Mitteldeutsch

Mit dem Beginn des Mittagsläutens hatte sich der Trauerzug in Bewegung gesetzt, und als die Glocke in der Dorfkirche zum Ende kam, war die Urne bereits, mit Blumen bestreut, einen Meter unter der Erde. Denn die Friedhöfe sind überschaubar im Erzgebirge, da ist der Weg von der Kapelle zum Grab nicht weit. Dafür geht der Blick über flache Mauern weit ins Land und ist insgesamt von großer Tröstlichkeit, jedenfalls für die Hinterbliebenen. Zumal die Verstorbene, betagt wie sie war, nirgendwo anders die letzte Ruhe finden wollte und das Essen im Gasthof immer noch so gut und reichlich ist. Bei Soljanka, Forellen, Rouladen und Schnitzeln, letztere zum Teil mit Würzfleisch überbacken, wird nacher, wie es sich gehört, der Dahingeschiedenen gedacht und die Arbeit des Bestatters gewürdigt, der allerdings auch eine beeindruckende Erscheinung war mit seinem Zylinder, seiner goldenen Uhrenkette und seinem goldenen Gebiss. Als zum Nachtisch die Eisbecher mit Sahne aufgetragen werden, kreist das Gespräch längst um verjährte Affären und das Maß an Toleranz, das den Erzgebirglern seit jeher abverlangt worden sei, vor allem den Frauen: Wenn man bedenke, dass früher die Bauern hier nicht nur mit ihren Bäuerinnen Kinder hatten, sondern oft auch mit den Mägden. „Aber das war kein Problem, die wurden einfach mit untergebuttert.“

Es schadet nicht zu wissen, wie Butter eigentlich gemacht wird, um das zu verstehen. Heute begegnet einem das Wort ja seltener im Sinne von „unterrühren“, heute bedeutet „unterbuttern“ für viele eher „runtermachen.“

Auch wegen dieser Ambivalenz ist das natürlich ein Satz, der noch eine Weile nachhallt beim Verdauungsspaziergang über die sächsischen Höhen in diesem Sommer des integrationspolitischen Missvergnügens.

Und Verdauungsspaziergänge empfehlen sich eigentlich die ganze Zeit, wenn man ein wenig durch Sachsen reist in diesen Tagen. Weil es an Deftigem nicht mangelt, und weil es wirklich ganz schön schön ist – landschaftlich reizvoll, wie man in der Tourismuswerbung sagt, und generell ziemlich gut in Schuss dafür, dass sich das Land in einem Bürgerkrieg zu befinden scheint, bei der die eine Seite der Welt mit heruntergelassenen Hosen den Hintern zeigt und die andere lieber anonym bleiben will, wenn sie sich äußert.

Es geht damit los, dass irgendwo im Umland von Leipzig also eine namenlose Ärztin am Gartentisch sitzt, ins Grüne schaut und zu Protokoll gibt, dass ihr die Stimmung vorkomme als wäre es das Jahr 1932.

Dazu muss man sagen, dass das Grün bei Leipzig wie auch im Rest des Bundeslandes auf eine rätselhafte Weise noch wesentlich grüner zu sein scheint als anderswo, so als würde die Landesregierung hier morgens an jeden Zweig immer noch ein paar Blätter zusätzlich kleben. Man muss auch dazu sagen, dass nächstes Jahr hier eine Wahl stattfindet, von der im Moment nicht ganz klar ist, ob diese Landesregierung danach noch aus CDU und SPD wird gebildet werden können.

Das legt die Frage nahe, ob der Grund für dieses Gefühl von 1932 womöglich die in Sachsen besonders starke AfD sei.

„Oder die Identitären“, antwortet die Ärztin. „Oder mein Nachbar.“ Letzteres sagt sie so, als hoffe sie, dass der es nebenan in seinem Garten möglichst auch hört.

Denn eigentlich war es um Chemnitz gegangen, natürlich um Chemnitz. Auch im Umland von Leipzig geht es seit Tagen nur noch um Chemnitz. Seit beim Stadtfest dort ein Deutscher von arabischen Asylbewerbern mit Messerstichen getötet wurde – und seit den Hitlergrüßen bei den Protestmärschen, die darauf folgten. Seit die einen sich fragen müssen, ob ihnen wirklich jede Gesellschaft recht ist, um ihre Kritik an der deutschen Asylpraxis zu artikulieren. Und die anderen, wie man gegen so einen Protest protestiert, wenn man leider schon zu erwachsen ist, um „Alerta Antifascista“ zu singen beim Hüpfen und beim Ringelreihen.

Die Frau stammt nämlich aus Chemnitz. Der Rest der Familie lebt noch in Chemnitz, und am Vormittag hat sie sich noch mit dem Bruder gestritten, der von „radikalen Ausländern im Stadtzentrum“ geredet habe, von „NoGo-Areas in Sonnenberg und Hilbersdorf“, und davon, dass die Chemnitzer sich das jetzt nicht mehr gefallen ließen. Aber was ist der Riss durch die Verwandtschaft, wenn die nächsten Frontlinien schon am Gartenzaun verlaufen, wenn zwei Familien zur selben Zeit am selben Ort ihre Eigenheime bauen und dann feststellen, dass sie sich zueinander verhalten wie die Figuren in einem Wetterhäuschen. Der Nachbar halte wenig von Zuwanderern, speziell arabischen verrammele früh am Abend das Haus und warne seine Kinder vor den Killerclowns draußen im Wald, womit er, sagt die Ärztin, womöglich die berüchtigen Linksradikalen aus Leipzig-Connewitz meine. Sie hingegen sei grundsätzlich optimistisch und habe keine Angst, und zwar „vor niemandem“. Sie müsse aber zugeben, dass man mit den Linksradikalen aus Connewitz auch nicht so locker ins Gespräch kommt, „wenn man nicht gerade schwarz angezogen ist.“

Aber das würde tatsächlich nicht recht zu den farbenfrohen Einstellungen dieser Frau passen, die übrigens den Nachbarn durchaus einschließen. „Ich würde den gern mal einladen und betrunken machen“, ruft sie fröhlich und wiederum so, dass er es möglichst hört. Dann würde der mit Empfehlungen für die Kinderferienlager des sozialistischen Jugendvereins „Die Falken“ wieder nach Hause wanken, mit Geschichte aus der Anfangszeit der Leipziger WASG, das waren die Linksabweichler der SPD, die dann mit der PDS zusammengegangen sind. Er würde sich außerdem anhören können, wie das ist, wenn man Grillabende mit Flüchtlingen organisiert, am Ende aber allenfalls mit der Übersetzerin wirklich ins Gespräch gekommen ist. Denn diese Ärztin aus dem Umland von Leipzig ist nicht nur sehr selbstbewusst, sondern auch sehr selbstironisch. Bei allem, was sie sagt, wird immer, über den Tonfall, die Möglichkeit mit eingeräumt, dass es auch sie sein könnte, die falsch liegt, irrt, womöglich spinnt.

Aber es bleibt einem vielleicht auch gar nicht viel anderes übrig, wenn man nun einmal aus Sachsen kommt und dauernd mit diesem Dialekt dasitzt zwischen lauter Wessis, sogar an der Universität von Leipzig.

Es ist übrigens auch unter Leipzigern nicht ganz einfach, wenn man die singende Mundart der Gegend um Chemnitz spricht, die Fachleute sprechen von Vorerzgebirgisch. Oder das Ostmeißnische aus dem Raum Dresden. Denn Südwestosterländisch, wie unter Linguisten das heißt, was sie in Leipzig sprechen, ist viel, viel, viel weicher und melancholischer.

Außer bei dem Taxifahrer auf dem Weg zurück in die Stadt, nachdem einem die Ärztin noch die aktuelle Ausgabe des „Freitag“ in die Tasche geschoben hat, weil sich jeder nun einmal nur in seiner Blase informiere und das linke Wochenblatt „Freitag“ bilde halt die ihre. Dieser Taxifahrer klingt wie manchmal im Fernsehen die sächsischen Rentner, wenn sie Angela Merkel beschimpfen, nur mit den vielen Leipziger Baustellen in der Rolle der Bundeskanzlerin. Irgendwann schreit er mit rotem Kopf: „So! Jetzt mach ich erstmal die Uhr aus.“

Und auf die bange Frage, warum: „Soll ich den Fahrgast etwa für den Stau hier zahlen lassen?“

Am Ende würde man am liebsten mit diesem Mann durch das ganze Land fahren, statt selber mit dem Mietwagen, schon weil es nicht im Sinn der Verkehrsordnung ist, wenn man aller paar Minuten die Hände vom Steuer nimmt, um etwas zu fotografieren, einen Berg, eine Burg, ein Städtchen und was hier sonst noch alles so verdichtet auf einem Haufen steht als wäre Sachsen eine Modelleisenbahnplatte im Maßstab 1:1. Es sind die Tage, in denen alle, die einen Stift, ein Mikrofon oder eine Kamera halten können, nach Chemnitz rasen, um sich wie ein Ärztekongress über den chronischen Rechtsradikalismus in Sachsen zu beugen, während schon wenige Kilometer weiter alles dazu einlädt, eine ganz andere Geschichte zu erzählen: eine vom roten Königreich, vom Pionierland der Industrialisierung, der Wiege der Sozialdemokratie, und dann immer weiter runter in die Tiefen einer Historie, die glanzvoller war oder jedenfalls weniger umstritten als die Gegenwart, die schon optisch dazu oft in einem Verhältnis steht, das noch der Gewöhnung bedarf.

In Freiberg zum Beispiel, Kapitale des Kreises Mittelsachsen, wurde schräg gegenüber der Habibi Lounge, wo man an Wasserpfeifen nuckeln kann, ausweislich einer Gedenktafel am 1. März 1873 der Ortsverein der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegründet, deren Nachfolgerin heute noch den Bürgermeister stellt. Allerdings hat der zwischenzeitlich einen Zuzugsstopp für Flüchtlinge erlassen, als er die Stadt an die Grenzen ihrer Kapazität gekommen sah. Wenn es nachmittag wird in Freiberg, nehmen die jungen Männer aus den Heimen Platz zu Füßen des Denkmals auf dem Obermarkt, schauen in ihre Handies und reden aktuell nicht so gern, außer auf Arabisch, und schon gar nicht über Chemnitz. Drumherum kreisen die eingeborenen Freiberger und die Studenten der berühmten Bergakademie mit einer Geschäftigkeit als ob sie sich selbst und der Welt beweisen wollten, dass es auch noch andere Themen gibt in ihrem Leben. Oben auf dem Denkmal steht währenddessen das Standbild Ottos des Reichen und schaut als hätte er das auch alles mal so nicht kommen sehen.

Otto der Reiche hat die Stadt im 12. Jahrhundert gegründet, und das war wiederum der Grund, warum er so reich war, denn hier lag das Silber im Boden, das in der Geschichte Sachsens ungefähr die Rolle spielte, die bei den Nachbarn in Brandenburg die Soldaten innehatten. Diese Geschichte ist übrigens ebenfalls eine von Migrationen, und an ihrem Anfang steht ein Messer – nicht nur bei der Geschichte in Chemnitz wohlgemerkt, sondern bei der der Sachsen generell. Daher, heißt es, kommt der Name – vom sogenannten Sax, der typischen Waffe des Volksstammes, der da siedelte, wo heute Norddeutschland ist und der später dann auch in England für ein Süd-, West- und Mittelsachsen sorgte, heute bekannt unter den Namen Sussex, Wessex, Middlesex. Ziemlich viele Menschen, die das betreiten würden, sind im Grunde Sachsen, nur die, die heute so genannt werden, waren es eigentlich nicht. Die heißen nur so, weil der sächsische Fürstentitel eines Tages den Herrschern der Mark Meißen vermacht wurde, wo das Deutsche bis heute eigentlich eher eine Abart des Slawischen ist: Wer je einen Einheimischen Leipzig-Leutzsch aussprechen hören hat, ahnt, wofür das kyrillische Alphabet mit seinen vielen Zischlaute erfunden wurde. Im Freiberger Dom kann man etliche Grabmäler dieser Fürsten aus dem Hause Wettin besichtigen. Es ist eine sehr sehenswerte Kirche, wie auch Besucher aus dem Ausland im Gästebuch bestätigen: „tres belle èglise“ steht da. Oder: „Danke, lieber Gott, dass Du unseren Sohn von Krebs geheilt hast.“ An einer Stelle allerdings auch: „Lieber Gott, schütze uns vor den Türken.“ Es macht den Eindruck, als ob der Eintrag von 1683 stammt, als der hier begraben liegende Johann Georg III. mit half, die Belagerung Wiens zurückzuschlagen. Aber er ist dann tatsächlich von 2018. (Und im übrigen von einer Frau mit Doppelnachnamen, falls das bei der soziologischen Einordnung hilft.)

So vergangen ist die Vergangenheit am Ende eben doch immer nicht. Und es hilft vielleicht zu wissen, dass Wien und Warschau hier immer schon näher lagen als Berlin, wenn ein Politiker von „Pro Chemnitz“ gewissermaßen den Anschluss Sachsens an die Gruppe der Visegrad-Staaten um Ungarn, Tschechien, Polen, neuerdings auch Österreich fordert. Dass das Land auf Abwegen sei ist ja nicht nur ein Vorwurf aus der alten Bundesrepublik, es ist auch der Grund, warum bestimmte Leute von dort hierhergezogen sind.

Frank Böckelmann, der einst in München zu den Aktivisten der Studentenbewegung gehört hatte, findet, dass er heute in einem Altbau auf den Dresdner Südhöhen den optimalen Ort dafür gefunden hat, um den „Tumult“ herauszugeben, ein Magazin, in dem sich die professoralen Beiträger über die Gefahren von Islamisierung und linker Realitätsflucht sehr einig sind. Böckelmann ist jetzt 77 und gibt sich wie eine Kreuzung aus Oswald Spengler, der vor exakt 100 Jahren seine Thesen vom „Untergang des Abendlandes“ in die Welt entließ, und einem vergnügten Buddha. Dresden ist ihn offensichtlich so etwas wie der archimedische Punkt, von dem aus das liberale Selbstbild der Westdeutschen etwas Fernes und Skurilles bekommt. Er spottet über das selbstgefällige „Behagen an der eigenen Großzügigkeit“. Bei den Bewohnern der ehemaligen DDR sei das grundlegend anders. Bei ihnen habe sich eine

Aversion gegen das Aufdrücken von abstrakten Prämissen, Postulaten, Parolen entwickelt- damals „Volksgesundheit“ oder „Klassenbewusstsein“, heute „Buntheit“. „Was man ihnen dann vorwirft: Sozialneid, bornierte Angst, etwas zu verlieren, wenn andere reinkommen, denen man alles nachschmeiße, Wohnungen, Geld, Kindergeld – das tritt vielleicht hinzu. Aber der fruchtbare Boden, auf den solche schäbigen Gefühle fallen können, ist schon der Überdruss gegenüber großen Parolen.“ Der Sachse, erklärt er mit schwäbischem Zungenschlag, habe es satt, als Verfügungsmasse für Läuterungsideen behandelt zu werden. „Daher diese Widerborstigkeit, während viele Westdeutsche dergleichen als Stärkung ihrer Selbstwertschätzung erlebt haben. Das ist schon mal der ganz große Unterschied: das Fremdeln.“

Die Fähigkeit zum Fremdeln ist für Böckelmann aber schon länger ein zentraler Wert. Er wirft „unseren westdeutschen Kosmopoliten“ vor, die Fremden um ihr Anderssein geradezu zu betrügen, sie im Interesse des eigenen Selbstbildes gewissermaßen einfach wegzutolerieren. Im Osten sei man hingegen des Staunens und Erschreckens noch fähig.

So kann man die Vorfälle von Freital, Heidenau, Chemnitz etc. natürlich auch in Worte kleiden.

Am Abend in der Dresdner Neustadt, andere Elbseite, andere Welt, ist die Sicht auf dieselben Dinge drastischer.

In der Neustadt, dem Berlin-Kreuzberg von Dresden, sitzen an jenem Abend zwei Aktivisten der sogenannten Antifa, eine Mann und eine Frau, und erzählen, was sie an jenem Montag nach dem Mordfall in Chemnitz beobachtet haben: die Autos aus Frankfurt und Dortmund und Bremen. Mehr als dreißig handgezählte Hitlergrüße und soviel „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ wie seit den Neunzigerjahren nicht mehr. Sie haben, sagen sie, Kader vom III. Weg gesehen, „einer nationalsozialistischen Partei aus Bayern, die zur Zeit über Plauen nach Sachsen vordringt“ und Vertreter der Hooligantruppe „Berserker Pforzheim“ sowie der Chemnitzer Kameradschaft HooNaRa.

„Wie schreibt sich das?“

„HooNaRa: Hooligans, Nazis, Rassisten. So nennen die sich selber.“

Oder: die NS-Boys, eine ebenfalls politisch recht eindeutig zuzuordnende Fangruppe des Chemnitzer FC. Auch Tommy Frenck sei da gewesen, der Gastwirt aus Thüringen, bei dem am 20. April das „Hitlerschnitzel“ 8,88 Euro koste; das Who is who der Szene, viele mit Stichschutzwesten, etliche mit Mundschutz, „einer sogar mit Ritterrüstung.“

Die viel zu wenigen Polizisten dort hätten sich nach Lage der Dinge gar nicht so falsch verhalten, sagen die Antifa-Aktivsten. „Die hatten gar keine Chance, die Hitlergrüße zu unterbinden. Wenn die dagegen vorgegangen wären, hätten sie die Gegendemonstranten nicht mehr vor den Nazis schützen können, dann wären die durchgebrochen.“ Er selbst, sagt der Mann, habe einen der Neonazis zu den Polizisten sagen hören: „Geht einfach ein Stück zur Seite, wir machen den Rest“.

Die Polizeiführung habe mit Absicht zu wenig Leute geschickt, die Aktivisten unterstellen einen strategischen Hintergrund: Durch den Notstand sollten mehr Ressourcen erzwungen werden, mehr Personal und mehr Geld für die zusammengesparte Polizei.

Die beiden präsentieren das mit ruhiger Stimme wie eine Gutenachtgeschichte, die beim Erzählen immer bizarrere Blüten treibt. Sie wollten aber nur eines, sagen sie: Der Presse mal verdeutlichen, dass sie in Sachsen praktisch täglich umgeben sind von etwas, das die eigene Landesregierung stur leugne: stramm organisierte Strukturen von Rechtsradikalen. Und dass sie allein der Protest dagegen für die sächsischen Behörden schon zu Linksradikalen mache, denn „25 Jahre CDU-Regierung gehen an keiner Verwaltung vorbei.“

Beklemmend sei das, sagt die Frau, dauernd in so einem prinzipiellen Uneinverstandensein mit seiner Umgebung zu leben. Immer erst nach Berlin-Neukölln fahren zu müssen, um sich zu vergewissern, dass es auch Orte gibt, wo eine Mehrheit so denkt.

An dieser Stelle wirft ein Konzertveranstalter vom Nebentisch ein, dass ihm seine Dresdner Vorwahl bei der Arbeit inzwischen richtig peinlich sei angesichts der Lage; er erwäge, sich eine mit 030 zu besorgen.

Und einfach wegziehen?

Der Mann von der Antifa sagt, dass er die Landtagswahl 2019 abwarte. Wenn dann die AfD mit in die Regierung und in die Verwaltungen komme, werde es vermutlich Zeit.

Die Frau schüttelt mit großem Ernst den Kopf: „Und was ist mit denen, die hier bleiben müssen? Zum Beispiel, weil sie eine Wohnsitzauflage haben?“

Wahrscheinlich hat noch kein Bundesland so viele grundverschiedene Formen von Heimatbewusstsein hervorgebracht. Sie habe schon schlechtes Gewissen, in den Urlaub zu fahren, solange die Verhältnisse in Sachsen so sächsisch seien.

(c) PETER RICHTER

 

Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 7.9.2018 auf der SEITE DREI der Süddeutschen Zeitung.