Horzon vs. Wikipedia

Wer sich im Internet über Rafael Horzon erkundigen will, erfährt auf Wikipedia, dass er ein „deutscher Künstler, Unternehmer, Schriftsteller und Designer“ sei. Dagegen geht Horzon nun juristisch vor. Er möchte der Wikimedia Foundation Inc. untersagen lassen, ihn auf ihrer deutschen Website weiterhin als Künstler zu bezeichnen. Seine Anwältin sieht hier einen Eingriff in Horzons Persönlichkeitsrechte. Nachdem die Frist, die sie zur Unterlassung gestellt hatte, am vergangenen Freitag abgelaufen ist, will Horzon nun gerichtliche Schritte einleiten.

Das Verfahren dürfte in vielerlei Hinsicht interessant werden. Denn wenn einer sich hartnäckig dagegen wehrt, ein Künstler genannt zu werden, berührt das nicht nur die Frage, wer heute eigentlich die Definitionshoheit über sich und andere hat, es berührt nicht zuletzt den in seiner Geschichte verwickelten, oft exklusiv gebrauchten, oft auch wiederum ins Uferlose ausgeweiteten Begriff der Kunst selber. Während andere sich von so einer Bezeichnung womöglich geehrt und tief verstanden fühlen mögen, will Horzon nun einmal auf keinen Fall ein Künstler sein, Schriftsteller auch nicht, aber vor allem kein Künstler. Er hat es solange eigenhändig bei Wikipedia korrigiert, bis sie ihn dort gesperrt haben. Die Wikipedia-Autoren mit den Usernamen „Zollernalb“, „ChickSR“, „Offenbacherjung“ und „Designkritik“ wollten es jedesmal besser wissen und schrieben den Künstler wieder rein. Tatsächlich führt die Fußnote, die das belegen soll, zu einem Interview in der FAZ, in dem Horzon allerdings als „Unternehmer, Autor und Designer“ vorgestellt wird. Neben seinem wirtschaftlichem Hauptstandbein, dem Bau und Vertrieb von selbstentworfenen Regalen der Marke „Moebel Horzon“ hat es Horzons verschiedenen Ladenlokalen auf der Berliner Torstraße über die Jahrzehnte regelmäßig Neugründungen von kurzlebigeren Unternehmungen aller Art gegeben, vom Betrieb einer privaten Wissenschaftsakademie über eine Partnertrennungsagentur („Separitas“) bis zu einem Geschäft für „Wanddekorationsobjekte“, die formal eine gewisse Ähnlichkeit mit bekannten minimalistischen Kunstwerken aufweisen mochten, aber von Horzon eben nicht als Kunstwerke angeboten wurden, sondern eben als rein warenförmige Objekte zur Dekoration von Wänden – also etwas, das Leute, die sich tatsächlich als Künstler definieren, über ihre Arbeiten in der Regel eher ungern hören. Horzon hatte in seiner erfolgreichen Autobiografie „Das weiße Buch“, im Suhrkamp Verlag erschienen, selbst thematisiert, wie seine verschiedenen Unternehmungen dennoch immer sofort als Kunst rezipiert wurden, so als seien wirtschaftliche Erfolglosigkeit, ein ironischer Ton oder eben die Distanzierung von jeder Kunsthaftigkeit schon Belege genug dafür.

In juristischer Sprache trägt seine Anwältin nun im Prinzip noch einmal das gleiche vor: Ihr Mandant sei „weder künstlerisch noch als Schriftsteller tätig“, sondern eben als Unternehmer, Autor von Sachbüchern und Designer. „Eine Überschneidung in seinen Tätigkeitsgebieten mit der Kunst gibt es nicht. Insbesondere seine Tätigkeit als Designer ist nicht mit einer künstlerischen Tätigkeit gleichzusetzen. Design wird vielmehr in der Art bezeichnet, als dass es immer einen konkreten Zweck erfüllen soll, der Designer also als Dienstleister zu verstehen ist. Dies ist bei einem Künstler gerade nicht der Fall, da dieser vielmehr freischaffend und unabhängig von gebundenen Zwecken tätig wird.“ Horzon schaffe keine Kunst, sondern „Gebrauchsgegenstände.“ Er unterfalle daher weder der angewandten noch der gesetzlichen Definition eines Künstlers. Er habe sich zu keinem Zeitpunkt selbst so bezeichnet und seine Gegenstände nie in Galerien oder Ausstellungen präsentiert. Auch den vor dem Begriff des Schriftstellers nimmt sie ihn in Schutz, der gerade im deutschsprachigen Literaturbetrieb oft wie eine Anerkennung künstlerischer Ambitioniertheit entweder verliehen oder auch entzogen wird. (Oft heißt es zum Beispiel auf Buchmessen, dass dieser oder jener doch eher Journalist oder sonst etwas sei als wirklich ein Schriftsteller.) Fiktionale Bücher habe Horzon aber nie verfasst. „Als Verfasser von Sachbüchern und damit von Fakten und Wissen ist er vielmehr als Autor zu bezeichnen, um auch hier eine Abgrenzung von künstlerischen Werken klar darzustellen.“ Bei der Verwendung des Begriffs Schriftsteller „handelt es sich vielmehr um eine Falschbezeichnung, die von unserem Mandanten nicht hinzunehmen ist.“

Zur Zeit ist auf der Wikipedia-Seite zu Horzon trotzdem weiterhin von einem Künstler und Schriftsteller die Rede, dafür folgt wenig später der Zusatz: „Obwohl Horzon im künstlerischen Feld arbeitet, vermeidet er die Bezeichnung als Künstler. Er nennt sich selbst Unternehmer.“ So als sei gerade das ein Beleg. Auf einer einer früheren Version der Seite hieß es sogar: „Jeder, der sich mit dem Werk von Herrn Horzon detaillierter beschäftigt, erkennt unmittelbar, dass jemand, der mit dem Kunstbegriff und dem Begriff des Künstlers permanent kokettiert und sich selbst vordergründig absichtlich nicht als Künstler bezeichnet, natürlich ein Paradebeispiel eines Künstlers ist.“

Horzon wehrt sich gegen die Unentrinnbarkeit dieser Aporie mit der Bemerkung: „Als Beleg hat diese Behauptung ungefähr denselben Wert, als würde man auf dem Wikipedia-Eintrag von zum Beispiel Gerhard Richter die Bezeichnung ,Künstler’ löschen mit der Begründung, es sei ja offensichtlich, dass jemand, der ,sich selbst absichtlich als Künstler bezeichnet’, in Wirklichkeit KEIN Künstler ist.“

Wer nun auch immer definieren möchte, was das sogenannte künstlerische Feld ist, wo es anfängt und ob es auch jemals wieder aufhört, man muss es sich nach Lage der Dinge offenbar als eine Art Moor vorstellen: Wer einmal reingesteckt wurde, kommt nicht so schnell wieder raus, im Gegenteil, alle Bemühungen ziehen ihn nur noch tiefer.

Horzon selbst gibt zu der Sache gegenüber der SZ zu Protokoll, dass sein Ausgangspunkt natürlich die Behauptung von Marcel Duchamp war, dass es nicht darauf ankomme, was der Künstler herstellt, sondern dass er einen Gegenstand auswählt und zur Kunst erklärt. Der Satz, wonach Kunst das ist, was ein Künstler zu Kunst erklärt

Und natürlich sei es über 100 Jahre danach „total langweilig, immer weiter alles mögliche zu Kunst zu erklären.“ Er habe nun etwas anderes versucht. „Und was dabei herausgekommen ist, kapiere ich ja selber nicht mehr ganz: ein Möbelhändler, der einen Möbelladen zu einem Möbelladen erklärt.“ Dass ihm das von den Wikipedia-Autoren offensichtlich als besonders stichhaltiges Indiz für sein eigentliches Künstlertum ausgelegt wird, macht ihn gewissermaßen auch in kunsttheoretischer Hinsicht ratlos: „Abgesehen davon, dass es hier um meine eigenen Belange geht, kann es doch nicht sein, dass Wikipedia sich anmaßt, darüber zu entscheiden, wer Künstler ist und wer nicht! Das kann sowieso nur die Person, die für sich selber spricht. Wenn sich jemand als Künstler bezeichnet, ist er ein Künstler. Wenn sich jemand als Unternehmer bezeichnet, ist er zwar noch lange kein Unternehmer. Aber wenn sich ein Unternehmer als Unternehmer bezeichnet, ist er ein Unternehmer.“

Die letzte Neugründung des Unternehmers Rafael Horzon heißt übrigens „Dämm & Deko“ und wurde vergangenen Donnerstag vorgestellt: An den Wänden seines Ladenlokals hingen je zwei verschiedenfarbige Platten aus Wärmedämmmaterial für den Wohnungsbau zu einem Quadrat kombiniert, das einerseits gewisse Arbeiten des amerikanischen Künstlers Donald Judd erinnerte. Andererseits waren es aber eben Dekorationselemente aus handelsüblichen Wärmedämmplatten, wie sie im Zuge der CO2-Verringerung unserer Städte eigentlich bisher den Außenwänden der Häuser verordnet werden. Freunde von Kunst und Architektur konnten bei dem Anblick schon zu dem Schluss kommen, dass es eine verblüffend gute und schöne Idee ist, die unter Ästheten oft verpönten Platten stattdessen an der Innenseite anzubringen, wo ihre Pastellfarben eine ganz andere Wirkung haben. Kunsthistoriker konnten sich daran erinnert fühlen, dass große Teile der bildenden Kunst, nämlich so gut wie alle holländischen Altmeistergemälde ebenfalls einmal die Funktion der Wärmedämmung an den Wänden bürgerlicher Haushalte hatten. Man konnte bei der Geschäftseröffnung von „Dämm & Deko“ auch etliche Angehörige des Berliner Kunstbetriebs beiwohnen sehen, so wie Rafael Horzons minimalistische Regale nicht zuletzt in diesem Milieu beliebt und verbreitet sind. Und mit etlichen von ihnen konnte man an diesem Abend Horzons Kampf gegen Wikipedia durchaus auch im Kontext von Duchamp und Warhol etc. pp. debattieren. Aber um in Rafael Horzon eben den wunderbar anregenden und immer wieder überraschend präzisen Konzeptkünstler zu sehen, der er nun einmal nicht sein will, muss man ihm schon auch zubilligen, dass er es wirklich nicht ist.

 

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst am 29.10.2019 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung