Little Russia, Brighton Beach

Du nimmst von Manhattan aus die U-Bahn-Linie Q, fährst nach Brighton Beach und bist in einem anderen Land, musst allerdings trotzdem mit Dollars bezahlen. Im Restaurant Gambrinus am Ocean Parkway tun die Kellner zum Beispiel so, als befänden wir uns auf dem Panzerkreuzer Potemkin: Sie tragen Matrosenhemden und wirken außerordentlich gefechtsbereit. Nicht alle sprechen Englisch, die wenigsten sprechen überhaupt besonders viel, und schüchternes Schulrussisch ändert an der insgesamt eher einschüchternden Gebärde, mit der sie einem den Borschtsch hinstellen, auch nicht wirklich was. Das trinkgeldgeile Kellnergrinsen überlässt man im Gambrinus selbstbewusst dem großen Rest Amerikas.

Hier soll es nun neulich ein kleines Gerangel gegeben haben zwischen Anhängern der ukrainischen Sache und ein paar Burschen, die das St.-Georgs-Band trugen, orange-schwarz gestreift, aus dem Zarenreich herübergewachsenes Symbol russischer Tapferkeit. Erzählen manche. Andere wiederum sagen: Ach was. Im Moment geht die Tendenz der Meinungen zu: Ach was.

Es kommt an diesem Nachmittag, es ist ein Freitag im August, sehr sonnig, aber trotzdem noch zu einem kleinen Gerangel, allerdings nicht im Gambrinus, sondern auf der Kreuzung direkt davor. Man hat von der Gartenterrasse aus einen einzigartigen Blick darauf, wie ein Cabriofahrer, der wirklich eine Pilotenbrille trägt und wirklich einen Pferdeschwanz, wie so ein Zuhälterdarsteller aus einer schlechten Krimiserie, einem Verkehrspolizisten wütend etwas durchs Autofenster wirft, es sieht aus wie ein zusammengeknüllter Haufen Strafzettel. Der Polizist springt empört aus dem Polizeiauto. Der Pferdeschwänzige springt aus seinem Cabrio. Der Polizist nimmt sein Funkgerät. Der Pferdeschwanz nimmt es ihm weg und prügelt damit – kein Witz, alles selbst gesehen – wie ein Rohrstockpädagoge auf den Polizisten ein. Wer an dieser Stelle keine Deckung unter seiner Bierbank gesucht hat, ist selber schuld: Die New Yorker Polizei kennt man als eine der schießwütigsten der Welt, dabei oft auch großzügig Passanten mit Kugeln eindeckend. Aber dieser Polizist hier ist offensichtlich viel zu verblüfft, um zu seiner Waffe zu greifen. Das Cabrio zieht mit zufrieden quietschenden Reifen Richtung Neptune Avenue davon, und der Cop reibt sich die Beulen an seinem Kopf: Szenen, die einem schon fünfhundert Meter landeinwärts kein Mensch mehr glaubt.

Kann natürlich sein, dass das nichts Spezifisches mit dem Ort zu tun hat, dass das Zufall war, auch so ein Fall von: Ach was. Andererseits glaubt nach einer halben Stunde auf der Terrasse vom Rustikalrestaurant Gambrinus in Brighton Beach auch kein Mensch mehr, dass schon einen halben Kilometer landeinwärts wirklich Amerika liegen soll, erst Brooklyn, dann Manhattan, dann der ganze Rest mit seinen etwas anderen Regeln und seiner gänzlich anderen Sprache.

Du nimmst also die Linie Q, steigst in Brighton Beach aus, und auf einmal ist alles Kyrillisch. Die Zeitungen, die Lebensmittel, die Apotheken. Vor allem die Apotheken. Auf jedem dritten Ladenschild, keine Übertreibung, steht in kyrillischen Buchstaben, „Aptjeka“. Warum ist denn hier echt jeder dritte Laden eine „Aptjeka“, Yelena Akhtiorskaya? Yelena Akthiorskaya ist im Augenblick die bekannteste Expertin für Brighton Beach, die es gibt.

Und Yelena Akhtiorskaya sagt: „Tja – alte Knacker.“

Dabei flattert über ihr an der Straßenlaterne ein Schild, auf dem steht: „Little Russia by the Sea“. Dass das auf Englisch da so steht, ist im Grunde viel erstaunlicher, sagt Yelena, deren Nachname sich kyrillisch ebenfalls einfacher darstellen ließe als mit dem Buchstabenhaufen, den ihr die amerikanischen Behörden zur Umschreibung der fremdländischen Laute verpasst haben: Akhtiorskaya. Zwischen jeweils zwei „Aptjekas“ gibt es immer auch mal eine Citi Bank, einen Mobilfunk-Shop von Verizon, ein Starbucks Café. Lateinische Lettern, englische Wörter – Akhtiorskayas Darstellung nach: unerhörte Eindringlinge in Brighton Beach. Sie formt mit ihren Armen ein W, so wie junge Amerikanerinnen das tun, wenn sie „What the fuck!?“ sagen wollen, ohne so etwas Rüdes wirklich auszusprechen. Denn Yelena Akhtiorskaya ist 28 Jahre alt, und wenn sie Englisch spricht, dann hat sie absolut keinen russischen Akzent, sondern bei ihr es umgekehrt: In Odessa, wo sie einst geboren wurde, halten die Leute sie inzwischen bei ihren Besuchen für eine Amerikanerin, die eine Sprachschule besucht hat. Und genau genommen stimmt das auch.

Yelena Akhtiorskaya war sieben, als ihre Eltern mit ihr nach New York umzogen, sie sprach bis zum Studium absichtlich gar kein Russisch mehr und musste es dann auf dem Hunter College in Manhattan wie eine Fremdsprache neu erlernen. Sie wohnt jetzt auch selber in Manhattan, auf der Upper West Side, und raus nach Brighton Beach fährt sie eigentlich nur noch, wenn sie ihre Eltern besuchen will. Oder um einen Reporter darauf hinzuweisen, dass die Gegend früher noch viel ausschließlicher auf Russisch beschriftet war. Oder um mit ihm anschließend in den Buchladen „St. Petersburg“ zu gehen, wo es fast alles gibt, was auf Russisch je gedruckt wurde, außerdem Matroschka-Puppen, Sowjetwimpel, Samoware, noch mehr Matroschka-Puppen, nur ihren, Akhtiorskayas, eigenen exakt von all dem hier handelnden Debütroman nicht, denn der ist soeben bei Riverhead Books auf Englisch erschienen.

Für „Panic in the Suitcase“ wird Akthiorskaya dafür von der New York Times bis zur Los Angeles Times im Augenblick mit entzückten Kritiken überschüttet. Besonders entzückt sind die Kritiker dabei regelmäßig von dem Umstand, dass sie sich als eigentlich plotsüchige Amerikaner kein bisschen langweilen, obwohl in dem Buch von nicht viel mehr erzählt wird als von einer Familie, die aus Odessa nach Brighton Beach zieht und Besuch von einem Onkel bekommt, einem Literaten, der dann doch lieber wieder zurückgeht nach Odessa. Die amerikanischen Kritiker ergötzen sich an der Ironie und dem Humor, mit dem Akhtiorskaya diese Welt schildert. Darin kann man ihnen auch nur Recht geben – wenn man unter Humor nicht nur das Erzählen von Lustigkeiten versteht, sondern das besonders sensible Hinschauen, und unter Ironie nicht nur die Zunge in der Backe, sondern ein aufmerksames Umkreisen der Dinge und Personen. Das Buch beschreibt die Leute von Brighton Beach im Prinzip aus der Sicht einer dieser gefürchteten Brooklyner Mücken, die dauernd so halbhoch bei allem dabei sind, und wenn sie zustechen, dann kann das für die Betroffenen ein wenig schmerzhaft sein. Alle diese russischsprachigen Juden aus Odessa, in verschiedenen Auswanderungswellen an die Küste New Yorks gespült, hätten sich nicht „mutig in das neue Land vorgewagt“, schreibt Akhtiorskaya: „Sie borgten sich ein winziges Eckchen am äußersten Rand von anderer Leute verfallendem Grundstück, um dort eine säuberliche Nachbildung des verkorksten, unzulänglichen Originals zu errichten, dem zu entfliehen sie so viele Hürden überwunden hatten …“

Man muss dazu wissen: Yelena Akhtiorskaya gehört wirklich nicht zu dem Typ der Immigrantentöchter, die aus Protest gegen die Werte und die Welt ihrer Eltern türenschlagend ins nächste Tätowierstudio flüchten. Tatsächlich könnte sie mit ihren langen goldenen Locken jederzeit dermaßen gut die Prinzessin in einem Märchen aus den Mosfilm-Studios abgeben, dass die Nostalgiker, die im „St. Petersburg“ die guten Erinnerungen an früher einkaufen, in die Taschentücher schluchzen müssten. Ihr Buch zeugt auch von tiefer Zärtlichkeit für diese Welt, die so bunt, so bizarr und mitunter auch so tragisch ist, dass eine Schriftstellerin ihren Beruf verfehlt hätte, wenn sie aus diesem Material nichts machen wollen würde. Aber manchmal benennt sie die Dinge eben einfach auch mit einer sehr newyorkhaften Härte: „Wir haben eine Menge geistig gestörter Leute hier herumlaufen“.

Warum?

„Die Immigration, würde ich sagen, das Fremdsein raubt ihnen den Verstand.“

Der Mann, der vor ihrem Elternhaus immer im Rollstuhl saß und gellend schrie, ist verschwunden inzwischen, aber was er geschrien hat, den lieben langen Tag lang, das weiß sie noch: „Odessa! Odessa – Mama!“

„Ja, traurig. Andererseits: Hier haben die Straßen abgesenkte Bürgersteige, hier können Rollstuhlfahrer wenigstens am Leben teilnehmen. In Odessa kannst du als Rollstuhlfahrer nichts, nur zuhause sitzen und warten, dass du stirbst.“

Little Odessa: 23000 Menschen auf 1,17 Quadratkilometern, die von Brooklyn aus in den Atlantik ragen wie die Krim ins Schwarze Meer, ein Strand, ein paar mächtige Mietskasernen, die Brighton Beach Avenue mit ihrer endlosen Reihe von Apotheken und dem Rasseln des Q Trains auf den Hochbahngleisen, der Anteil derer, die wenig oder gar kein Englisch verstehen, beträgt, letzter Zensus, 37,3 Prozent. Es ist nicht mehr ganz genau nachzuvollziehen, wann genau die paar Straßen am Strand diesen Spitznamen verpasst bekommen haben. Brighton Beach war ja selber einer, ein Kunstname, eine Marketingidee der Grundbesitzer, die hier am Südrand von Brooklyn im 19. Jahrhundert ein Seebad mit Luxushotels hochzogen, die heute längst verschwunden sind: Brighton in Südengland galt damals noch als klangvolle Referenz. In den Vierzigern kamen dann die ersten Holocaust-Überlebenden, und ab den Siebzigern kamen die Juden aus der Sowjetunion zu Zehntausenden, nicht alle aus Odessa und nicht alle wollten nach Brighton Beach – aber die aus Odessa, die wollten.

„Nach Brighton Beach gingen die wegen der Geografie“, sagt Marina Temkina, die selber aus Leningrad stammt und Ende der Siebziger nach Manhattan zog, „die Leute aus Odessa brauchten das Meer vor der Tür.“

Marina Temkina: 66 Jahre, Dichterin, Joseph-Brodsky-Vertraute, Archivarin der Immigration – für jemanden wie Yelena Akhtiorskaya ist die kleine, resolute Frau die Grande Dame der russischsprachigen Intelligentsia in New York. Temkina hat Brighton Beach immer mit im Blick gehabt. Als sie jetzt mal wieder da war, zum Baden, fand sie es bemerkenswert, wie viele Leute mit Kreuzen um den Hals sie da gesehen hat. Das war früher mal anders. Und diese Feststellung klingt bei ihr deutlich weniger ironisch als wenn Akthiorskaya das Überhandnehmen des Englischen vermerkt. Aus Little Odessa ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, ganz offiziell Little Russia geworden, zum Teil leben jetzt auch Leute aus ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien hier, das heißt: Muslime. Als Brighton Beach noch Little Odessa genannt wurde, sagt Temkina, war das aber eine eindeutig jüdische Nachbarschaft, in der sich die Gemeinschaft über persönliche Beziehungen herstellte und über das Essen aus der alten Heimat. Little Odessa war deswegen auch wiederum nicht in dem Sinne jüdisch, dass das dem berühmten Nachtclub National auf der Brighton Beach Avenue verboten hätte, auch ein Schaschlik vom Schwein für 16,90 Dollar auf der Karte zu haben. Es herrscht hier

schon ein eher entspannter Umgang mit den Geboten von Religion und Tradition. Nun ist ausgerechnet Brooklyn aber weltberühmt dafür, dass das in seinen vielen jüdischen Nachbarschaften zum Teil deutlich anders gehandhabt wird, manche Gruppen liefern sich hier regelrechte Strenggläubigkeits-Wettbewerbe untereinander. Dass die nun wiederum mit Skepsis auf die sowjetischen Neuzugänge in Brighton Beach schauten, wo man sich unbeirrt von Väterchen Frost zum Jahreswechsel Geschenke unter die Tanne legen lässt, das liegt auf der Hand. Marina Temkina: „Die jüdischen Gemeinschaften in Amerika haben es schwer mit uns. Wir aber auch mit denen.“ (Üppige Echos dieser Animositäten finden sich auch in Akhtiorskayas Buch.) Was Temkina den alteingessenen Gemeinden vorwirft, ist im Prinzip dies: Dass sie Almosen gegeben hätten statt praktischerer Hilfe. Den Neuen von der Krim sei insofern zunächst auch gar nichts anderes übriggeblieben als eben der äußerste Rand, die marginalisierten, gefährlichen Restecken der Stadt. Die Mafia, die spätestens seit Filmen wie „Little Odessa“ zum Mythos von Brighton Beach gehört, diente in Temkinas Lesart der Dinge am Ende durchaus auch der Verteidigung dieser Ansiedlungen gegen rivalisierende Latino-Gangs.

Igor Satanovsky, Avantgardepoet, Buchgestalter, Ausstellungsmacher, Mitte vierzig, geboren in Kiew, jetzt wohnhaft auf der Upper East Side wiederum hält beim Mittagessen in Manhattan die komplette Idee einer russischen Mafia eher für einen Fall von: Ach was. Die Familienstrukturen in Brighton Beach seien faktisch mafiaähnlich, es könne höchstens sein, dass da der eine oder andere unvorsichtigerweise mit den Italienern ins Geschäft geraten sei…

Für Radik Shvarts dagegen verhält es sich mit der Mafia in Brighton Beach so ähnlich wie für Akhtiorskaya mit den kyrillischen Buchstaben und für Temkina mit dem Jüdischen: War früher ausgeprägter, ist jetzt auf dem Rückzug.

Radik Shvarts: Grafikdesigner, ebenfalls Mitte 40, ebenfalls aus Kiew, lebt nach einer Weile in Manhattan wieder hier, in der Nähe der Eltern, er hat jetzt selber kleine Kinder, da ergab das schon wegen der Babysitterfrage plötzlich wieder sehr viel Sinn. Radik Shvarts drückt damit gehörig auf den Altersdurchschnitt und hat für die, die hier unbedingt wegwollen, eher Spott übrig. Für die Leute seines Alters sei das Wegziehen eine derartige Prestigefrage geworden, dass sie, weil Manhattan zu teuer ist, zur Not auch in irgendwelche Schlafstädte ziehen, die letztlich noch trostloser seien als die Blocks hier am Strand. Er erzählt dazu den alten Witz vom russischen Spion, der in Wien im Caféhaus angesprochen wird: „Entschuldigen Sie, sind Sie zufällig ein russischer Spion?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Weil Sie beim Trinken noch den Löffel in der Tasse haben.“ Der Spion nimmt sich vor, im nächsten Café alles richtig zu machen, wird aber trotzdem wieder angesprochen. „Wie das? Woher wissen Sie?“ „Weil Sie beim Trinken so blinzeln, als ob Sie Angst hätten, dass der Löffel noch in der Tasse steckt.“

Shvarts hat sich Zeit für ein Bier genommen, kein Löffel drin. Er sagt: So als Russe, auch in diesem selbstironischen Sinn, habe er sich in den Neunzigern hier in New York eigentlich ganz wohlgefühlt. „Das war die Zeit mit Jeltsin, die Kehrseite war natürlich die Kriminalität, aber die Demokratisierung der Gesellschaft war vielversprechend.“

Erst in letzter Zeit habe er gemerkt, dass er am Ende doch vor allen anderen Dingen dies ist: jüdisch. Das stand auch schon so als Nationalität in seinem sowjetischen Pass. Wenn er das heute als Nationalität angibt, fragen in Bürokraten, die überfordert in ihren Vordrucken wühlen, ob das eine neue Nationalität sei. Dann sagt er: „Eher eine ziemlich alte.“ Ihm geht Israel im Moment mehr zu Herzen. Aber was die Ukraine betrifft: Er ist für die Ukraine, gegen Putin.

Das ist am Ende jeder, den man fragt, auch Satanovsky, auch Temkina, und wiederum deren Freunde. Und zu den Geschichten von den Rechtsradikalen, von den Antisemiten und Faschisten auf dem Maidan sagen sie alle gewissermaßen im Chor: Ach was.

(Shvarts: „Wenn du das mit dem Antisemitismus genau nimmst, ist es Frankreich im Moment wesentlich schlimmer, und wenn du unter Faschisten wirklich Faschisten verstehst, dann hast du von denen in Russland sicher mehr als in der Ukraine.“)

Aus der ukrainischen Diaspora, die sich schon auf der Flucht vor Stalin in New York angesiedelt hatte, und zwar im East Village von Manhattan, hört man gelegentlich, dass sie Brighton Beach, ehemals Little Odessa inzwischen Little Russia, für das Feindeslager halten, abtrünnig wie das echte Odessa. Aber davon merkt man weder auf der Straße etwas, noch selbst beim geduldigsten Ausharren im rustikalen Restaurant Gambrinus. Das Gerangel, sagt Temkina, sagt Satanovsky, sagen sie alle, das Gerangel zwischen den Pro-Russen und den Pro-Ukrainern findet in New York eher im Internet statt, auf Facebook, wo darüber schon etliche echte Freundschaften geendet hätten. Satanovsky sagt: „Im direkten Miteinander wird das Thema eher vermieden, denn der Riss geht mitten durch viele Familien. Das russische Fernsehen spuckt Gift in die Community“

Auch für Radik Shvarts ist der Empfang des russischen Staatsfernsehen in Brighton Beach der Grund der Entzweiung: Er habe in den letzten Wochen schon die vernünftigsten Leute der russischen Propaganda zum Oper fallen sehen.

Warum Leute einem Land so hartnäckig verbunden bleiben, aus dem sie emigriert sind, kann einem von außen schon ein bisschen rätselhaft bleiben. Aus der Innenansicht ist es dagegen offenbar völlig klar: Eugene Ostashevsky, Dichter, Mitte vierzig, ursprünglich aus Leningrad und gut bekannt mit Akhtiorskaya, Temkina, Satanovsky wie auch Shvarts, hat zu diesem Thema, bevor er kürzlich nach Berlin umzog, noch ein Gleichnis hinterlassen, das den erstaunten Blick Amerikas auf Brighton Beach nur einmal umdreht

Es geht so: Einst hatte er einen Studenten aus dem mittleren Westen, der überzeugt davon war, dass die Todesstrafe das Verbrechen eindämmt. Ostashevsky gab dem jungen Mann in seinem Essay-Kurs die Aufgabe, mit Hilfe aller verfügbaren Statistiken nachzuweisen, dass die Todesstrafe das Verbrechen nicht eindämmt. Es sei ein exzellenter Essay geworden, eine absolut klare, logische Beweisführung. Ob er jetzt immer noch glaube, dass die Todesstrafe ein adäquates Mittel gegen das Verbrechen sei. Und der Student, den prämierten Essay wieder entgegennehmend: Aber selbstverständlich, was denn sonst?

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien am 21.8.2014 zuerst auf der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung

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