Stadt mit Bart

Der Bart als phylogenetischer Restbestand unserer ehemaligen Vollbehaarung stellt evolutionär betrachtet eine spezialisierte Form der Körperbedeckung dar und signalisiert klaren Sexualdimorphismus. So steht es in Christina Wietigs Dissertation „Der Bart – Kulturgeschichte des Bartes von der Antike bis zur Gegenwart“, Hamburg 2005.

Die Pferdekutsche als Restbestand unserer ehemaligen Straßenverhältnisse stellt evolutionär betrachtet eine Verkehrsbehinderung dar und ethisch eine Tierquälerei, sie signalisiert aber klar Romantik und wird deshalb gegen alle Abschaffungsversuche verbissen verteidigt. Das steht so in noch keiner Doktorarbeit, kann allerdings so gut wie jeden Tag in der New York Times nachgelesen werden. Was Vollbart und Kutschen nämlich verbindet, abgesehen davon, dass beides Atavismen sind: Sie sind das, was die New Yorker im Moment über die Maßen beschäftigt – mehr als man das vielleicht vermuten würde in einer Stadt, von der die Welt sich eher das Neue erwartet, Trends, Moden, Zukunft. Ganz offensichtlich ist aber der modernste Trend, der von New York für die Zukunft ausgeht, das 19. Jahrhundert.

Weniges hat dem neuen Bürgermeister Bill de Blasio bisher jedenfalls so vehemente Proteste eingebracht wie sein Ansinnen, die Pferdekutschen vom Central Park zu verbannen, nicht einmal seine Schulpolitik, und da geht es um die beiden anderen wichtigsten Themen im Leben von New Yorkern, um ihr Geld und um die Chancen ihrer Kinder, selbst dereinst genug davon zu machen. Bei den Pferden geht es vielen aber offenbar um nicht weniger als die Identität der Stadt. „Stirb de Blasio! Stirb!“ steht auf einem Plakat, das jeden Tag am Columbus Circle herumgetragen wird. Bill de Blasio, auch hier bedingungsloser Progressist, findet, Pferde gehören auf grüne Wiesen, nicht hingegen mit den Nüstern auf Auspuffhöhe zwischen die Taxis von Manhattan. Aber mehr als sechzig Prozent der New Yorker sehen das in Umfragen anders, auch alle wichtigen Zeitungen, und die meisten Prominenten, die sich bisher zu Wort gemeldet haben. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch zu dem Selbstbild von der Welthauptstadt eines unsentimental nach vorne schauenden Kapitalismus, das sonst in New York so gern gepflegt wird. (Nur de Blasios Vorgänger Michael Bloomberg bringt es fertig, selbst den noch rhethorisch zu versöhnen: „Viele dieser Pferde würden gar nicht existieren, wenn sie diesen Job nicht hätten.“)

Aber solche Anwandlungen von Nostalgie begegnen einem immer wieder, und zwar bevorzugt da, wo der Fortgang der Dinge durch die Atavismen dieser Stadt am nachhaltigsten gestört wird.

Mitte Januar, nur zum Beispiel, hatte sich der untere Teil der Fifth Avenue in ein reißendes Gewässer verwandelt, soviel Wasser stand zuletzt beim Hurrican Sandy in den Straßen von Manhattan. New York aber beugte sich nur voll von Rührung über die Ursache des Malheurs: Ein gußeisernes Hauptwasserrohr aus dem Jahr 1877 war geborsten. 1877! Schliemann kann vor seinen Grabungsfeldern nicht verzückter gewesen sein. Die Studenten der New School, deren eröffnungsfertiger Neubau durch den Bruch des antiken Rohrs genau vor ihrer Haustür überflutet worden war, standen vor den Wassern und rieben sich in Andacht die Bärte.

Damit nun wiederum zu diesem Phänomen.

Dass der Vollbart wieder in Mode ist, ist ja nun einmal eine schwer zu übersehende Tatsache und so wenig auf New York beschränkt wie der Einsatz von Pferdekutschen zur Beförderung von Touristen. Aber es sieht ganz so aus, als sei zumindest diese aktuelle Vollbartwelle ursprünglich von New York aus über die westliche Welt gekommen. Wenn auch nur etwas dran ist an dem, was Meryl Streep in dem Film „Der Teufel trägt Prada“ ihrer Praktikantin vorrechnet, dass nämlich das Blau ihres Pullovers aus dem Discounter keineswegs ihre eigene Wahl war, sondern, viele Verwässerungsstufen zuvor, die eines der nervösen Genies aus dem New Yorker Fashion District, dann gibt es auch zu jedem neuen Vollbart in Deutschland einen Ur-Bart, der einst durch Brooklyn getragen wurde.

Vor allem ist New York aber die Stadt, in der seit Wochen nur eines ähnlich hämisch kommentiert wird wie de Blasios Bemühungen um den Tierschutz, und das sind die Meldungen, denen zufolge die Nachfrage nach Barttransplantationen massiv zugenommen habe. Ärzte, die in dieser Sache bisher vor allem von jungen chassidischen Juden aufgesucht wurden, haben es jetzt häufiger mit eher unorthodoxen Männern zu tun, denen nur der natürliche Wuchs nicht zum gewünschten Volumen gereicht. Das gab vielen hier noch einmal Anlass, über den Sozialpopanz des Hipsters herzuziehen, aber damit verhält es sich in New York wie auf dem Balkan mit dem Balkan: Er fängt grundsätzlich immer erst direkt neben dem jeweils Sprechenden an, und die größten Kritiker haben oft die längsten Bärte. Es spricht ziemlich viel dafür, dass jedenfalls der sogenannte Hipstervollbart schon seit langem kein ironisches Statement mehr ist, wenn er das denn jemals war, sondern Zeichen eines bitterernsten Konformitätsdrucks, von dem im Moment eigentlich nur noch die Bankangestellten ausgenommen sind; wer weiß, wie lange noch. Es sieht also, mit anderen Worten, so aus, als wäre der Unterschied zwischen den chassidischen Jungen und den neuen Kunden der Barttransplanteure gar nicht so groß: Ihre jeweiligen Peergroups zwingen sie zu dem Besuch. Bartlosigkeit können sich in Brooklyn sozial heute eigentlich nur noch Chinesen und Mexikaner leisten.

Das Schöne an Doktorarbeiten wie der über die Kulturgeschichte des Bartes: Was der eigene Augenschein nahelegt, bestätigt sich im großen Bild. Die Bärte kommen und gehen und sie schleppen Bedeutungen mit sich herum – allerdings nicht jedesmal ganz exakt die gleichen. Die letzten, die in Europa Vollbärte in die Mitte der Gesellschaft getragen hatten, waren die Bürgerrechtler des Ostblocks gewesen. Deren Habitus war dem der Achtundsechziger im Westen verwandt. Diese Bärte transportierten noch den Geist der Verdunklung und der Rebellion, Anarchistenbart war keine ganz unzutreffende Bezeichnung in einer Welt, in der scharfes Glattrasieren normativ war und, wie Wietig schreibt, vielleicht auch ein Reinigungsritual der Kriegs-Generationen. Heute ist diese Art Bart selbst beim ideologischen Lieblingsgegner der deutschen Achtundsechziger zu Hause: Der Chefredakteur der Bildzeitung läuft im Moment herum, als würde er lieber in der Rockgruppe ZZ Top arbeiten. Hier ist die Botschaft, der Fotos, die er davon in die Welt tweetet, eher die, dass er dem ergrauenden Gestrüpp freien Lauf läßt, weil er das halt kann: ein Hierarchenbart. Die alten, zwischen Virilität und Verwilderung changierenden Konnotationen sind dem Bart von hier nach dort nicht abhanden gekommen, sie sind nur offenbar inzwischen frei verfügbar.

Wenn die gebieterischen Bärte von Brooklyn jetzt zur Not auch androgynen Bartlosen angepflanzt werden können, dann entsprechen sie funktional eigentlich am ehesten den Zeremonialbärten altägyptischer Herrscherfiguren, die in den entsprechenden Positionen auch Frauen umgehängt wurden. Sexualdimorphismen, also sekundäre Geschlechtsmerkmale sind verhandelbare Dinge geworden, seit nicht nur viel von Sex gesprochen wird, sondern noch viel mehr von Gender und in letzter Zeit auch viel von Transsexualität und Transgender: New York ist, neben allem anderen, auch der Ort, wo besonders viele Menschen zwischen den Geschlechtern heimisch sind.

Warum es dann gleichzeitig der Ort ist, wo die altväterlichsten Testosteron-Signale am Kinn umhergetragen werden, tja – das ist eben die Frage. Denn formal hat das am ehesten etwas mit den Patriarchenbärte des späten 19. Jahrhunderts zu tun. Anders als damals bei den Hippies, die ja nicht nur in ihrem Look die Schnittmenge aus Karl Marx und Jesus suchten, sind die Bärte von Brooklyn zwar lang, aber das Haupthaar eher kurz, oft sogar streng bürgerlich gescheitelt wie bei den Industriellen des Gilded Age. Das mag zunächst einmal auch nur ein Look sein, aber so ein Look transportiert zumindest Restbestände einer Haltung; und diese Art von Bärten verleiht auch Jungs, die bis vor kurzem noch des Nichterwachsenwerdenwollens geziehen wurden, eine neue Aura von Reife, Besonnenheit und Verantwortung. Es ist nicht der Bart von Eremiten und Revolutionären, sondern der von Unternehmern und Gründern, und das entspricht ja in der Regel auch der Rolle, die diese Leute auf dem Immobilien- und Arbeitsmarkt von Brooklyn heute spielen oder zu spielen versuchen. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass jeder tätowierte Koch in den sagenhaften neuen Restaurants zwischen Greenpoint und Gowanus ausschaut, als sei er eben erst der Mayflower entstiegen, um endlich den Spaten ins freie Beet rammen zu können. Und vielleicht gibt es einen immanenten Grund, warum solche Lokale die ihrerseits Bart tragenden und an Macbooks arbeitenden Klassen so anziehen. Sicher ist nur, dass sie in der Regel mit viel Aufwand und Geld in einen Zustand hineinrenoviert wurden, der suggerieren soll, sie seien schon lange vor dem gußeisernen Rohr unter der Fifths Avenue da gewesen. New York, die Stadt, von der sich die Welt gewöhnlich das Neue erwartet, ist nämlich zunächst einmal weltmarktführend in der Produktion von Vergangenheit.

Colson Whitehead hat in „The Colossus of New York“ beschrieben, wie schnell man in diese typische Nostalgie von New Yorkern geraten kann, die in jedem Fingernagelstudio noch den Pizzaladen sehen, der vorher da drin war: Es ist zunächst einmal die Erbarmungslosigkeit der Veränderungen, die New York in einem Jahr mehr Vergangenheit aufhäufen lässt, als ein Dorf in Jahrzehnten. Dieser fließbandmäßigen Verhäckselung von Gegenwart zu Erinnerungen wird aber nun noch einmal dauernd erfundene Geschichte aufgepfropft: Neue als alt dekorierte Lokale wie das dafür einst berühmt gewordene „Schiller’s“ in der Lower Eastside waren nur der Anfang, inzwischen ist das ein eigenes Genre; und die Frage ist, in welchem dialektischen und psychosozialem Verhältnis das nun wiederum zu der Dynamik der Stadt steht: Ist die Erfindung von solchen Traditionsinseln eine Reaktion auf Meldungen wie die, wonach sich kaum noch Buchläden in Manhattan halten können? Und deuten Bärte, die kulturanthropologisch Dominanz und Souveränität signalisieren sollen, nicht in Wirklichkeit auf einen Mangel daran hin, auf ein Verlustempfinden, das ausgeglichen werden will?

David Byrd, der Sänger, hat die Stadt wegen der üblichen Vorwürfe – kein Raum mehr für die kreative Boheme, nur noch Touristen, die im kulturellen Glanz vergangener Tage baden – mit Venedig verglichen, wo er einen letzten Herbst veröffentlichten Abgesang auf New York verfasste. Der Vergleich ist naheliegend: Beides Städte auf Inseln, in denen Amerikaner sich freuen, nicht Auto fahren zu können; beides Städte, in denen es an allen Ecken und Enden bedenklich kracht und knackt – und wenn die morschen Rohre platzen, ist auch die Fifth Avenue nur ein großer brackiger Kanal.

Fraglich ist nur, ob Byrnes Polemik hier überhaupt als Kritik ankam und nicht als Inspiration.

Man kann nämlich ganz offenbar die altertümlichen Rohre von Manhattan auch so betrachten wie John Ruskin seine „Stones of Venice“, und, wer weiß, vielleicht hilft es dabei, Ruskins Bart aufzutragen. Man kann offensichtlich auch Zuflucht nehmen vor dem Verwertungsdruck von Manhattan und an den Rändern von Bushwick das alte Ideal der sich selbst bewirtschaftenden Künstlerkommune noch einmal aufleben lassen, und, wer weiß, vielleicht es hilft es dabei wiederum, wenn man auch äußerlich an Ruskins Freunde von der Arts and Crafts-Bewegung erinnert, die ihrerseits den Handwerkerstolz eines imaginierten Mittelalters zu verkörpern suchten.

Was man möglicherweise eher nicht tun sollte ist nur dies: Die Nostalgie und den konservativen Habitus beim Nennwert nehmen und New York als die morsche Stadt von gestern abtun, als die es sich gerade Europäern manchmal darbietet.

Könnte schließlich auch sein, dass durch so etwas immer nur der Boden bereitet wird, auf dem das Neue, die Trends, die Zukunft wachsen soll. Und dass die marode Infrastruktur hier gar nicht als Problem wahrgenommen wird, sondern als Herausforderung, welche die Kreativität trainiert. Und dass die sich in umgenutzten Räumen eben schon deshalb wohler fühlt als in nagelneuen, weil dort der Geist der Veränderung von vornherein schon nistet. Das Altertümliche ist gewissermaßen der Dünger. Und die Imitation von Altem ist Kunstdünger, eine Erfindung aus dem Geist der Effizienz.

Die Pferde vor den Kutschen am Central Park erinnern mit dem, was sie auf der Straße zurücklassen, an dieses Prinzip. Zumindest dafür sind sie tatsächlich gut.

 

Eine gekürzte Version dieses Textes erschien zuerst am 29. März 2014 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung

 

 

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