Krieg um die Hauptstadt des Internets

Es ist der Tag, an dem die Nachricht vom Tod Frank Schirrmachers das Silicon Valley erreicht. Es ist an jenem Donnerstag um kurz vor neun am Morgen: Die Veranstaltung, auf der es um das Schirrmacher-Thema des Datensammelns gehen sollte und darum, wie sich dadurch unsere Lebenswelt verändern wird, ist in eine andere Halle verlegt worden. Der Blick auf das Smartphone sucht nach einer Email, die verraten würde, in welche. Was er findet, ist leider eine andere. Und ausgerechnet hier davon zu erfahren, in der Heimat von Google und Facebook: Das darf man schon noch einmal besonders verstörend nennen.

In diesen Augenblick der Verstörung hinein kommt nun eine schwarze Limousine mit dem Zeichen der Taxi-App Uber im Fenster auf den Hof des Fort Mason Centers an der Nordspitze von San Francisco gerast, hupt einen aus der Schockstarre und bremst scharf. Heraus springt ein livrierter Fahrer, rennt um sein Auto herum und reißt, strammstehend, die rechte Hintertür auf. Aus dieser Tür schält sich gelangweilt die Gestalt eines Mannes, der – futuristische Lederjacke, dreieckige Schwimmbrille – im ersten Moment an den Sänger Bono Vox denken lässt. Es ist dann aber Pablos Holman, früher galt er als Hacker, jetzt steht „Intellectual Ventures Lab“ auf seiner Karte.

Später an diesem Morgen, als die richtige Halle gefunden ist, wird er auf der Bühne sitzen und sich mit Yves Behar von „Fuseproject“ die Bälle zuwerfen:

-Die Frage ist doch: Welche Dinge in unserer Welt sind noch nicht mit einem Computer verknüpft? Wo können wir noch überall Sensoren anbringen, Daten sammeln? Wann ersetzen wir endlich den Haustürschlüssel?

-Das letzte mechanische Ding, das wir noch herumschleppen!

-Diese Tasse, die wir entwickeln, misst, was wir trinken, wieviel wir trinken, unsere Hydration….

-Warnt die mich auch vor zuviel Alkohol?

-Ja, kein Witz, kann die.

Sounds awesome.

-Yeah, it’s pretty cool.

Einer der letzten Sätze von Schirrmacher in der Zeitung hatte etwas von Nietzsche: Wenn man lange genug in sein Smartphone blickt, darum ging es in der Substanz, dann blickt das Smartphone entsprechend tief in einen zurück. Was das Gerät in diesem Moment also sieht, ist vermutlich ein sehr europäischer Ausdruck von Fassungslosigkeit: Schirrmacher ist tot, und die da reden.

Diese Konferenz ist zwar, im Prinzip, auch eine europäische Veranstaltung. Der Burda-Ableger DLD (Digital Life Design) aus München hat sie organisiert, es geht um den Einfluss der Digitalisierung auf unsere Städte: eine dieser Vorausschauen in die Zukunft, die schon deswegen nicht nur einen Gewinn, sondern auch einen Genuss darstellen, weil sie so aufschlussreich sind, so spannend – und auch ein bisschen Schaudern machend.

Allerdings sind die, die da heute sprechen, ganz und gar von der Morgensonne Kaliforniens durchglüht, aus ihnen spricht, jubiliert, singt der Adventismus der Technologie: Die restlose Digitalisierung der physischen Welt wird unser Leben leichter, freier, froher machen – We gonna make this world a better place! Der Verkehr wird, mit unseren pausenlos abgesonderten Daten, flüssiger und gefahrloser, das Einkaufen schneller, die Gesundheitsversorgung lückenloser. Andrew Hessel wird einem vorgestellt, von der Firma Autodesk, ein drahtseilschlanker Mann mit zuversichtlichem Händedruck. Dann springt er auf die Bühne. Er sagt: Du kannst mit einem 3D-Drucker die menschliche DNS ausdrucken heute, du kannst Zellen bauen und du kannst mit diesen Zellen Sachen bauen; du kannst heute schon: Leben schaffen! Die Dinge und die Häuser und die Städte der sehr nahen Zukunft werden nicht hergestellt sein, sie werden, klug programmiert, in ihre Formen wachsen. The future will be less manufactured, ruft Hessel in die Halle, the future will be gown! Hingerissener, nicht nur den Vortrag, sondern die Sache selbst bejubelnder Applaus.

Dies hier ist Kalifornien, und das, was sie in Europa – von Burke bis Kant – das Erhabene genannt haben, weil es einen schreckt, während es einen fesselt, das heißt auf Kalifornisch awesome, und awesome heißt pretty cool: Es schreckt hier nicht, es fesselt nur.

Dann steht aber auf einmal, man fühlt sich richtig eingeholt, diese Person hier auf der Bühne: Brigitte Zypries, SPD, MdB, Staatssekretärin im sogenannten BMWi, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Ab diesem Moment nun sieht man große Fragezeichen in den Augen der Amerikaner, man sieht besonders große hinter der verdunkelten Bono-Vox-Brille von Pablos Holman. Der deutschen Staatssekretärin Englisch ist made in Nordhessen, und ihr Quellcode ruht deutlich im Bundestag. Zypries spricht von Frank Schirrmacher, der deutschen Debatte über das Internet, dem Luxemburger Google-Urteil, dem Recht auf Vergessen…

Der Hacker, Futurist, Erfinder und krasse Typ (Pablos Holman auf seiner Webseite über sich selber) steht da, die Beine weit gespreizt, und sackt bei jedem Wort der deutschen Politikerin ein bisschen tiefer in den Spagat. Am Ende ihrer Ansprache werden ein paar sehr junge deutsche Start-up-Gründer auf die Bühne geschoben – denn Berlin, ruft Zypries, habe auch schöne Garagen – und müssen in die Halle winken.

Das Wirtschaftsministerium nennt das „German Valley Week“, letztes Jahr wurde diese Klassenfahrt noch von Philipp Rösler geleitet: Die deutsche Start-up-Jugend soll sich zwischen Palo Alto und San Francisco inspirieren lassen und Kontakte sammeln. Muslime müssen einmal im Leben nach Mekka, Christen sollten das heilige Land gesehen haben, und wer auf das Geschäft im ewigen Internet hofft, muss die Wallfahrt ins Silicon Valley einmal gemacht haben. Um von diesem Enthusiasmus zu naschen. Um einmal zu sehen, was wäre wenn. Tja, wenn: Man mal so richtig groß denken würde. Risikokapitalgeber wirklich risikofreudig sind. Die Idee zündet. Und noch ein paar Wenns mehr.

Man wird dieser Reisegruppe, sechzig Mann, leider kaum eine Frau, auch in den folgenden Tagen immer wieder über den Weg laufen, eine rührende Mischung aus Skatertypen und BWL-Studenten. Noch am Vorabend der Heimreise stehen sie im Garten hinter dem Haus, das der Springer Verlag in Palo Alto angemietet hat, um dort auf neue, digitale Gedanken zu kommen und verblüffen einen mit der Ansicht, dass sie für Zeitungen schon deshalb nicht zahlen würden, weil die kostenlos im Netz stünden. Die Verwechslung von Zeitungen mit ihren gleichnamigen aber ganz anders befüllten Online-Angeboten ist einerseits ein bisschen irritierend. Trotzdem kann hier aber kein schlechtes Wort über sie verloren werden, denn dieser digitale Autismus, der wegblendet, was nicht online ist, macht ihnen die Welt natürlich auch einfacher.

Es sieht also ganz so aus, als wäre das kein verschwendetes Steuergeld. Wenn die Stimmung hält, müsste schon in den nächsten Monaten zwischen Bochum und Berlin die Start-ups blühen wie noch nie. Es herrscht jedenfalls bei allen, mit denen man hier redet, die feste Entschlossenheit, von diesem Spirit etwas mitzunehmen, von diesem Mindset, der keine Probleme kennt, sondern nur Herausforderungen, keine Pleiten, sondern nur Lehren für den nächsten Neustart, wenn Brigitte Zypries am nächsten Tag wieder ins Flugzeug nach Hause bittet. Wenn es also zurückgeht in das Land der Bedenkenträger und der Kulturpessimisten und der Neins und Abers, wo Internetmillionäre im Zweifel auch nicht als Popstars gesehen werden, sondern als Scharlatane, die nur noch enttarnt werden müssen.

Kalifornien und die Bundesrepublik Deutschland, das sind schon zwei sehr verschiedene Dinge, Traditionen, Mentalitäten.

Umso erstaunlicher auf der DLD-Konferenz der Vortrag von Jaleh Bisharat. Sie ist tätig bei „Elance-oDesk“ und wird vorgestellt als Expertin für die Zukunft der Arbeit. Die Expertin sagt: Work is no longer a place. Die Digitalisierung mache es egal, wo wir sind und wo wir arbeiten, der Ort spielt keine Rolle mehr. Das hat man schon oft gehört, das klingt von Ferne logisch.

Von Nahem klingt das aber geradezu verblüffend falsch. Es klingt, gerade hier in San Francisco, wie ein digitaler Mythos, eine Lebenslüge, ein Zynismus. Denn diese Stadt ist der schlagende – und mit diesem Schicksal auch selbst durchaus geschlagene – Beweis des Gegenteils: Der Ort ist absolut entscheidend, der Ort ist bei der Sache alles. Das, was man das Silicon Valley nennt, die fünfzig Meilen lange Halbinsel zwischen San José im Süden und San Francisco im Norden, dieser in den Pazifik gereckte Daumen Amerikas, ist ja nicht nur eine Metapher für Computerindustrie, Internetwirtschaft, Digitalisierung: Es ist ein ganz konkreter, geografischer Raum, der alle, die in diesem Bereich wirklich etwas werden wollen, zu physischer Präsenz verpflichtet.

Wer weiß, womöglich fängt der Selbstbetrug schon da an, wo geglaubt wird, das Internet sei dezentral. Das ist es technisch und in der Theorie. Die Evidenz aber sagt: es hat einen Geburtsort, und der ist bis heute sein Machtzentrum, sein Nullpunkt, seine Hauptstadt. Wer bei den Riesen der Digitalwirtschaft arbeitet, ist an diese Scholle gebunden wie Leibeigene im Mittelalter. Marissa Mayer hatte ihren Chefstuhl bei Yahoo! noch gar nicht richtig warm gesessen, da hat sie schon alle in die Büros zurückbeordert, die, wie die Arbeitsfuturistin Jaleh Bisharat, geglaubt hatten, sie könnten von zuhause aus durch das Internet genauso produktiv sein. Das war im vergangenen Jahr. Justin Edmund, der jugendliche Designer von Pinterest, hatte uns etwa zu derselben Zeit ein Interview gegeben. Er stamme aus New York sagte er, liebe New York, vermisse New York, musste aber, das war gar keine Frage, ins Silicon Valley ziehen für das, was er machen und werden wollte. Er hatte einen Coffeeshop in SoMa als Treff vorgeschalgen, South of Market Street, Twitter hat sein neues Hauptquartier gleich um die Ecke. Jemand, der dort ohne MacBook Kaffee trank, wäre aufgefallen. Justin Edmund hatte ausschließlich ein MacBook vor sich stehen, aber keinen Kaffee. Er mag, sagte er, Kaffee nicht. Es sei nur eben so, dass Leute wie er in Coffeeshops wie diesem nun einmal herumzuhängen hätten, weil die anderen das auch taten.

Der Glaube, dass Kreativität da blüht, wo Menschen mit verschiedenen Erfahrungen, Interessen und Talenten sich auf engem Raum befruchten, wird auch in der Informatik hoch gehalten, woher er aber nicht stammt. Sondern aus Atommodellen, der Biologie, der Stadtsoziologie. In der Realität von San Francisco ist es nun allerdings eher so, dass sehr viele junge Leute mit ziemlich ähnlichen Erfahrungen, Interessen und Talenten die Nähe zu einander suchen. Wenn sie dabei auf Leute stoßen, die diese Erfahrungen, Interessen und Talente nicht teilen, dann ist das, was dabei herauskommt nicht kreativ – sondern Ärger. Manche sprechen auch von Klassenkampf. Einige von einem Krieg.

Dass San Francisco überhaupt neuerdings als Teil des Silicon Valley gilt und nicht mehr, wie bis vor ein, zwei Jahren noch, als sein urbanes Gegenstück: Das ist, wenn man den Experten glaubt, sogar erst eine Folge der Befreiung vom Standort durch die Technik. Bis vor kurzem war auch das jugendlichste Start-up-Unternehmen noch an die physische Präsenz seiner Server gebunden. Die brauchten Platz, und den gab es in den suburbanen Weiten von Palo Alto, Mountain View, Menlo Park. Seit Amazon Web Services jungen Firmen die Server praktisch als Cloud zur Verfügung stellt, können die gehen, wohin sie wollen. Und sie wollen alle, alle, alle: in die Enge von San Francisco. Nicht weniger als 61 Prozent der Neuanmietungen von Büroraum hier im letzten Jahr auf das Konto von Tech-Firmen. Wer immer noch bei den Mammuts draußen im klassischen Valley angestellt ist, bei Google, Apple oder Facebook, der wohnt spätestens seit letztem Jahr auch Downtown-San Francisco – und pendelt lieber.

New Yorker müssen deswegen eifersüchtig zur Kenntnis nehmen, dass es an der Westküste eine Stadt gibt, in der die Durchschnittsmiete im letzten Jahr dreimal so rasant gestiegen ist wie bei ihnen, um 22.6%. Sie beträgt inzwischen stolze 4400 Dollar, 3300 Euro, Sozialwohnungen einberechnet. Das ist mehr als in Manhattan. Wer soll so viel Geld verdienen? Antwort: ein ziemlich großer Haufen Jungs, Mitte zwanzig, die programmieren können. Die brauchen kein Eigenheim in einem verschnarchten Vorort; keinen Kontakt mit Frauen haben die schon auf Arbeit genug.

Der Konflikt ist eskaliert, seit es die Google-Busse gibt, womit grundsätzlich immer all die Shuttle-Busse all der Firmen aus dem Valley gemeint sind, die die Angestellten der Technologiebranche, die sogenannten Techies, aus der Stadt zur Arbeit befördern. Die Nachricht, dass diese Google-Busse von erbosten Nicht-Techies mit Steinen beworfen wurden, ist um die Welt gegangen. Dass der Risikokapitalgeber Tom Perkins zu Protokoll gab, Reiche würden in San Francisco behandelt wie die Juden in der sogenannten Reichskristallnacht, das hat zumindest in den USA für Diskussionen gesorgt. Beides sind, einer Umfrage der Stadt zufolge, keine mehrheitsfähigen Haltungen, aber es zeigt doch, wie zur Zeit die Stimmung ist in dieser Stadt.

Gabriel Medina ist 36 Jahre alt und war auch einmal ein Techie. Er war bei einer Softwarefirma im Valley. Damit gehörte er zu einer extremen Minderheit. Nur zwei Prozent der Angestellten von Firmen wie Google sind Latinos, immerhin doppelt so viel wie Schwarze. Sie machen aber mehr als 14 Prozent der Bevölkerung von San Francisco aus, und die meisten von ihnen wohnen traditionell in The Mission. The Mission ist der älteste Teil von San Francisco, der Altstadtkern. Die Latinos sind sozusagen die Ureinwohner. Es gibt ja einen Grund, warum die Stadt San Francisco heißt und nicht Saint Frank. Nirgends, sagt Gabriel Medina, leben außerdem mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aus Mittelamerika. The Mission war immer eine arme Gegend, eine Gegend, aus der man sich herausarbeiten wollte, und, wenn es klappte, in ein besseres Viertel zog. Jetzt ziehen Leute, die in besseren Vierteln aufgewachsen sind, hierher. Es ist ein bisschen heruntergekommen, es ist eng, viel los, es ist pretty cool. Inzwischen kostet eine Wohnung hier – ein Zimmer – im Schnitt 3000 Dollar pro Monat, die mietgeschützten Sozialwohnungen wie immer schon mit eingerechnet. 2300 Euro. Hab das mal, wenn du dein Geld mit deinen Händen verdienen musst – ohne Tastatur darunter.

Auf dem Weg zu Gabriel Medina grüßen zwei Arbeiter, einer schwarz, einer Mexikaner, aus einem Lokal heraus, das sie gerade renovieren: Das wird ein Restaurant, ruft der Mexikaner: Aber amerikanisch! Nicht so wie die Taquerías hier, sondern a fancy one.

Drei Häuser weiter sitzt nun also Gabriel Medina in den Räumen der Mission Economic Development Agency, einer Organisation, die mit Almosen von der Stadt und von Spendern versucht, den Kindern aus den Taquerías beizubringen, wie man programmiert, damit die eines Tages auch teilhaben mögen an dem neuen Goldrausch in der Stadt. Der Bürgermeister von San Francisco habe Firmen wie Twitter mit enormen Steuersubventionen ja vor allem dazu in die Stadt gelockt, damit die hier Jobs schaffen. Die gingen an den Latinos jedenfalls bisher aber weitgehend vorbei. Statt Jobs kamen bleiche Mittzwanziger, die bei Wohnungsbesichtigungen komplette Jahresmieten im Voraus hinlegen oder, wenn es sein muss, auch das Doppelte. Oder das Dreifache. Oder das Sechsfache. Solche Geschichten hört man hier dauernd.

Und wo gehen die anderen dann hin? Die übrigen? Wenn das hier schon das schlechte Viertel ist.

Tja, sagt Medina, Handflächen nach oben: Raus aus der Stadt. Oakland. Und seit Oakland auch schon nicht mehr zu bezahlen ist, noch weiter raus, das Land ist ja groß. Ihre kargen Jobs bleiben hier, ihre Wege werden lang, der Verkehr nimmt noch mal zu. Die neuen Bewohner der Mission fahren früh eine Stunde in die Vorstadt zur Arbeit und abends anderthalb zurück. Die alten Bewohner der Mission machen es umgekehrt. Sie können sich praktisch zuwinken im Stau. Wenn sie Glück haben, sagt Medina: „Ziemlich viele landen auch auf der Straße.“

San Francisco ist, bei allem, was es sonst noch zu bieten hat, leider tatsächlich die Stadt, deren Bild massiver von Obdachlosen bestimmt wird als das jeder anderen in den USA. Einschließlich Los Angeles, und das will etwas heißen. Nirgends sieht man so viele Stadtstreicher – oft laut auf Passanten oder sich selbst einredend – wie hier. Die Stadt hat schon Prozesse angestrengt gegen Staaten wie Nevada, die ihre Obdachlosen mit Einwegtickets in den Bus nach San Francisco setzen. Kann sein, dass es bei denen, die an der berühmten Hippiekreuzung Haight/Ashbury heute vor den Lavalampen-Läden auf der Straße liegen, um spätes Nacherleben der Flower Power-Ära geht. Aber in der Hauptsache sieht man eine unvorstellbare Armee von Armen, Kaputten und psychisch Kranken, die den Fußraum beherrschen, in dem sich all die Freigeister, Homosexuellen und Feinschmecker bewegen, für die diese Stadt sonst noch berühmt ist.

Wer San Francisco unter diesen Umständen „schön“ nennt, muss schon einen sehr speziellen Sinn für Sozialromantik haben oder einfach abgestumpft sein bis zur Blindheit.

Das zumindest kann man einem Start-Up-Boy wie Peter Shih nicht vorwerfen: Er sah das Problem immerhin klar, als er letztes Jahr eine inzwischen legendäre Facebook-Tirade vom Stapel ließ: Er beschimpfte sie einfach nur als Zumutung, genauso wie das kapriziöse Wetter und die Frauen: Zicken, die glaubten, sie seien sonstwer, nur weil so ein irrer Männerüberschuss herrscht in der Stadt. Die Mitgliedschaft in sozialen Netzwerke bedeutet nicht automatisch soziale Kompetenz.

Viele halten diese Art von Burschenschafterhumor aber als Haltung für typisch. Zu mehr als achtzig Prozent ist diese Branch, wie gesagt, männlich und jung. Meistens weiß, manchmal, wie Shih, asiatisch. Gern reden die Leute, die nicht zu dieser Branche gehören, auch von der überdurchschnittlichen Anzahl an jungen Genies mit Asperger-Syndrom. Es soll inzwischen eigene Dating-Webseiten geben für all die sozial etwas sperrigen Sheldon Coopers im Valley.

Soweit das Geläster der anderen. Ein Programmierer, der durch einen Börsengang seiner Firma mit Mitte zwanzig Millionär ist, wird es lächelnd ertragen.

An einem dieser Abende steht man dann allerdings im prachtvollen Garten eines deutschen Risikoinvestors in Atherton bei Palo Alto am Pool und hört: das Haus habe er in der Krise gekauft (fast 6 Millionen Dollar), heute wäre hier auch für jemanden wie ihn praktisch nichts mehr zu bekommen, alles weg, alles irrsinnig teuer, viel zu viel Geld unterwegs. Das verderbe einfach die Sitten. Übrigens auch bei den Autohändlern in der Region. Diese Burschen zahlen ihren Porsche bar. „Da geht auch ein bisschen der Respekt vor manchen Dingen verloren.“

Das Silicon Valley befördert allerdings genau diese ausdrücklich unerzogene, schrankenlose Attitüde: Sean Parker, Napster-Gründer, erster Facebook-Präsident, ist diesen Jungs auch in seiner Eigenschaft als Schulabbrecher ein Vorbild. Und Peter Thiel, PayPal-Mitgründer und Facebook-Investor, gibt Stipendien in Höhe von 100 000 Dollar – an Leute unter zwanzig, die das College schmeißen, um sich in Projekte zu stürzen. Die haben dann gute Chancen auch so zu werden – und das heißt nicht nur sehr, sehr reich, sondern: ein Techno-Libertarier, ein Ideologe des Individualismus, Ayn Rand als Nerd. Leute wie er sind oft auch für die Abspaltung des Silicon Valley als eigener Staat: Abstoßen von Ballast, Restkalifornien, Losern…

War denn aber nicht ausgerechnet San Francisco mal die Wiege von Peace, Love and Harmony? Hatten hier nicht die Beatniks ihren Hafen und die Hippies ihre Wiege? Die ganze Gegenkultur der Sechziger?

Das ist es ja. Es gibt Leute, die sagen, dass der Personalcomputer und das Internet und alles, was bis heute daraus folgte, genau aus diesen Gründen nur hier entstehen konnten, und nirgendwo anders.“We Owe It All to the Hippies”, wir verdanken das alles den Hippies, schrieb Stewart Brand, als Zeitzeuge und Protagonist, 1995 im Time Magazine: Die Abneigung der Gegenkultur gegenüber zentralen Autoritäten habe nicht nur dem führungslosen Internet die philosophischen Grundlagen gegeben, sondern der gesamten Entwicklung des Personalcomputers.

Der Wissenschaftsjournalist John Markoff erzählt, wie begeistert ihm Steve Jobs das lavalampenartige Geflacker auf dem ersten iPod vorführte: Das erinnere ihn an seine Jugend. Jobs hat nicht nur nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er in der Gegenkultur von San Francisco mit Drogen herumexperimentiert hatte, er hat diese Drogenerfahrungen sogar zu den drei wichtigsten Dingen gezählt, die er im Leben unternommen habe. Markoff hat in „What The Dormouse Said – How the Sixties Counterculture Shaped the Personal Computer Industry“ die Geschichten all der Pioniere nacherzählt, die am Ende zu der einen, großen Geschichte zusammenflossen: Wie die alte Computerindustrie rund um das traditionsselige Boston abgelöst wurde durch die Westküste, wo Do-it-Yourself-Geist und antiautoritäre Attitüden Hand in Hand gingen mit Drogenexperimenten zur durchaus wissenschaftlich verstandenen Horizonterweiterung, mit psychedelischer Musik und der Rüstungsindustrie. Dieser letzte Punkt wird gerne ausgeblendet oder vergessen. Aber dass in den Büros der Forschungsinstitute rund um die Standford University Poster von Janis Joplin hingen, ändert nichts an der Tatsache, dass da gewaltige Mittel aus dem Pentagon flossen. Es war diese spezielle Mischung an diesem speziellen Ort, die aus lagerraumgroßen Industrierechnern den Personal Computer für jeden einzelnen zu Hause hat werden lassen, und es waren die Netzwerke, die hier geknüpft wurden, die der Vernetzung der PCs vorausgingen.

Vielleicht ist es ebenfalls ein Mythos und eine Lebenslüge zu glauben, dass die Gegenkultur der Sechziger und Siebziger irgendwie gegen die Logik des Kapitalismus gerichtet gewesen wären. Das waren sie vielleicht ihrem Selbstverständnis nach. Aber in der Praxis haben sie ihm in ihrer Revolte gegen Autoritäten und Konventionen eigentlich erst die Fesseln gelöst.

Es gibt keinen Grund an der Zukunft zu zweifeln, die man in San Francisco heute schon gezeigt bekommt. Die Tech-Konzerne werden weiter ungern Steuern zahlen, aber aus eigenen Stücken etwas für die Community tun. Es gibt schon den „Mozilla Community Space“ an der Hills Plaza: Man muss nur Mozilla-Mitglied werden, schon darf man rein. Die schmierigen Taquerías in der Mission Street werden fancy. Die Gläser zählen die Drinks und melden, wann es genug ist. Die Verfügbarkeit dieser Daten für Arbeitgeber und Versicherungen sollte hier disziplinierend wirken. Uber wird ein Google Car schicken, selbstfahrend, kein Latino wird mehr das Lenkrad halten müssen und einen mit der Frage belasten, wo er eigentlich wohnt. Das Leben wird länger und schöner werden. Es wird pretty cool sein. Aber wirklich.

 

Eine Variante dieses Textes erschien zuerst am 21. Juni 2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung