Welle der Druiden, Schamanen und ästhetischen Heilpraktiker durch die Galerien rollt. Und Christian Krachts letzter gelungener Roman handelte von einem Lebensreformer, der zumindest am Monte Verità vorbeigeschaut hatte, bevor er sich selbst als Führer einer Sekte versuchte, einer Kokosnuss-Sekte in der Südsee, was nicht so gut funktionierte, aber durchaus den historischen Tatsachen entspricht.

Das Phänomen lässt sich immer dann beobachten, wenn boomende Industriegesellschaften in eine Art seelischer Midlife-Crisis schlittern. So war das im Deutschen Reich um 1900, in den USA der Sechziger, und was das für uns heute heißt, das kann man so oder so interpretieren. Denn die Selbstpathologisierung, die diesen Behauptungen von Heilungsbedarf notwendig vorausgeht, ist kühl betrachtet immer auch ein ganz erfreulicher Wirtschaftsindikator. Dass so vieles, das als radikale Alternative zum Leben in den Wohlstandsinseln des Westens in Stellung gebracht wurde, dort inzwischen zu den bürgerlichen Statussymbolen zählt, vom Nichtrauchen, Nichttrinken und Nichtfleischessen bis zur Achtsamkeitsmeditation, ist vielleicht gar nicht das schlechteste, was sich darüber sagen lässt. Und dass auf dem Monte Verità der direkter Weg in die Welt der Motivationsseminare schon angelegt war, wird evident, wenn man sich bloß vorstellt, barfuß durch den Kiefernwald dort tanzen zu sollen.

Da, wo diese Dinge nicht ganz so sonnig im liberalen Kapitalismus aufgehen, sind sie am Ende fast noch problematischer. Denn es führen von der Lebensreformbewegung auch durchaus sinistre Stränge quer durch das Age of Aquarius ins heute, ein mystisch dräuender Antimodernismus, den man vielleicht nicht aus dem Blick verlieren sollte bei all der Begeisterung für die beseelten Naturfreunde. Denn sonst reiben sich alle erschrocken die Augen, wenn wie neulich im „Tatort“ vom völkischen Okkultismus rechtsdrehender Biobauern die Rede ist. Oder wenn die aktualisierte Beuys-Biografie von Hans Peter Riegel in diesem Frühjahr des Meisters Verbundenheit zu ähnlich trüben Strömungen offengelegt wird. Man könnte das differenzierter sehen als die, die daraufhin entweder „Nazi!“ geschrien haben oder „Blasphemie!“. Aber dafür müsste man vielleicht aufhören, sich dem Mann immer nur im kritiklosen Gestus der Guru-Verehrung zu nähern. Ähnliches gilt übrigens auch für Beuys’ Mentor, den großen Mythen-Liebhaber Szeemann.

Auf der anderen Seite hat es nämlich auch nichts geholfen, die Dämonen einfach zu ignorieren, wie das Beispiel des Jugendstilkünstlers Hugo Höppener zeigt, der Fidus genannt wurde und als Konkurrent von Gusto Gräser seinen eigenen Monte Verità im „kiefernfrischen Osten von Berlin“ betrieb, erst in Friedrichshagen, dann in Woltersdorf, wo er fortwährend das erfolgreichste Postkartenmotiv des Wilhelminismus reproduzierte, einen sonnenanbetenden Nackedei, der mit seinen erhobenen Armen allerdings in Wahrheit die damals von rechtsradikalen Theosophen sogenannte Lebensrune nachstellt. Fidus’ am Ende selbst den Nazis zu schwärmerische Germanentümelei hat den einst omnipräsenten Illustrator zu einer obskuren, verdrängten Gestalt gemacht. Als der Kulturwissenschaftler Janos Frecot, der im Eindruck des Geists von 1968 an einer ersten großen kritischen Fidus-Biografie mitgearbeitet hatte, seine dabei erworbene Büchersammlung zur Lebensreformbewegung einer deutschen Biobliothek überlassen wollte, traute sich keine einzige ran aus Angst vor den politischen Kontaminationen. Zugegriffen hat dann die Universität Stanford, wo sie heute als erweiterte Vorgeschichte des utopischen Geists im Silicon Valley wertgeschätzt wird.

Es ist in den Weiten des Universums nun wieder kein Ort vorstellbar, der in jeder Hinsicht weiter von der Universitätsbibliothek Stanford entfernt wäre als die Alte Schule in Woltersdorf bei Erkner, wo der örtliche Verschönerungsverein vor ein paar Wochen eine rührende kleine Ausstellung zu Leben und Werk von Fidus eingerichtet hat. Es ist aber immer noch die größte, die es zu ihm gibt. Das ist absolut ehren- und sehenswert. Man rechnet nur leider jederzeit damit, das gleich auch Björn Höcke mit einer Exkursion empfindsamer Gesinnungsgenossen reingeschneit kommen könnte.

Vielleicht sollte es trotzdem eher noch mehr zu diesen Dingen geben, größere Ausstellungen, noch mehr Bücher, wenn der Westen seine Wohlstandswelten nun einmal dermaßen nah am Mystizismus gebaut hat. Vielleicht sollte man sie nur nicht unbedingt den Aposteln und Apolegeten überlassen. Vielleicht wären sie bei kritischen, akademischen, erleuchtungsresistenten Rationalitäts-Spießern sicherer aufgehoben. Denn es sieht ganz so aus, als ob das Präsens in den Büchern von Bollmann und Michalzik nicht nur ein Mittel der Vergegenwärtigung wäre, sondern ganz einfach die adäquate Zeitform für ein Thema, das seinen Wiedergeburten nun einmal nicht entrinnen kann.

 

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst im Juli 2018 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung