Minsk in Potsdam

Mehr als zwei Stunden hatte die letzte Stadtverordnetenversammlung in Potsdam schon gedauert, es war gerade um die Wohnungsbauentwicklung in der stark wachsenden Nachbarstadt von Berlin gegangen, als Christian Seidel ans Mikrofon trat und etwas Bemerkenswertes sagte.

Seidel, muss man dazu wissen, hat nach der Wende viele Jahre lang für die SPD den mächtigen Bauausschuss geleitet, er wurde gelegentlich als Stadtbaudirektor Potsdams bezeichnet. Und obwohl Seidel seine Ämter inzwischen niedergelegt hat, erbat er sich ein Rederecht, bevor die Stadtverordneten über Tagesordnungspunkt 6.10 debattieren würden. Er begann mit dem Vorwurf des „Abrisswahns“, der in Potsdam grassiere. Den wies er zurück. An einen Abrisswahn könne er sich vielmehr in den späten Achtzigerjahren erinnern, als in der Stadt Flächenabbruch betrieben und auf den letzten Metern der DDR noch beklagenswert viel von Potsdams Altbausubstanz wegrasiert wurde. Er erinnerte daran, dass es Leuten seiner Generation deshalb nach der Wende vor allem darum ging, die Stadt zu „reparieren“ und die geschlossenen Straßengefüge wieder herzustellen. Der Vorwurf, dass Bauten aus der DDR-Zeit dabei aus ideologischen Gründen abgerissen worden seien, gehe fehl. Abgerissen worden seien sie, wo sie dem Ziel dieser Stadtreparatur im Wege standen.

Dann aber kam er auf „das Minsk“ zu sprechen.

Beim Minsk nämlich lägen die Dinge anders. Auch seine eigene Sicht auf das Minsk sei nicht dieselbe wie noch vor 15 Jahren. Das Minsk möge erhalten bleiben. Er warb dafür, „ein potsdam-spezifisches Unikat“ zu schaffen, und „ein starkes Signal an die Stadtgesellschaft zu senden, dass DDR-Bauten auch jenseits des Wohnungsbaus in den Stadtumbau einbezogen werden.“

Bemerkenswert war das deswegen, weil es in einer versöhnlichen Geste die subkutanen Vergnatztheiten zum Ausdruck brachte, die seit längerem an Potsdam nagen.

Während hier nämlich die einen nicht müde werden, die Verwandlung der Stadt in ein „barockes Disneyland“ zu beklagen, hat sie für andere immer noch viel zu viel Minsk an sich – wenn man Minsk einmal als Stellvertreterwort für eine als zugig empfundene Moderne realsozialistischen Zuschnitts nimmt, so wie etwa Leute, die Bulgarien nicht notwendigerweise tatsächlich kennen, gerne auch Bulgarien sagen, wenn sie das Plattenbau-Berlin östlich des Alexanderplatzes meinen. Das sieht allerdings nur auf den ersten Blick nach einem klassischen Ost-West-Konflikt aus, bei dem sich die ergrimmte Alteinwohnerschaft der DDR-Bezirksstadt Potsdam, in deren Straßenbahnscheiben einst die Parole „Für Frieden und Sozialismus“ eingraviert war, damit man beim Rausschauen nie vergaß, wo man war, einer Phalanx aus dem Westen zugewanderter Günther Jauchs, Hasso Plattners und Alexander Gaulands gegenübersehen, die die Stadt mit preußischer Retroseligkeit überziehen. Seidels kleine Ansprache erinnerte daran, dass die Frontverläufe in Wahrheit komplizierter sind, dass die Lage komplexer ist, dass auch alte Potsdamer Grund haben, sich für rekonstruierten Barock zu begeistern – und westdeutsche Zuzügler für den Erhalt von DDR-Moderne. Und auch daran, dass das Problem von Potsdam vielleicht noch nicht einmal wirklich in der Konkurrenz dieser beiden Vergangenheiten liegt, sondern in der Gegenwart mit ihren schnöden Sachzwängen und ihrer wärmegedämmten Investorenästhetik.

Denn neben sehr viel gefühltem Minsk gibt es in Potsdam eben auch noch ein ganz konkretes: Das „Café Minsk“ ist ein ehemaliges Restaurantgebäude aus den Siebzigerjahren, das nach der Hauptstadt der weißrussischen Sowjetrepublik unter anderem deshalb benannt war, weil umgekehrt dort ein Café Potsdam eingerichtet wurde, komplett mit Gastraum Sanssouci, märkischer Bauernstube und Strammem Max auf der Karte. Wechselseitige Besuche der jeweiligen Parteileitungen hatten dazu geführt. Das deutsche demokratische Café Minsk sollte dann direkt zu Füßen des sogenannten Kreml entstehen, wie damals die Kreuzritterburg der ehemaligen Reichskriegsschule aus den Jahren der Jahrhundertwende genannt wurde, in dem die SED-Bezirksleitung saß, bevor nach der Wende der Brandenburger Landtag einzog. Der Architekt Karl-Heinz Birkholz musste beim Bau an nichts sparen; Sichtbeton, Klinker, bunte Glasfenster, wirbelnde Treppen, dramatische Überhänge: Er durfte alles und machte alles, und schuf ein Restaurant aus zwei ineinander verschränkten Quadern, die den oberen Abschluß einer ganzen Kaskade aus Terrassen mit Springbrunnen bilden. Der Hügel, an dessen Nordhang das geschah, mochte Brauhausberg heißen, Birkholz inszenierte ihn eher als Weinberg, als eine Art Pendant zu dem, auf dem das Schloß Sanssouci thront. Von dieser Tribüne aus ging der Blick von Südosten her über die Havel und die Stadt. Der Beitrag Minsker Künstler betraf ein paar folkloristische Details des Innenausbaus. Kulinarisch war der Küchenchef eher nach Westen orientiert, mit französischen, sogar britischen Themenwochen. Generationen von Potsdamern haben sich hier das in der DDR so beliebte Steak au four auf die Hüften gepackt, um es sich dann nebenan in der Schwimmhalle wieder runterzustrampeln. Die war Anfang der Siebziger ebenfalls von Birkholz an den Fuß des Brauhausberges gesetzt worden, und zwar nach dem klaren Vorbild der Dresdner Leistungsschwimmerhalle von Eitel Jackowski, Eva Kaltenbrunn und Günther Nichtit, die wiederum mit ihrem konkav geschwungenen Spannbetondach so schön war wie kaum eine im Westen zu jener Zeit. Ein Hauch von Nervi und Niemeyer kam so in die Stadt und war eigentlich gar keine so unpassende Antwort auf die Heiterkeiten von Knobelsdorff und Persius. Mit den Springbrunnen-Kaskaden, dem Terrassenrestaurant und der zumindest also zweitschönsten Schwimmhalle des Landes war da jedenfalls ein Ensemble entstanden, das die Ansprüche der frühen Honecker-Ära und das Versprechen der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ im Sinne einer sozialistischen Wohlstandsgesellschaft zumindest ganz gut abbildete. Oder zumindest auch nicht unbedingt weniger stichhaltig als die Architektur in den Jahrhunderten davor ein preußisches Arkadien in der Garnisonstadt behauptet hatte, das ja auch niemanden im Ernst darüber hinwegtäuschen konnte, dass sie inhaltlich eher auf Sparta hinauslief.

Und dass es schon mit dem echten Arkadien so eine Sache war, dürfte dabei gerade das sogenannte neue Potsdamer Bürgertum am besten wissen, sofern es in seinen styroporweißen Villen am Heiligen See nicht nur Tesla-Kataloge oder Buchattrappen in den Bibliotheken stehen hat: Nur bei Vergil ist Arkadien schließlich das imaginäre Reich bukolischer Seligkeit, das wir uns angewöhnt haben, darin zu sehen; bei Ovid zum Beispiel war es noch eine karge, unwirtliche und ziemlich kulturlose Steppe auf den Hochebenen Griechenlands. Beim Blick auf das janusköpfige Potsdam kann es einem sehr ähnlich gehen. Gegen die unschlagbare Lage zwischen Wasser und Wäldern ist auch die fatalste Stadtplanung machtlos. Abgesehen davon lässt sich aber sehr wohl streiten, ob man Weite und Vielfalt empfindet oder zugige Zerrupftheit, wiedergewonnene Altstadt oder die Ödnis von Pappmachékulissen.

Dabei zeigt sich bei jedem kleinen Stadtspaziergang, dass der Absolutismus vielleicht das größte Problem ist, der dem Barock per Definition innewohnt und der sozialistischen Moderne durch ihre Praxis. Und dass es eigentlich dort am spannendsten zugeht, wo sich beide gewissermaßen demokratisch miteinander ins Verhältnis setzen müssen. Auf dem Markt hinter dem äußerlich rekonstruierten Stadtschloß (deutscher Spätbarock), zwischen dem neu wieder aufgebauten Museum Barberini (selbst das Original war eine fast schon romantische Kopie römischen Hochbarocks), der Nikolaikirche (klassizistischer Anti-Barock) ist die Ecke des Fachhochschulbaus aus DDR-Tagen beinahe das älteste Gebäude auf dem Platz – und mit seinen offensichtlichen Bezügen auf Mies van der Rohe und wiederum dessen modernistisch sublimiertem Klassizismus auch stilgeschichtlich eigentlich ein ganz passender Schlußstein für das Ensemble. Wenn man es wieder instandsetzte, könnte der Markt ein geradezu anregender Platz sein. Denn Rekonstruktionen von Barock einfach nur aus Prinzip spießig zu finden, ist nun einmal nicht nur selber ein bisschen spießig – im Sinne von verbiesterter Rechtschaffenheit -; es delegitimiert tendenziell auch die Wiederherstellung von Gebäuden anderer Geschichtsschichten, die nicht als reine Glanzzeiten in die Bücher eingangen sind. Dummerweise wird die Fachhochschule aber nicht instandgesetzt, sondern gerade abgerissen. Gleichzeitig steht nebenan der Bau des alten Rechenzentrums dem Wiederaufbau der Garnisonskirche im Weg. Danach wird dann das bauliche Erbe der DDR schon ziemlich weitgehend aus Potsdams Innenstadt getilgt sein und sich ansonsten auf die Plattenbauten in den Randbezirken beschränken, was sich für viele hier ungefähr so anfühlen muss, als ob sich aus der Zeit der Preußenkönige nur die Truppenübungsplätze erhalten hätten. Dieses Gefühl jedenfalls spiegelte sich in Christian Seidels Plädoyer für den Erhalt des „Café Minsk“, das den Potsdamern jetzt offensichtlich beinahe schon lagerübergreifend doch noch ans Herz gewachsen zu sein scheint. Leider ist das ein bisschen spät. Der Bau fand seit den späten Neunzigern keine Nutzer mehr und verfiel. Die alte schöne Schwimmhalle wird nun auch abgerissen, weil direkt daneben eine neue gebaut wurde, für die die Gestalter – immerhin aus dem renommierten Großbüro von gmp (von Gerkan, Marg und Partner) – genauso wenig einen Architekturpreis erwarten dürfen wie für die Blechlasagne ihres Hauptbahnhofs schräg gegenüber.

Das Verzwickte ist jetzt nur, dass die Kosten für das neue Bad wieder reingeholt werden müssen und die Stadtwerke zu diesem Zweck das Areal am Hang veräußern sollen. Der Bebauungsplan sieht Wohnungen vor, und ein bisher anonymer Investor will dafür sogar 27 Millionen Euro bezahlen. Das ist fast dreimal so viel wie die Stadt erwartet hatte, aber der Investor besteht dafür auch auf dem Abriß des Café Minsk. Ein anderer Interessent, der Potsdamer Jan Kretzschmar hatte immerhin 12,7 Millionen geboten und Sympathien für einen Erhalt gezeigt, zum Beispiel als Kunsthalle mit Gastronomie, sofern die erfordlichen Wohnungen dann anderweitig auf dem Grundstück massiert werden können. In einer ähnlichen Größenordnung soll sich auch das Gebot einer dritten Gruppe bewegen: (Re)vive Minsk ist eine Initiative, hinter der die Architekten Amelie Hummel und Falco Herrmann stecken, die im Hauptberuf im Berliner Büro von Sauerbruch Hutton arbeiten und hier nun vorschlagen, auf dem Wege einer Baugruppe tatsächlich eine öffentliche Nutzung als Café weiterzugarantieren und gleichzeitig Wohnungen in den Bau einzuziehen. Dafür wollen sie einen großen Lichthof in seine Mitte fräsen, um die Apartments zu beleuchten. Dazu kämen kleinere Atelierwohnungen unter hohen Decken an der Außenseite. Charmant ist das deswegen, weil es den Bau im Wesentlichen erhält und gleichzeitig den Wortlaut des Bebauungsplans umsetzend das liefert, was Potsdam am dringendsten braucht, nämlich Wohnungen. Jedenfalls braucht es die vielleicht gerade noch ein bisschen dringlicher als eine neue Kunsthalle.

Ob das Projekt Aussicht auf Erfolg hat?

Die Stadtverordneten hatten beim Tagesordnungspunkt 6.10 jedenfalls nach heftiger Diskussion mit minimaler Mehrheit beschlossen, die Gnadenfrist bis September zu verlängern, um noch einmal zu prüfen, was sie eigentlich wollen.

Die Alternativen lassen sich im Prinzip auf „Geld oder Liebe“ herunterkürzen. Die gleichnamige Fernsehshow gibt es zwar jetzt schon fast genauso lange nicht mehr wie Gastronomie im „Minsk“, aber wer sich daran erinnern kann, der weiß auch noch, bei welcher Wahl einem die Herzen des Publikums gehören.

 

(c) PETER RICHTER

Eine Version dieses Textes erschien zuerst im Juni 2018 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung