Raffaels mit Reifen

Giugiaro, Gandini, Fioravanti: mit diesen Namen hatte ein heranwachsender Mensch in den Siebzigern und Achtzigern im Prinzip fast schon alle Trümpfe in der Hand, die das Autokarten-Quartett hergab. Er wusste nur möglicherweise nichts davon, weil die Namen der Autos, die diese Männer entworfen hatten, noch viel klangvoller waren. Sie lauteten De Lorean DMC-12, Lamborghini Miura oder Ferrari 308. Dass letzterer Tom Selleck in „Magnum“ als Dienstwagen diente, während der De Lorean in „Zurück in die Zukunft“ sogar sogar Raum-Zeit-Kontinuum überwinden konnte, machte diese Wagen nur noch phantastischer. Wo die Arbeiten dieser drei zusammenkamen, fehlte eigentlich nur ein Wagen aus der Feder von Pininfarina oder Bertone, den Altmeistern, um das Quartett vollzumachen; die waren dann im Zweifel sehr schön, was man von den anderen nicht immer sagen konnte, denn hier lautete das richtigere Wort: aufregend.

Das waren praktisch alles Superstecher. Und der Umstand, dass man sie damals tatsächlich als „super cars“ bezeichnete, als Über-Autos, enthob sie gewissermaßen ganz offziell allen billigen Begehrlichkeiten: So etwas wollte gar nicht unbedingt direkt nach der Führerscheinprüfung im tristen Straßenverkehrsalltag besessen werden, so etwas wollte in andächtigem Abstand anbetet sein wie die Sixtinische Madonna. Oder angestaunt wie die Sixtinische Kapelle.

Nun ist Giorgetto Giugiaro am heutigen Dienstag zu seinem achtzigen Geburtstag zu gratulieren und Marcello Gandini etwas später diesen Monat, am 26. August, während Leonardo Fioravanti bereits im Januar achtzig wurde. Man könnte sagen, dass 1938 ein besonders glücklicher Jahrgang war. Vielleicht ist das Zufall, vielleicht aber auch nicht. Manchmal ballen sich ja die Ausnahmetalente. Für das italienische Autodesign sind die Sechziger- und Siebzigerjahre offensichtlich die Entsprechung zur der Zeit um 1500 in der italienischen Kunst, als sowohl Raffael wie Michelangelo alt genug waren, um gegeneinander anzutreten, wobei unter kulturhistorisch interessierten Petrolisti noch diskutiert wird, wer in dieser Analogie am ehesten wem entspräche.

Vielleicht ist es so, dass Giugiaro der Raffael unter den dreien ist, der etwas harmonischeren Linien wegen und auch wegen des besonderen Talents zur intimeren, familiäreren Form: Immerhin hat er auch Meisterwerke der Kleinwagen-Kunst geschaffen, den Golf I, den Fiat („tolle Kiste“) Panda, und neulich erst ein Verbot von Autos über 4,50 m Länge gefordert. Gandinis Entwürfe haben dagegen tatsächlich etwas eher Michelangeleskes, Gewaltsameres, Radikaleres, etwas von äußerem Ausdruck innerer Energien. Sie verhalten sich generell zu Giugiaros ungefähr so wie der Manierismus zur Renaissance. Fioravanti wäre so gesehen dann so etwas wie der Sebastiano del Piombo zwischen den beiden, und die Vorväter Bertone und Pininfarina müssten bitte unter sich ausmachen, wer der Giotto und wer der Masaccio der goldenen Ära des italienischen Autodesigns war.

Es sind jedenfalls hier auch alle Topoi da, die man aus den alten Künstlerlegenden kennt: Geschichten von Werkstatttreue, genialem Bruch, Kämpfen um und mit Auftraggebern, privater Bescheidenheit: Ist selber in einer Familie ohne Automobil aufgewachsen (Giugiaro); hat privat lediglich einen Mitsubishi Colt in der Garage stehen (Gandini).

Nicht zuletzt gibt es aber auch die Geschichten erbitterter Konkurrenz.

Das fing damit an, dass Gandinis erster Versuch, in der Design-Werkstatt von Bertone anzuheuern am Widerstand Giugiaros gescheitert sein soll, der bereits als 17 Jahre altes, zeichnerisch hochbegabtes Wunderkind seinen Weg zu Fiat gefunden hatte und ab 1959 für Bertone im Akkord Klassiker von heute schuf: den BMW 3200 CS, den Maserati 5000 GT, den Iso Grifo. Erst als Giugiaro 1967 ging, weil er sich von Bertone ausgebeutet fühlte, bekam sofort Gandini den Job.

Und es hört bis heute nicht auf, weil immer noch über die Frage gestritten wird, ob der wundervolle Lamborghini Miura, der immer als erster Großerfolg Gandinis bei Bertone gilt, auch wirklich von Gandini ist. Gandini beteuert: absolut. Giugiaro behauptet hingegen, ungefähr siebzig Prozent stammten von ihm, die Pläne habe er bei der Kündigung auf dem Schreibtisch liegen lassen.

Wenn man sich dem Fall mit dem kunsthistorischen Besteck der Händescheidung nähert, kann man allerdings ins Grübeln geraten. Die geschwungenen Linien des Miura machen Giugiaros Ansprüche zumindest nicht ganz unplausibel. Sollte doch Gandini Recht haben, dann wäre es jedenfalls ein denkbar harter Stilwechsel, als er den Nachfolger Lamborghini Countach zeichnete, und zwar offensichtlich ausschließlich mit Hilfe eines Lineals und eines Teppichmessers. Wenn man sich zum Beispiel mit Lehrern der deutschen Fahrzeugdesignschule in Pforzheim darüber unterhält, wann eigentlich die automobile Neuzeit begann, dann verweisen sie gern auf die Erstpräsentation dieses – tja, Auto kann man es eigentlich kaum noch nennen, wenn das, was es davor gab, auch schon Auto hieß. 1973 war das, mitten in der Ölkrise, und ein Teil der Antwort, die der Countach auf die damals einsetzende Fortschrittsskepsis gab, bestand darin, dass er demonstrativ nur eine Richtung kannte, nach vorne, während der Blick zurück schon durch die ganze Architektur dieses fahrenden Faustkeils verunmöglicht wurde. (Wer damit ernsthaft rückwärts einparken wollte, musste die Scherentüren öffnen und von der Türschwelle aus irgendwie rausschauen.) Wenn man von „Italian Wedge Design“ sprach, vom italienischen Keil-Design, dann war der Countach der Inbegriff davon, auch wenn Gandini mit dem Lancia Stratos 1970 bereits einen Keil entworfen hatte, der speziell den Fahrern des Porsche 911 wie eine Kehrschaufel unter den Hintern fahren sollte. Und: die Scherentüren! Giugiaros DeLorean hatte Flügeltüren, eine deutsche Erfindung, die allerdings an Biene Maja denken ließen, sobald daneben Gandini seinen Alfa Romeo Carabo oder eben den Countach die Türen nach schräg oben klappen ließ, bis sie an ausgefahrene Waffensysteme erinnerten, sofern sie sich nicht krachend ins Dach der Tiefgarage bohrten.

Beide, Giugiaro wie Gandini, haben währenddessen immer auch sogenannte Vernunftautos in die Welt geschickt. Giugiaro – nachdem er die Ingenieure in Wolfsburg beim ersten Abtasten mit Fachfragen zur Anzahl der geplanten Schweißpunkte und dergleichen für sich eingenommen hatte – den VW Golf, den Passat und den Scirocco. Gandini hat einen Renault 5 entworfen, und für die, die sich den Lamborghini nicht leisten konnten, hat er dessen angeschnittene Hinterräder beim Familienauto Citroen BX zumindest zitiert. Und später noch einmal beim Maserati Quattroporte IV, der schon wieder deutlich eckiger, geradliniger, keilförmiger aussah als das Vorgängermodell – eine Arbeit von Giugiaro.

Die beiden scheinen Zeit ihres Lebens als These und Antithese um einander herumgearbeitet zu haben wie vor ihnen nur Caravaggio und Carracci oder Bernini und Borromini. Auftraggeber wie BMW müssen sich vorkommen sein wie die Päpste, die damals künstlerisch hemmungslos aus dem Vollen schöpfen konnten. Beide Italiener haben mal für die Münchner gearbeitet. Aber interessanterweise war hier Gandini für die vergleichsweise familienfreundlich geschnittene erste Ausgabe des 5ers verantwortlich, von Giugiaro stammte der flunderartige M1.

„Lambo Limbo“ nennt man das gewöhnlich, wenn mal wieder ein Supersportwagen unter der geschlossenen Schranke eines Parkhauses durchgepasst hat. Aber ab den Siebzigern machte es tatsächlich den Eindruck, als hätte da in Norditalien generell ein Limbo-Wettbewerb zwischen den Designbüros getobt: Wer kann weiter in die Knie gehen, wer kriegt den Körper flacher, wer noch bodennäher?

Dass von Leonardo Fioravento da immer erst zuletzt und am wenigsten die Rede ist, liegt einzig daran, dass die anderen beiden so riesiges Portfolio an grundverschiedenen Kunden und Autotypen angehäuft haben, während Fioravento vom Start weg für die Firma Pininfarina und dann auf eigene Kappe Ferraris entwarf. Gleich der erste Entwurf, für den legendären Daytona 365, in nur einer Woche und ohne Auftrag entstanden, hatte Enzo Ferrari überzeugt. Warum dann wechseln? Fioravanti mag die weniger abwechslungsreiche Karriere vorweisen, aber er hat mit seinen Entwürfen am Ende vieleicht noch mehr Jugendzimmer tapeziert und noch mehr Erwachsene mit Spindbildern zum heimlichen Anhimmeln versorgt als die beiden anderen zusammen.

Alle drei sind auch mit achzig noch elegant angezogene Signori, die viel zu tun haben, zum Teil Häuser entwerfen oder über Elektromobilität nachdenken, während die großen Zeiten des italienischen Autodesigns allgemein als vorbei gelten, die Firma Bertone längst pleite ist, auch Giugiaro seine Designfirma inzwischen lieber an VW verkauft hat, aber trotzdem nachwievor davon redet, dass Verkehrsmittel über ihre Attraktivität verkauft werden müssten, gerade die ökologisch Ambitionierten. Die drei Herren feiern ihren Achtzigsten nun allerdings zu einer Zeit, in der dem ästhetisch Ambitionierten auf den Straßen keine große Rolle mehr zugedacht wird, in der BMW und Mercedes den öffentlichen Raum unter dem Begriff Car Sharing mit ihren jeweils am wenigsten attraktiven Vehikeln möblieren, und in der eine stattliche und laute Anzahl von Leuten Wert auf die Feststellung legt, dass rasant geschnittene Automobile für ihr Leben eine ähnlich große Relevanz haben wie Madonnengemälde und Marmorgrabmale. Trotzdem bleibt die Botschaft vom Ende des Autos aufs Ganze gesehen bisher eher normativ als deskriptiv, eher eine Hoffnung als ein Fakt, und auch die wird nicht einmal von allen gleichermaßen euphorisch geteilt. Jedenfalls halten mitnichten alle Anwohner eine von Autos befreite Straße automatisch für eine Verbesserung ihrer Lebensqualität. In Bologna, einer dieser norditalienischen Städte, die seit der Renaissance an heroischen Skulpturenschmuck gewohnt ist, gibt es seit diesem Frühjahr eine Bürgerinitiative, die vehement für die Rückkehr von Autos auf die Piazza Verdi eintritt. Im Moment säßen dort Nacht für Nacht trinkende Jugendliche auf dem Pflaster, lärmten und raubten den Leuten den Schlaf. Ausgerechnet ein paar Lamborghinis, Ferraris und Alfa Romeos könnten dort mit anderen Worten für stille Andacht und Nachtruhe sorgen – zur Not auch als Denkmal einer aussterbenden Kulturtechnik. Sie müssten dazu ausdrücklich gar nicht mal fahren. Rumstehen und schnell aussehen reicht schon.

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 7.8.2018 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung